Der Stumpf

Das rechte Bein dieses Mannes war normal und gesund. Aber er wollte es weghaben. Also baute er sich eine Guillotine. Das klingt irre, der Mann weiß das. Er ist schließlich nicht verrückt – er leidet an einer ungewöhnlichen Krankheit.

Der Mann trägt eine Dreiviertelhose, aus dem rechten Hosenbein sticht die Prothese hervor. »Sie glauben gar nicht, wie glücklich ich bin. Wie gern ich mir meinen Stumpf ansehe«, sagt er und streicht sich mit der Hand über die Hose.

Nennen wir ihn Wolfram Beer (alle Namen, Orte und zeitlichen Bezüge wurden von der Redaktion geändert / dieser Hinweis war in der Print-Version nicht enthalten).
Herr Beer, empfinden Sie Schuld?
»Wieso sollte ich Schuldgefühle haben?«
Ihrer Familie gegenüber. Sie haben ihr viel zugemutet.
»Nein. Habe ich nicht.«
Auch nicht Ihren Kindern gegenüber?
»Nein. Ich habe nichts Verbotenes getan.«
Und was ist mit Ihrer Frau?
»Ich weiß, es ist gigantisch, was ich ihr aufgebürdet habe. Das kann man nur mit Liebe und Vertrauen wiedergutmachen.«

Wolfram Beer hat schlecht geschlafen in den vergangenen Nächten, das Interview beinahe wieder abgesagt. Seine Frau war von Anfang dagegen. Sie hat Angst, dass sein Geheimnis verraten werden könnte. Die Leute in seinem Heimatort würden ihn dann ächten. Und die Krankenversicherung könnte ihn auf mehrere Zehntausend Euro Schadenersatz verklagen, für die OP, den Rollstuhl, die Prothese.

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Doch Beer lächelt alles weg: seine Unsicherheit, seine Bedenken, seine Furcht. 28 Zentimeter lang ist sein Stumpf. 14 Zentimeter länger als beabsichtigt. Aber das stört ihn nicht. Es geht ihm wieder gut. So gut wie noch nie. Sein Plan ist aufgegangen.

Wolfram Beer hat sein rechtes Bein so verstümmelt, dass es amputiert werden musste. Er wäre dabei beinahe gestorben. Das klingt irre. Beer weiß das. Aber er ist nicht verrückt. Er ist krank. Beer hat BIID. Das steht für Body Integrity Identity Disorder, also: Körper-Integritäts-Identitäts-Störung. Menschen, die an BIID leiden, haben das Gefühl, dass ein Teil ihres Körpers – ein Bein, eine Hand, ihr Augenlicht – nicht zu ihnen gehört. Dieser Teil des Körpers ist weder missgebildet noch gelähmt oder entstellt. Es ist ein Fremdkörper. Sie wollen ihn nicht mehr spüren.

Man könnte Beers Geschichte als Heimsuchung verstehen; als Geschichte eines Mannes, der seinen Verstand verloren hat. Aber was, wenn ihn die Amputation erst gesund gemacht hat?

Wolfram Beer sagt, er sei nicht stolz auf das, was er getan habe. Er spricht nicht von »Amputation«; er sagt, er sei »seinen Weg zu Ende gegangen«. Dieser Weg sehe für jeden anders aus. Beer möchte auch nicht, dass dieser Artikel zu einer Anleitung für Nachahmer wird.

An einem Nachmittag vor gut drei Jahren, 29. August 2011, fährt Beer seinen Laptop hoch und meldet sich in einem Selbsthilfeforum an, das ihm schon vor einer Weile aufgefallen ist: www.biid-dach.org. 500 Betroffene sind registriert. Es ist nicht öffentlich. Wer aufgenommen werden möchte, muss an die Administratoren schreiben und glaubhaft versichern, dass er BIID hat.

Betreff: Vorstellung
Mo 29. Aug 2011 14:54
»Liebe Administratoren,

seit meiner Kindheit träume ich davon, dass mein rechtes Bein im Oberschenkel amputiert ist. {...} Nun bin ich einen ersten Schritt gegangen – vielleicht bleibt es auch der einzige. Ich habe mir die ersten drei Zehen am rechten Fuß amputieren lassen.«

Wolfram Beer ist ein kluger Mann, der zum Dozieren neigt. Er ist 49 Jahre alt, verheiratet, hat zwei Kinder und ist beruflich erfolgreich. Seine Kollegen achten ihn, seine Nachbarn schätzen ihn, er hat viele Freunde. Beer mag die Naturwissenschaften, am liebsten Mathematik und Physik. Naturwissenschaften sind präzise, sie liefern Lösungen. Manche Leute finden, Beer sei pedantisch. Beer findet, die Leute haben nicht Unrecht.

Nur vier Menschen wissen von seinem Geheimnis. Als Erstes offenbart er sich seiner Frau. An einem Tag im Herbst vor vier Jahren. Beer rechnet mit dem Schlimmsten: Womöglich wird sie mich für verrückt erklären und beschimpfen, denkt er. Womöglich wird sie mich verstoßen und die Scheidung einreichen.

Aber als Beer sich seiner Frau anvertraut, ist sie ganz still. Sie schluckt. Sie weint. Sie sind seit dreißig Jahren zusammen. Sie dachte, sie würde diesen Mann kennen. Jetzt ist sie sich da nicht mehr so sicher. Sein Geheimnis fühlt sich für sie an wie ein Betrug.

Doch sie lässt ihn nicht fallen. Damals denkt sie noch, es gehe ihm nur um seine Zehen.

Später weiht Beer seine Hausärztin und zwei Freunde ein. Sie bemühen sich zu verstehen. Aber BIID kann man nicht verstehen, wenn man BIID nicht hat. Beer sagt, das ist, als wenn ein Zyklop versuchen würde, räumlich zu sehen.

Wolfram Beer ist oft den ganzen Tag online. Manchmal schreibt er in der Mittagspause, manchmal schreibt er nachts, wenn er nicht schlafen kann. Das Forum wird Beers Beichtstuhl. In dieser Welt trägt er einen anderen Namen. Niemand weiß, wer er ist. Aber alle im Forum kennen sein Geheimnis. Er muss sich nicht mehr schämen. Er ist nicht mehr allein. Sie verstehen ihn.

Betreff: Re: Vorstellung
Di 30. Aug 2011 08:29
»Ich begann meine Zehen (zuerst nur den Großen) abzubinden. Das ging oft über Stunden. Ich hatte kein Gefühl mehr in den Zehen – es war schön, dieses Gefühl zu haben. Für mich wurde immer klarer, die drei Zehen müssen weg – ganz weg. {...}


Ich vermisse sie auch nicht. Es ist eine Befreiung. Ob ich noch einen weiteren Schritt gehen werde, weiß ich nicht. Nicht jeder Gedanke muss umgesetzt werden. Niemals würde ich anderen Menschen einen Schaden zufügen wollen, nur damit ich meinen Willen befriedigen kann. Also Bein auf die Schiene legen und so kommt für mich nicht in Frage.«

BIID ist eine nahezu unerforschte Krankheit. Viele Wissenschaftler erkennen sie nicht einmal als Krankheit an. In der ICD-10, dem Verzeichnis aller medizinischen Diagnosen, herausgegeben von der Weltgesundheitsorganisation, ist BIID nicht aufgelistet. Solange eine Krankheit dort nicht steht, ist es, als existierte sie nicht. Und es sieht nicht so aus, als würde sich das bald ändern.

Es gibt wenige Studien über BIID, und noch weniger sind repräsentativ. Schätzungen zufolge leiden weltweit rund 5000 Menschen an BIID. Aber nur einige von ihnen überwinden ihre Scham und lassen sich untersuchen. Dennoch zeigen die Studien ein Muster. Die meisten Betroffenen sind demnach überdurchschnittlich intelligent und arbeiten in Führungspositionen. Sie wollen besser, schneller und schlauer sein als andere. Bei den meisten ist es – anders als bei Beer – das linke Bein. Und die meisten berichten von einem Schlüsselerlebnis in der Kindheit.

Bei Wolfram Beer ist es ein Wochenende im Sommer 1972. Er erinnert sich genau. Er ist sieben Jahre alt und darf mit seinen Eltern fernsehen, ARD, Nachmittagsprogramm – und auf einmal ist da dieser Junge: Er ist vielleicht zwölf Jahre alt, er trägt schwarze Klamotten, er hat nur ein Bein. Beer ist fasziniert. Er bewundert den Jungen. Nein, es ist mehr als das: Er beneidet ihn.

Am Abend liegt Beer im Bett und stellt sich vor, wie das wäre, wenn er morgens aufwachte, und sein Bein wäre einfach ab. Die Gedanken kehren immer wieder, meistens im Sommer, wenn er kurze Hosen trägt. Er stellt sich vor, wie er stolpert und sein Bein in einem Erdloch verschwindet und nie wieder auftaucht. Später schließt er sich einmal im Badezimmer ein und steckt sein Bein in die Toilette. Er hofft, dass es abfault.

Irgendwann fängt er an, sein Bein abzuschnüren, nachmittags, wenn er allein im Haus ist. Er winkelt es an, drückt den Fuß an den Po, schnallt einen Ledergürtel darum und zieht sich eine Hose darüber. BIID-Betroffene nennen das »Pretending«. Sie tun so, als ob.

Beer hüpft durch die Wohnung. Manchmal öffnet er vorsichtig die Wohnungstür, lugt auf den Hausflur und hüpft ein paar Schritte heraus. Manchmal schleicht er sich in die Werkstatt des Nachbarn, nimmt Dachlatten und schraubt Holz, das zu Dreiecken gesägt ist, oben drauf. Die Krücken nimmt er mit nach oben, in die Wohnung. Er will wissen, wie sich das anfühlt.

Er redet mit niemandem darüber. Die Krücken baut er jedes Mal wieder auseinander und verstaut sie in der Werkstatt. Er weiß, dass er etwas Verbotenes tut.

Es fühlt sich so gut an.

Betreff: Re: Ein Leben ohne Zehen
Sa 22. Okt 2011, 23:30
»Mein Bedürfnis nach einer Beinamputation ist noch viel stärker geworden. Allein im Krankenhaus habe ich nur Beinamputierte um mich herum gehabt. So gerne hätte ich mit einem von denen getauscht. Nun habe ich angefangen mein rechtes Bein im Oberschenkel abzubinden – so hat es mit meinen Zehen auch angefangen. {...} Noch weiß ich nicht, was passieren wird – aber es ist für mich schon ein erhebendes Gefühl, wenn ich mein Bein nicht mehr spüre und alles kühl wird.«

Als Beer dafür alt genug ist, arbeitet er neben der Schule in einem Fotolabor. Er fotografiert sich selbst. Ein Bein retuschiert er weg.

Beer wird erwachsen, er macht Abitur, studiert, verliebt sich, heiratet, wird Vater zweier Kinder. Sein Verlangen wird immer stärker – wobei: Es ist kein Verlangen, es ist auch kein Wunsch, das beschreibt es nicht. Am ehesten ist es ein Zwang.

Beer findet sein rechtes Bein nicht hässlich, er findet es sogar schöner als sein linkes. Es ist ein normales Bein, es reicht von der Hüfte bis zum Boden, es funktioniert, er spürt alles. Er hasst es nicht, es ist halt dran. Das ist das Problem. Er weiß genau, wo sein Bein aufhören soll. Beer sagt: »Ich fühlte mich asymmetrisch, ich habe nach Symmetrie gesucht.«

Wenn er heute davon erzählt, verschränkt er oft die Arme vor der Brust, sagt »man« statt »ich« und spricht in Metaphern. Beer mag Metaphern. Man kann sich gut dahinter verstecken. Beer sagt, er habe sich gefühlt, als steckte er in einem Käfig. Vom Käfig aus muss er den anderen zusehen: Sie tollen draußen auf einer Wiese, sie dürfen das, sie haben es geschafft. Er sucht den Schlüssel, um das Tor zu öffnen, aber er findet ihn nicht. Es kommt ihm vor, als schrumpfe der Käfig, als würde er ihn erdrücken. Beer war fertig. »Wenn es einem so geht, dann ist man nicht mehr.«

Es gibt Studien, denen zufolge es BIID-Betroffenen nach einer Amputation besser geht. Ihre Depressionen sind verschwunden. Sie wollen sich keine weiteren Körperteile amputieren lassen. Doch jeder Arzt, der ein gesundes Körperteil amputiert, macht sich womöglich strafbar.

1997 nahm der schottische Arzt Robert Smith einem Engländer den gesunden linken Unterschenkel ab; zwei Jahre später entfernte Smith einem Deutschen ein Bein. Als die Ärztekammer davon erfuhr, untersagte sie Smith solche Eingriffe. Er hätte beinahe seine Approbation verloren.

Betreff: Re: Natur und Behinderung
So 20. Mai 2012, 06:49
»Durch meine Amputation werde ich mich nicht behindert fühlen. Auch die Einschränkungen werden wenig anfallen. Für mich ist das Leben nach der Amputation erst ›normal‹.«

Viele Jahre hat Beer keinen Namen für dieses Gefühl, das ihn zermürbt. Manchmal zweifelt er: Bilde ich mir das alles nur ein? Gibt es diesen Käfig überhaupt? Diese Gitterstäbe? Ich habe doch zwei gesunde Beine! Das Geheimnis plagt ihn. Aber es adelt ihn auch. Es macht ihn besonders.

Dann, eines Abends im Jahr 2008, stöbert er im Internet mal wieder heimlich nach Fotos von Amputierten. Zufällig stößt er auf dieses Wort. Beer hat es nicht gesucht, es ist, als hätte es ihn gefunden: »BIID«. Er beginnt zu recherchieren, liest Berichte und Studien. Die meinen ja mich, denkt er.

Er meldet sich in jenem BIID-Forum an, trifft sich mit anderen Betroffenen, fährt zu einem Kongress nach Zürich, gründet den »Verein zur Förderung von Studien über Körperidentitätsstörungen«, tauscht sich mit Professoren aus, nimmt an Studien teil, füllt Fragebögen aus.

Professor Peter Brugger kennt Beer. Er leitet die Klinik für Neurologie am UniversitätsSpital in Zürich. Brugger ist ein höflicher Mann mit Denkerstirn und Theo-Waigel-Augenbrauen. Er sagt: »Herr Beer ist ein vernünftiger, normaler Mensch.«

Weltweit gibt es nur rund ein Dutzend Forscher, die sich mit BIID beschäftigen. Sie streiten vor allem um die Frage: Woher kommt BIID? Die Psychologen sagen, die Ursachen liegen im Kopf. Schwere Kindheit. Wunsch nach Anerkennung. Narzissmus. Die Neurologen sagen, die Ursachen liegen im Gehirn.

Peter Brugger hat Beer interviewt und sein Gehirn untersucht. Außer Beer haben sechs andere Betroffene teilgenommen. Die Ergebnisse der Hirnstrommessung haben ihn überrascht.

Laut Brugger ist der Homunculus der Ort, an dem BIID wurzelt. Der Homunculus liegt in der Großhirnrinde. Man kann sich ihn vorstellen wie eine Landkarte. Auf dieser sind alle Körperteile eingezeichnet, nur der Maßstab ist verschoben: Die Hände sind größer abgebildet als etwa der Bauch, weil sie sensibler sind und häufiger benutzt werden.
Auf Wolfram Beers Landkarte ist an dem Ort, wo sein rechtes Bein sein müsste, ein blinder Fleck. Deshalb stößt Beers Gehirn sein rechtes Bein ab. Es versteht nicht, dass es zu ihm gehört. Brugger vergleicht das mit dem Phantomschmerz bei Menschen, die ohne Gliedmaßen geboren wurden. Bei ihnen sind die Gliedmaßen beseelt, aber nicht fleischgeworden. Bei BIID-Betroffenen ist es genau andersherum, wie das Spiegelbild: Das Bein ist Fleisch, aber nicht Seele.

Haben Menschen BIID, weil ihr Gehirn anders ist? Oder ist ihr Gehirn anders, weil sie BIID haben? Brugger hat auf diese Frage noch keine Antwort gefunden. Er sagt, beides sei möglich. Doch solange die Ursachen nicht genau erforscht sind, können die Ärzte BIID nicht heilen.

Wolfram Beer hat es immer abgelehnt, sich von einem Psychiater behandeln zu lassen. Er möchte keine Pillen schlucken. Nur ein Chirurg könnte ihm helfen. Doch das darf der ja nicht.

Ärzte dürfen Frauen ihre Brüste vergrößern und Schamlippen straffen. Sie dürfen Patienten Rippen entfernen, Fett absaugen oder den Anus bleichen. Sie dürfen Männer zu Frauen umoperieren und Frauen zu Männern. Wer bestimmt eigentlich darüber, wie wir über unseren Körper bestimmen dürfen?

»Ich bin wach. Kann nicht mehr schlafen, wälze mich hin und her. Jeden Morgen dasselbe. Mein rechtes Bein ist immer noch dran. Warum? Es zermartert mir den Kopf.«



Ärzte sind dazu verpflichtet, einem Patienten zu helfen; sie dürfen ihm aber keinen Schaden zufügen. Das schreibt ihnen die Genfer Deklaration des Weltärztebundes vor, sie ist so etwas wie die moderne Form des hippokratischen Eides. Wenn es nach Beer geht, sind die Ärzte dafür da, einen wieder gesund zu machen. Und Krankenkassen sind dafür da, das zu bezahlen. Bei Rauchern und Trinkern tun sie das ja auch. Und was tun Raucher und Trinker anderes, als ihren Körper mutwillig zu zerstören? So sieht er das.

Betreff: Re: Leidensdruck steigt mal wieder
Di 26 Mär 2013, 06:40
»Mein krankes Bein.
Vier Uhr dreißig.

Ich bin wach. Kann nicht mehr schlafen, wälze mich hin und her. Jeden Morgen dasselbe. Mein rechtes Bein ist immer noch dran. Warum? Es zermartert mir den Kopf. Die Gedanken kreisen nur noch darum.
Fünf Uhr.
Jetzt habe ich beschlossen aufzustehen. In meinen Gedanken endet mein Bein in einen etwa 15 cm langen Stumpf. Dann schaue ich an mir runter. Es ist nur ein Phantomgefühl. Das Bein ist immer noch da. Jeden Morgen die gleiche Geschichte.«

Wolfram Beer bleiben zwei Möglichkeiten, sein Bein loszuwerden. Der eine Weg kostet ungefähr 25 000 Euro. Man reist nach Osteuropa oder Asien. Man besticht einen Polizisten, der ein gefälschtes Unfallformular ausstellt. Und man bezahlt einen Chirurgen, der das gewünschte Körperteil abtrennt.

Für Beer kommt dieser Weg nicht in Frage. Er hat das Geld nicht. Und es erscheint ihm zu gefährlich, unberechenbar. Er will sich keinem Arzt ausliefern, irgendwo auf der Welt, in irgendeinem Hinterhof.

Der andere Weg ist billiger, aber er kostet mehr Mut. Es war eine schwere Entscheidung, sagt Beer. Er erzählt davon wie von einem Physik-Experiment.

Frage: Wie kann ich mein Bein so verletzten, dass es amputiert werden muss?

Hypothese: Man benötigt einen Gegenstand, scharf und schwer genug, um einen Oberschenkelknochen zu durchtrennen. Schnell und abrupt muss es gehen. Großes Fallgewicht. Eine Art Guillotine. Alles eine Frage der Mechanik.

Methode I

Beer könnte sein rechtes Bein unter das Rad eines Güterzugs legen. Ein Güterzug hat eine Achslast von zehn Tonnen. Ein Vollscheibenrad ist scharf. Es gibt Strecken, auf denen Güter-züge sehr langsam fahren. Beer steht drei Mal an den Gleisen. Man kann sich nur unter großer Gefahr derart selbst verstümmeln, man kann schnell verbluten, wenn einem ein Zug über das Bein rollt. Deshalb hat er einen Helfer dabei, einen Freund, er soll den Krankenwagen rufen. Beer will warten, bis die Lok an ihm vorbeifährt, sich dann auf den Boden werfen und sein Bein auf die Schienen legen. Der Lokführer würde das nicht mit bekommen. Das mögliche Trauma des Freunds ist Beer egal.

Aber dann kann er es doch nicht. Er braucht eine andere Methode. Eine, die akkurater ist und das Risiko minimiert.

Methode II

David Openshaw, ein Australier, war der erste BIID-Betroffene, von dem bekannt wurde, dass er sein Bein verstümmelte. Im Jahr 2008 steckte er sein Bein in einen Eimer mit Trockeneis. Darin blieb es sechs Stunden. Trockeneis ist gefrorenes Kohlenstoffdioxid, minus 78 Grad Celsius. Wenn Trockeneis die Haut berührt, reißt das Gewebe auf und fräst sich kegelförmig nach innen. Das Gewebe stirbt binnen weniger Sekunden.

Openshaw ließ sich in ein Krankenhaus liefern. Die Ärzte nahmen ihm das Bein unterhalb des Knies ab. Beer kennt Openshaws Geschichte. Sie kommt für ihn nicht in Frage. Sechs Stunden Trockeneis, wer würde da schon an einen Unfall glauben?

Methode III

Ein Stahlträger wiegt ungefähr 140 Kilogramm, zwei Stahlträger wiegen 280 Kilogramm. Beer will sicher gehen. Er entscheidet sich für vier Stahlträger, 560 Kilogramm, mehr als eine halbe Tonne. Er zeichnet eine Skizze, baut ein Modell aus Holz, lässt die Balken fallen, nimmt alles mit einer Videokamera auf. Ja, das könnte klappen!

Ein Samstag im September 2013, Spätsommer, 19 Grad. Beer breitet eine Matratze auf den Fliesen in seinem Wohnzimmer aus. Er ist gut vorbereitet. Im Internet hat er sich Videos angeschaut, die erklären, wie er vorgehen muss. Beer setzt sich auf die Matratze. Die Sonne scheint durch die gekippten Fenster. Es ist ruhig. Er kann hören, wie seine Frau die Blumenbeete im Garten harkt. Sie versucht, sich abzulenken. Wenn es so weit ist, soll sie den Notarzt rufen. Sie legt die Harke weg, greift zum Spaten. Gräbt den halben Garten um. Es ist ihr fünfter gemeinsamer Versuch. Heute würde er es durchziehen.

Im Wohnzimmer greift Beer zum Spanngurt und bindet sein rechtes Bein an der Leiste ab. Er spritzt sich Nervengift in den Muskel. Schweiß steht ihm auf der Stirn, er hat Angst vor Spritzen. Beer spürt, wie das Gefühl aus seinen Beinen weicht, langsam werden sie taub.

Beer mustert sein Bein. Dann verreibt er die Trockeneis-Pellets auf dem Unterschenkel. Das Bein wird steif und ganz weiß. Wie ein zugefrorener See.

Er steht auf und humpelt zur Terrassentür, schaut sich um, niemand da, schleppt sich in die Garage. Die Guillotine ist aufgebaut. Beer legt sich hin. Er ballt die Faust. Das Adrenalin kickt in seinen Körper. Sein Atem geht flach. Wenn hinterher jemand fragt, würde er sagen, er hätte die Stahlträger mit dem Trockeneis gereinigt.

Dann bringt Wolfram Beer die Guillotine zum Einstürzen. Der Stahlträger fällt. Ein Schrei gellt durch die Siedlung.
»Diesen Schmerz wünsche ich niemandem«, sagt Beer.

Als Erstes ist seine Frau bei ihm, sie ruft einen Notarzt.
Die Oberschenkelarterie versorgt den Oberschenkel mit Blut. Wenn sie aufreißt, ist das lebensbedrohlich. Das Herz pumpt jede Minute ungefähr fünf Liter Blut durch den Körper. In fünf bis zehn Minuten wäre Beer verblutet.
Die ersten Nachbarn stürzen herbei. Der Krankenwagen fährt vor. Der Notarzt richtet Beer auf.
»Wie heißen Sie?«, fragt er.
»Wie alt sind Sie?«
»Wie schwer sind Sie?«
Beer blickt an sich herunter. Blut und Fleisch und Knochen. Das Bein ist noch dran, aber es ist zertrümmert. Dann sackt er zusammen.

Diagnose: Offene Oberschenkelfraktur, offene Schienbeinfraktur, Sprunggelenk zertrümmert. Die Nerven sind taub vom Oberschenkel bis zum Fuß. Die Ärzte werden nicht stutzig. Niemand wird stutzig. Alle glauben an einen Unfall.

Als Beer die Augen aufschlägt, liegt er in einem Krankenhauszimmer. Er sieht seine Frau und seine zwei Kinder neben dem Bett sitzen. Die Maschinen gurgeln, die Monitore fiepen. Beatmungsschläuche in der Nase, im Mund ein Tubus. Beer will wissen, wie spät es ist, aber seine Zunge ist schwer. Er kann kaum sprechen, benommen vom Schmerzmittel, das aus dem Tropf in die Venen sickert. Er deutet mit seinem unverletzten Fuß auf die Uhr, die über der Tür an der Wand hängt. Endlich verstehen sie ihn. Es ist Sonntag, knapp 24 Stunden danach. Er spürt sein rechtes Bein nicht mehr. Dann schläft er wieder ein. Das Tor des Käfigs steht sperrangelweit offen. Er hat es fast geschafft.

In den vier folgenden Wochen operieren die Ärzte Beer zehn Mal. Er wird in ein anderes Krankenhaus verlegt. Die Ärzte überlegen, Haut vom linken Bein aufs rechte zu transplantieren. Sie wollen sein Bein retten. Innerhalb der ersten 14 Tage dürfen Ärzte nicht amputieren, wenn es dabei nicht um Leben und Tod geht. Nicht einmal, wenn der Patient zustimmt. Er ist dann noch nicht zurechnungsfähig.

Vier Wochen später, nach der zehnten Operation, schiebt eine Schwester Beer in ein Aufwachzimmer. Beer ist noch benebelt von der Vollnarkose, er blinzelt, wird langsam klar. Der Arzt kommt zur Tür herein.
»Wie geht es Ihnen, Herr Beer?«
»Gut.«
»Wollen Sie mal sehen, was wir gemacht haben?«
Beer nickt. Der Arzt schlägt die Bettdecke zurück. Beer schaut an sich herunter, er sieht den Stumpf. Eine Wulst, bandagiert mit weißem Mull. Er versucht, sein rechtes Bein zu bewegen, und spürt, dass es nicht mehr da ist.

Betreff: ... jetzt auf einem Bein
Sa 19. Okt 2013, 07:04

»Hallo, Ihr Lieben,
nun habe ich es geschafft. Es war ein steiniger Weg dorthin, aber ich habe es geschafft. Ich bin BIID-ler mit Umsetzung. Mein rechtes Bein wurde etwas mehr als eine Handbreit oberhalb des Knies am rechten Oberschenkel amputiert.

Von BIID bin ich nicht geheilt, so empfinde ich es nicht, sonst hätte ich womöglich jetzt ein Problem mit meiner Amputation. Aber ich bin wieder Ich und kann wieder glücklich sein.«

Ein Jahr danach, an einem schiefergrauen Morgen im September, rollt Beer seinen Rollstuhl durch die Pforte des Ospedale Niguarda Ca’ Granda, des größten Krankenhauses in Mailand. Das Institut für Neuropsychologie liegt am Rande des Campus, es ist ein altes Gebäude, Putz blättert von den Wänden.

Beer ist ein bisschen zu früh dran. Dr. Anna Sedda, eine zierliche Frau mit kinnlangem Haar, ist gerade erst angekommen. Sie ist Neuropsychologin und erforscht die Ursachen von BIID. Beer hievt sich mit den Armen aus seinem Rollstuhl, hüpft auf einem Bein zu ihr und umarmt sie, als wäre sie eine alte Freundin. »Good to see you again«, sagt er und drückt ihr eine extragroße Packung »Merci« in die Hand. Es ist sein zweiter Besuch bei Sedda.

Beer ist gern hier, weil Sedda ihn nicht bemitleidet. Den Flug hat er aus eigener Tasche bezahlt. Das ist sein Dienst an der Wissenschaft. Das erste Mal war er ein paar Wochen vor seinem »Unfall« hier – so nennt er das jetzt. Professor Brugger aus der Schweiz hatte ihm die Mailänder Kollegen empfohlen. Sedda ahnte damals, dass Beer etwas vorhat. Aber sie fragte nicht. Sie hatte Angst vor der Antwort, sie hätte nicht gewusst, was sie tun soll. Ihn davon abhalten? Sedda sagt: »Wir wissen nicht, ob man BIID überhaupt behandeln kann oder nicht. Wir wissen, dass Tabletten nicht funktionieren. Amputationen funktionieren vielleicht.«

Sedda führt Beer in einen kleinen Raum mit gekacheltem Boden und tiefen Fenstern. Draußen ballen sich die Wolken am Himmel, wie schon den ganzen Morgen, es wird gleich regnen. Beer hat das nicht davon abgehalten, eine kurze Hose anzuziehen. Sein Stumpf lugt daraus hervor wie ein gerupftes Huhn. Der Oberschenkelmuskel zackt schroff nach unten, davor stülpt sich der Schleimbeutel, zusammengenäht wie ein Quilt. Seine Prothese hat Beer zu Hause gelassen. Seinen Stumpf trägt er wie eine Trophäe. Er will, dass alle es sehen können.

Doch Sedda tut so, als würde sie die Sache mit dem Bein gar nicht bemerken, und legt ihm einen Fragebogen vor. Es ist ein großer Tag für sie. Sie will wissen, wie Beers Gehirn und seine Psyche sich nach der Amputation verändert haben. Die Tests dauern den ganzen Tag. Sedda zeigt Beer als Erstes Fotos auf einem alten Laptop. Er muss bewerten, wie eklig er die Fotos findet. Auf einer Skala von eins bis sieben. Eins steht für nicht eklig, sieben für sehr eklig.

Das erste Bild poppt auf: Ein besoffener Mann im Fußballtrikot. Beer drückt die 7.
Eine verdreckte Küche: 7.
Ein vollgeschissenes Klo: 7.
Ein totes Kind, Blut im Gesicht: 4.
Ein abgetrennter Arm, blutüberströmt: 1.

Ekel schützt den Menschen vor Krankheiten, Schmutz oder Gift. Es ist ein Mechanismus wie ein Sicherheitsschloss. Bei Beer ist das anders. Sedda sagt, BIID-Betroffene finden Gewalt nicht eklig. Aber das heiße nicht, dass Beer anderen Gewalt zufügen würde. Nur sich selbst. Aus irgendeinem Grund wurde sein Sicherheitsschloss geknackt.

Nach anderthalb Stunden hält Beer es nicht mehr aus, Sedda hat ihn immer noch nicht auf sein Bein angesprochen. Dann platzt es aus ihm heraus: »Ist alles gut gelaufen!«, sagt er und schaut auf den Stumpf.
»War es die richtige Entscheidung für dich, Wolfram?«, fragt Sedda.
»Absolut«, sagt er.
»Das ist gut.«

Es war keine leichte Zeit für Beer, nachdem er aus dem Krankenhaus entlassen worden war: Physiotherapie, wochenlange Reha-Aufenthalte, die Schmerzen. Die Ärzte verschrieben ihm Lyrica, ein Schmerzmittel, das die wunden Nervenenden betäubt. Phantomschmerzen hat er nicht.

Irgendwann bekam Beer eine Prothese, 15 Kilo schwer. Er mag sie nicht, sie fühlt sich falsch an. Sie scheuert an Leiste und Hintern. Und wenn er darauf läuft, wirken seine Bewegungen steif und unbeholfen, als wäre er eine Marionette. Er trägt sie trotzdem. Weil er findet, dass es auch für Behinderte Normen gibt, an die man sich halten muss.
Manchmal, wenn er durch seinen Heimatort läuft, sagen die Leute: »Das ist ja toll, wie du das schaffst! Schön, dich wieder auf zwei Beinen zu sehen!«

Nach dem Bildertest führt Sedda Beer in ihr Büro, legt ihr Handy auf den Tisch, blickt ihn an und drückt die Aufnahmetaste.
»Wolfram, denkst du manchmal daran, dir einen weiteren Körperteil zu amputieren?«
»Nein, niemals. Ich fühle mich vollständig und ausgeglichen.«
»Wie hat sich deine Stimmung verändert?«
»Extrem. Ich muss nichts mehr verstecken und ich grübele nicht mehr so viel nach, über BIID und darüber, wer ich bin.«
»Planst du, deinen Kindern die Wahrheit zu erzählen?«
»Vielleicht später. Aber jetzt macht es keinen Sinn. Ich möchte keine Probleme machen, wo keine sind.«
»Wie geht es deiner Frau? Ist sie glücklich?«
»Ich weiß nicht genau, ob sie glücklich ist. Sie hat es akzeptiert. Sie weiß, dass es mir besser geht.«

Beer verstummt, er stützt seine Hand auf seinen Stumpf und knetet ihn. Seine Frau ist nicht mit nach Mailand gekommen, angeblich weil ihr Mailand nicht gefällt.

Anna Sedda sagt, sie müssten weiter Daten sammeln, um das Rätsel BIID zu entschlüsseln. Ob die Amputation Beer wirklich glücklicher gemacht habe, könne sie erst in drei oder vier Jahren beurteilen. Ihre Untersuchungen haben ergeben, dass Beers Empfinden von Ekel genauso ist wie vor der Amputation. Das könnte dafür sprechen, dass die Grundlage von BIID nicht psychologisch ist, sondern neurologisch.

Sedda sagt: »Mir ist es egal, ob Wolfram nun zwei Beine hat oder nur eins. Das Wichtigste ist, dass es ihm gut geht.«

Acht Stunden später, am Ende eines langen Tages, nachdem sie ihn auch noch in den MRT geschoben und sein Gehirn fotografiert haben, sitzt Beer im Rollstuhl in der Abflughalle des Mailänder Flughafens. Er ist müde und will nach Hause. Sein Flug geht in einer Stunde. Beer nimmt sein Handy und versucht, seine Frau anzurufen, sie geht nicht ran. Er schreibt ihr eine SMS: »Ich habe gerade eingecheckt. Bin um 21.15 Uhr da. Treffen wir uns oben am Abflug?« Dann steckt er das Handy wieder weg.

Herr Beer, finden Sie sich egoistisch?
Er schaut verdutzt, als würde er die Frage nicht verstehen. Nach einer Weile sagt er: »Wir hatten dieses Gespräch, meine Frau und ich, sonst hätte ich es nicht durchgezogen. Sonst wäre es schwierig geworden. Na ja, zumindest schwieriger.«

Fotos: Peter Granser