Die Gurken-Truppe

Wie tut man Gutes mit Gemüse? Ein Freundeskreis aus Wien hat einen ungewöhnlichen Weg gefunden, armen Roma-Familien zu helfen.

Am Donnerstag den 30. Oktober, Hannes Giebl hat das mitgeschrieben, fährt zum siebzigsten Mal ein Lastwagen der »Direkthilfe Roma« von Wien nach Hostice, Pavlovce und Sútor, drei Dörfer im äußersten Südosten der Slowakei. Aufbruch Wien-Mödling 7.15 Uhr, viereinhalb Stunden einfach. Auf der Hinfahrt ist der Lkw voller Möbel, Kinderkleidung, Lampen, alles Spenden für die Roma. Auf der Rückfahrt wird er ein paar tausend Gläser mit sauren Gurken geladen haben. Eine sehr nette, etwas chaotische Truppe bricht da auf: Hannes, der Fahrer, Mari, die Zahnärztin, Jimmy, der Schreiner, Michi, der Installateur. Heinz Kumpf, der Initiator des »Gurkerl-Projekts«, fährt in seinem eigenen Auto. Alle zahlen alles selbst.

Beim Bürgermeister von Pavlovce, Béla Menyhárt, wird der Lkw ausgeladen, Menyhárt weiß am besten, wer von den 400 Familien seines Dorfes was brauchen kann. »Reinkommen, Tee trinken, Kaffee, Schnaps«, sagt die Frau des Bürgermeisters, selbst eine Roma. Im Wohnzimmer der Menyhárts fing vor sieben Jahren auch alles an.

Heinz Kumpf hatte kurz zuvor im Fernsehen gesehen, unter welch unwürdigen Bedingungen die Roma im Osten der Slowakei hausen, oft ohne Heizung, ohne Wasser, ohne Klo – Betteln in deutschen und österreichischen Städten ist meistens die einzige Möglichkeit für sie, an Geld zu kommen. Kumpf beschloss, zu ihnen zu fahren. Er nahm ein paar Freunde mit. Sie hatten keinen Plan. Nur dass sie versuchen wollten, die Lebens-bedingungen der Roma zu verbessern. Und sie glaubten, dass Bargeld zu schenken dafür kein wirksames Mittel sei.

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Ihre erste Station: Das Haus des Bürgermeisters von Pavlovce, Béla Menyhárt. Die Wiener wurden auch damals von Bélas Frau bewirtet, Tee, Kaffee, Kraut, Wurst, es fehlte an nichts. Dann probierten die Besucher die sauren Gurken. Hallo, wie gut schmecken die denn? Ein wenig süßer und weit weniger sauer als die Essiggurken, die wir kennen, knackig ohnehin – so bekam das »Gurkerl-Projekt« Konturen: Roma-Familien, die ein Stück Wiese oder Acker besaßen, sollten diese Gurken anbauen. Das Saatgut im Frühjahr und die Einweckgläser im Sommer bekämen sie von den Österreichern gestellt. Das Rezept war jenes, das in der Gegend von Großmutter zu Mutter zu Tochter weitergegeben wird: Wasser, Essig, Zucker, Dill, Pfefferkörner, Wacholderbeere. »Und der Geschmack muss einen an was Schönes erinnern«, sagt Hannes Giebl, der Fahrer.

Nach ihrer Rückkehr nach Wien feilten die Männer um Heinz Kumpf an folgendem Plan: Mindestens 500 Gläser muss jede Familie produzieren, höchstens jedoch 2000. Ausgewählt werden nur solche, die über fließendes Wasser verfügen, um die Gurken zu säubern, und über einen Herd, um die Einweckgläser zu sterilisieren. Alles wird per Vertrag geregelt. Jede Familie lässt sich auf drei Monate ziemlich harter Arbeit ein: Aussäen im Mai, ab da jeden Tag gießen und Unkraut jäten, schließlich ernten, säubern, schnell verarbeiten, weil die Gurken sonst weich werden. Ende Juli werden die Gurkerl abgeholt und in Österreich vertrieben. Vertrieben, nicht verkauft: Da die Gurken nicht der EU-Norm entsprechen, bekommt man ein Glas nicht für einen Preis, sondern für eine Spende; diese Spende muss mindestens 2,80 Euro betragen. Einen Euro pro Glas bekommt dann die Roma-Familie, also mindestens 500 und höchstens 2000 Euro – für fast alle ist das die einzige Einnahmequelle neben den 230 Euro, dem Höchstsatz an staatlicher Unterstützung, den die Slowakei pro Familie und Monat zahlt. Diese 230 Euro reichen oft nicht, um satt zu werden.

Inzwischen holt die Direkthilfe Roma jedes Jahr 20 000 Gurkengläser ab, vertreibt und verschickt sie – hauptsächlich via Internet. 100 000 jährlich sollen es werden. Bewerber unter den Roma gäbe es genug. Was auffällt: Jene Familien, die schon seit Jahren Gurken anbauen und die Gläser bis zur Abholung unter den Schränken, auf den Schränken, unter den Betten, auf den Betten stapeln, haben fast alle Häuser, durch die es nicht mehr zieht, Fensterstöcke, die nicht mehr morsch sind, Duschen und Toiletten, die nicht überlaufen – und manchmal werden im Regal über dem Klo, wie in Susannes Haus, stolz sechs Flaschen des Toilettenreinigers Saponat ausgestellt wie Skulpturen. Die Frauen, die Gurken anbauen, haben fast alle ein vollständiges Gebiss. Was man von den anderen nicht behaupten kann.
Die anderen wohnen zum Beispiel zu siebt in einem Container, in denen je nach Blickwinkel ein bis zwei Wände fehlen; oder zu acht in einem Häuschen, aus dem die Ziegel brechen, der Fußboden aus Lehm; in verlassenen Häusern mit halben Dächern ohne Toilette. Und immer haben sie viele Kinder. In den drei Dörfern, um die sich die Direkthilfe Roma hauptsächlich kümmert, wohnen etwa tausend Roma. Fast 500 000 sind es im ganzen Land, jeder zehnte Einwohner der Slowakei ist Roma. Sie leben außerhalb der Dorfgemeinschaften, die Arbeitslosenrate beträgt fast hundert Prozent, flüssig lesen und schreiben können nicht viele. Und von wegen fahrendes Volk: In der Slowakei sind alle Roma sesshaft.

Das Gurkerl-Projekt ist quasi ein Selbstläufer, es wird mehr gespendet als ausgegeben. Und so haben sich viele Helfer der Direkthilfe Roma ein zweites Projekt zugelegt, helfen Senkgruben für Toiletten zu bauen oder behinderten Kindern Physiotherapie zu ermöglichen. Hannes hat sich der Familie Gruly angenommen. Er kauft Windeln in drei Größen, Äpfel, Kartoffeln, Kerzen für die acht Familienmitglieder, die außer der Kleidung am Leib nichts besitzen, nicht einmal fließend Wasser, nur vier, fünf Kinderwagenruinen. Angelika ist zwanzig, hat drei Kinder – drei Jahre, eineinhalb Jahre und zwei Wochen alt. Der Dreijährige beißt häufig einen der streunenden Hunde in den Rücken. Die Grulys wohnen illegal im ehemaligen Bahnwärterhäuschen, Pappe ersetzt die Haustür. Bis zum Frühjahr – dann, sagt der Bürgermeister, müssen sie auch da raus. Wo immer sie landen, ein Stück Wiese werden sie nicht besitzen, um Gurken anzubauen.

Gurken-Post

Die Direkthilfe Roma hat 5 000 Gläser Gurken für Leser des SZ-Magazins reserviert. Wer eine Mail an direkthilfe-roma@gmx.at schickt, kann sechs, zwölf oder 24 Gläser Gurken bestellen - gegen eine Spende von 2,80 Euro pro Glas (plus ca. 16, 19, bzw. 22 Euro Porto von Österreich nach Deutschland). Dem Paket liegt ein Zahlschein bei.

Illustration: Rutu Modan