Die Gewissensfrage

Darf man den Kontakt zu einer Freundin abbrechen, wenn diese beim Tod der Eltern kein Beileid bekundet?

Beileidsbekundungen haben zwei Hauptfunktionen: Einerseits sind sie eine Art rituelle Handlung, man denke etwa an die sehr formalen Kondolenzkarten. Andererseits können sie, speziell wenn sie persönlich gehalten sind, tatsächlich Trost spenden und helfen, den Kummer zu mildern. In dieser Hinsicht hat Ihre Freundin versagt, das kann man ihr zum Vorwurf machen.

Wie Sie auf diesen Fehler Ihrer Freundin reagieren, bleibt in relativ weitem Umfang Ihre persönliche Entscheidung. Mit einem Menschen, von dem man enttäuscht wurde, keinen Kontakt mehr haben zu wollen, ist zumindest nachvollziehbar, noch dazu wenn die Enttäuschung in der schwierigen Zeit der Trauer geschah. Dennoch ginge es mir in diesem Fall für mein persönliches Empfinden zu weit.

Zwei Gründe sehe ich dafür ausschlaggebend. Zum einen bin ich kein großer Freund davon, Forderungen an Menschen zu stellen, wie sie sich zu verhalten haben, und harte Konsequenzen zu ziehen, wenn sie davon abweichen. Ich finde es besser, sie in gewissen Grenzen so zu nehmen, wie sie sind, und etwaige Enttäuschungen lieber direkt anzusprechen. Zum anderen kann die Anteilnahme an einem Todesfall anders erfolgen als durch Beileidsbekundungen. Die amerikanische Psychologin und Trauerexpertin Therese A. Rando schreibt dazu, dass Trauernde sogar von professionellen Helfern zwar oft beim akuten Kummer durch Anteilnahme unterstützt werden, nicht aber bei den wichtigen späteren Prozessen der Neuorientierung. Wenn also Ihre »Freundin« in der schwierigen Zeit weiterhin normal mit Ihnen umgeht, kann das wertvoller sein als eine klassische Beileidsbezeugung, und es wäre ungeschickt, das zurückzuweisen. Und schon gar nicht würde ich nur wegen einer versäumten Beileidsbekundung eine vertraute Kartenrunde verlassen.

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Hinweise:
Therese A. Rando schreibt im Zusammenhang: »Die Unterscheidung zwischen Kummer und Trauer ist von entscheidender Bedeutung für die Behandlung. Viele Betreuende unterstützen die Trauernden beim beginnenden Prozess des akuten Kummers (in dem sie ihre Reaktion auf den Verlust ausdrücken), nicht aber bei den wichtigen späteren Prozessen (Neuorientierung in der Beziehung zum Verstorbenen, dem Selbst und der äußeren Welt). Dies führt dazu, dass Trauernde oft allein gelassen werden, um sich und ihre Welt nach dem Verlust einer geliebten Person neu zu gestalten, und aufgrund dessen leiden sie zusätzlich.«

Therese A. Rando, Trauern: Die Anpassung an den Verlust, in: Joachim Wittkowski (Hrsg.), Sterben, Tod und Trauer, Verlag W. Kohlhammer, Stuttgart 2003, S. 173-192

Die Unterscheidung, die Therse A. Rando trifft, ist umso nachvollziehbarer, wenn man sich klar macht, dass man, anders als im Deutschen im Englischen bei der Trauer zwischen Grief und Mourning unterscheidet. Grief bedeutet die persönliche Trauer, man könnte auch „Kummer“ sagen, Mourning dagegen die Trauer im sozialen Umfeld und die Zeit der Trauer.

Zu den Begriffen siehe: Neil Small, Theories of grief: a critical review, in: Jenny Hockey, Jeanne Katz, Neil Small (eds.), Grief, mourning and death ritual, Open University Press, Buckingham 2001, S. 19-48

Ein Klassiker auf diesem Gebiet ist: John S. Stephenson, Death, Grief and Mourning, The Free Press, New York 1985

Lesenswert: Klaus Feldmann, Tod und Gesellschaft, Sozialwissenschaftliche Thanatologie im Überblick, VS Verlag, Wiesbaden, 2. Auflage 2010, vor allem das Kapitel „Trauer, Erinnerung und soziale Restrukturierung“ S. 241-251

Hector Wittwer, Daniel Schäfer, Andreas Frewer (Hrsg.), Sterben und Tod. Ein interdisziplinäres Handbuch, Verlag J.B. Metzler, Stuttgart 2010, vor allem das Kapitel III.6. Trauer (kulturhistorisch, psychologisch), S. 192-202

Joachim Wittkowski (Hrsg.), Sterben, Tod und Trauer, Verlag W. Kohlhammer, Stuttgart 2003

Illustration: Serge Bloch