Ein Riesen-Erfolg

Einmal im Leben einen Kürbis züchten, so groß wie ein Auto: Unser Autor hat es versucht.


17. April

Dieses Jahr werde ich einen Kürbis züchten. Einen Riesenkürbis. Das wird eine echte Aufgabe für einen Stadtgärtner wie mich.

Erst mal lerne ich: Riesenkürbisse gehören immer zur Sorte »Atlantic Giant«, doch jeder Züchter selektiert eigenes Saatgut aus seinen größten Exemplaren. Die Samen werden nach ihren Züchtern benannt und einzeln verkauft, meistens für einen guten Zweck. Profit daraus zu schlagen, gilt als unangebracht. Obwohl es sich lohnen würde bei Preisen von bis zu mehreren Hundert Euro für das Saatgut der Weltmeister – pro einzelnen Samen!

Meistgelesen diese Woche:

Ich bestelle je zwei Samen bei sechs deutschen Züchtern. Die Samen tragen Namen wie »1293 Wild 12« oder »997 Zirkelbach 12«. Die erste Zahl gibt das Gewicht des Mutterkürbisses in amerikanischen Pfund an (ein Pfund sind 0,45 Kilo), dann kommen der Name des Züchters und die Jahreszahl der Ernte. Die Samen kosten mich zwischen sechs und zehn Euro pro Stück. Wenn mein Kürbis bald auch so schwer wird wie ein Kleinwagen – entsteht dann ein Krater, dort, wo er seine Nährstoffe aus dem Boden saugt? Ich bin spät dran. Hoffentlich kommen die Samen vor Ostern.

18. April
Mit meiner Familie wohne ich in München, zwar mit Garten, doch ohne Gemüseacker. Wo pflanze ich die Dinger nur hin? Es gibt nur eine Lösung: Die riesige, hässliche Scheinzypresse muss weg.

30. April
Die Stadt hat ihre Erlaubnis gegeben, Waldarbeiter rücken an: Der Baum fällt. Die Wurzeln werden untergehäckselt. Hoffentlich ist der Boden in meinem Garten nicht zu sauer, das mögen Kürbisse nicht. Boden-Analyse? Spar ich mir, es gibt sowieso keine Wahl. Ein Platz, eine Chance.

1. Mai
Endlich: Sechs Tütchen mit je zwei Samen sind in meinem Briefkasten angekommen. Ich packe sie für eine Nacht in feuchte Haushaltstücher, das soll ihre Keimung beschleunigen. Am nächsten Morgen ragt zartes Grün heraus. Aber welches Ende stecke ich in die Erde nach unten? Rufe meine Mutter an, die Bio-Lehrerin. Aha, die Wurzel wächst aus dem spitzen Ende der Samen, die kommt nach unten. Habe mich bei crazy-growers.de angemeldet, das ist die Community für alle, die ernsthaft Riesenkürbisse züchten wollen. Die Profis haben natürlich schon vor Wochen im beheizten Gewächshaus angesät. Meine Kürbiskeime müssen erst mal in Töpfen mit Erde in meiner Küche stehen. Wenn die Pflänzchen groß genug sind, werde ich das stärkste unter ihnen in den Garten pflanzen. Diese Kürbispflanze wird irgendwann kleine Früchte bekommen, von denen ich alle abschneiden werde, außer einer – das soll mein Riesenkürbis werden. Würde ich auch die anderen Früchte wachsen lassen, würde der eine Kürbis nie so gigantisch groß werden, wie ich es mir wünsche.

5. Mai
Warten.

6. Mai
Warten.

7. Mai
Warten.

8. Mai
Warten.

9. Mai
Warten.

10. Mai
Keimlinge! Das erste Grün treibt aus der Erde! Aber im Gartencenter sind jetzt schon die normalen Kürbispflanzen kniehoch. Ich starte wohl nicht gerade von der Poleposition.

11. Mai
Über Nacht sind neun der zwölf Keimlinge um das Zehnfache auf fünf Zentimeter gewachsen, während ich meinen Kaffee getrunken habe, noch einen Zentimeter – das Rennen hat begonnen. Die beiden Zirkelbachs und Wilds liegen vorne. Yeah!

12. Mai
Gebe meinem Freund Johannes, Gemüseprofi, eine »1293 Wild 12«-
Pflanze mit – falls es bei mir nichts wird, habe ich jetzt ein seriöses Backup. Wahrscheinlich wird sein Kürbis im fruchtbaren Hopfenparadies Hallertau sowieso zehnmal so groß wie meiner, der auf der kargen Münchner Schotterebene wachsen muss. So heißt der Münchner Boden wirklich!

23. Mai
Umtopfen. Dabei verletze ich den größeren Zirkelbach. So ein Unglück.

31. Mai
Wo vor vier Wochen die riesige Scheinzypresse stand, ist der Boden locker, aber voller geschreddertem Wurzelholz. Ob das beim Verrotten zu viel Stickstoff aus dem Boden ziehen wird? Den brauchen nämlich meine Pflanzen! Bevor Holz oder Stroh wieder zu Erde werden, benötigen sie dummerweise noch einmal viele Nährstoffe beim Verrotten. Egal – ich grabe ein Loch, schütte einen Sack Bio-Erde drauf, ganz obendrauf kommt großflächig nährstoffreicher Kompost. Und dazu wähle ich den »1293 Wild 12« aus, der sieht irrsinnig gesund aus. Der bekommt nun seine Chance in meinem Garten.

1. Juni
Die Bedingungen sind jetzt gut, es hat ein paar Tage geregnet, heute ist es nicht zu heiß und nicht zu kalt – jetzt muss sich der Kürbis nur noch einleben. Meine Nachbarin Angie kommt vorbei und nimmt einen »Molter 12« mit. Wir schließen eine Wette ab: Wer züchtet den größten Kürbis? Champagner steht auf dem Spiel. Wem vertraue ich die restlichen Pflänzchen an? Ich könnte meinem Vermieter eins geben. Allerdings hat der gerade neue Beete angelegt – ob er sich arg freut, wenn ein Monsterkürbis seinen Garten übernimmt?

Die will sich fortpflanzen!

2. Juni
Schenke der Hobby-Gemüsegärtnerin Ramona den unverletzten Zirkelbach – und stachele auch ihren Kampfgeist mit einer Wette um Champagner an. Zur Schmach kommt also noch der Ruin, falls ich versage.

18. Juni
Im Pfingst-Urlaub träume ich von meiner Kürbispflanze, sie bedeckt eine große Fläche, sogar die Hälfte des im Traum angrenzenden Gartens – trägt aber keine Früchte. Wieder daheim im realen München: Die Pflanze ist wirklich stark gewachsen. Dicke, saftige Triebe, Ranken, Knospen: Die Pflanze strahlt Lebensenergie aus. Die will sich fortpflanzen! Aber tatsächlich noch keine Früchte.

28. Juni
»Wild« wuchert, vor allem Richtung Süden. Ich füttere die Pflanze mit
ein paar Handvoll Bio-Dünger aus dem Gartencenter, einem braunem Granulat. Dann klicke ich mich ins Forum, lese, was die Konkurrenz treibt. Der amtierende Weltmeister, der US-Amerikaner Ron Wallace zum Beispiel: Er arbeitet reichlich Mykorrhiza in den Boden ein, das sind Pilzkulturen, die das Wurzelwachstum fördern sollen. An jeder Verzweigung, an jedem Blattansatz bilden sich neue Wurzeln, deshalb soll man diese Stellen häufeln, also mit etwas Erde bedecken. Und dann mehrere Kürbisfrüchte bis zehn oder zwanzig Kilo wachsen lassen, den schönsten aussuchen und alle bis auf diesen »Keeper« abschneiden. Ich hatte noch nie einen Zehn-Kilo-Kürbis.

6. Juli
Der Kürbis blüht! Bis jetzt leider nur männliche Blüten: Die erkennt man an einem langen Stempel. Kleine Pflanzenkunde: Der Kürbis ist ein zweigeschlechtliches Gewächs, er entwickelt sattgelbe männliche und weibliche Blüten. Die weiblichen erkennt man daran, dass eine kleine Frucht daran hängt, die männliche am langen Stempel. Der Kürbis kann sich selbst befruchten, wenn eine Biene von Blüte zu Blüte fliegt. Kommt aber eine Biene mit Zucchinipollen vorbei und befruchtet meinen Kürbis, bekomme ich am Ende nur ganz kleine Früchte, Zucchini sind nämlich auch Kürbisse. Also muss ich die Befruchtung selbst vornehmen, und zwar bevor eine Biene vorbeikommt. Mein Kürbis wächst jetzt in Richtung Bäume, das dumme Ding. Abends Wetterbericht: Schnee und Graupelschauer ziehen auf. Im Juli! Muss ich mich schützend über meinen Kürbis werfen?

10. Juli
Die ersten zwei Minikürbisse sind zu sehen! Beide in etwa zwei Metern Entfernung zum Ansatz, das wäre laut Lehrbüchern perfekt. Die Blüten an den Kürbissen packe ich in Mull, ich will sie per Hand bestäuben, sobald sie aufspringen. Bevor eine Biene auch nur mit dem Gedanken spielt, von meinem Zucchinibeet in Richtung Kürbis zu fliegen!

11. Juli
Mein Kürbis wächst weiter unkontrollierbar und droht die Gojibeere meiner Frau zu überwuchern. Killergemüse gegen Superfood. Männlicher Protz gegen weibliche Verfeinerung.

23. Juli
Die weibliche Blüte hat sich geöffnet, männliche Blüten sind in großer Zahl bereit. Ich bestäube den weiblichen Blütenstempel mit einem männlichen Stempel. Dazu bricht man eine männliche Blüte ab und patscht sie auf die weibliche. Ab jetzt werden die Tage nach der Befruchtung gezählt (DAPs – days after pollination). Etwa neunzig Tage dauert es, bis der Kürbis reif ist. Zieldatum wäre dann der 20. Oktober – aber das ist zu spät! Da schneit es ja vielleicht schon. Außerdem stehen die Termine für die Wettbewerbe fest, die »Weigh-offs«: 27. September Bayerische Meisterschaft, 12. Oktober Europameisterschaft in Ludwigsburg. Ich kann mir kaum vorstellen, wie aus dem walnussgroßen Kügelchen in drei Monaten ein Gigant werden soll.

27. Juli, DAP 4
In vier Tagen von der Walnuss zum Handball – vielleicht wird es ja doch was mit dem Titel?

12. August, DAP 20
Er hat jetzt die Größe eines ziemlich großen Medizinballs – zwanzig Kilo? Und er gewinnt jeden Tag sicher ein, zwei Kilogramm dazu. Wenn Mitte Oktober geerntet wird, bleiben mit viel Glück 65 Tage – da muss noch mehr gehen. Anabolika? Steroide? Im Forum meldet Giulio Ferretti aus der Toskana einen Zwischenstand von 602 Kilo. Ferretti ist aber auch schon bei DAP 45. Im Chat geht es um Mehltau – das Problem habe ich nicht, selten so eine gesunde Pflanze gesehen. Vom Züchter Andreas Wild, Verkäufer meiner »Wild 12«-Samen, und seinem Kürbis finde ich ein Foto im Netz: Mein Mutterkürbis! So ebenmäßig, drall und zart gefurcht! Und das bei fast 600 Kilo, da sind viele andere schon völlig verquollen und deformiert.

14. August, DAP 22
Am Abend telefoniere ich mit Andreas Wild, er wird jetzt mein Kürbismentor. Sein Tipp: Melasse aus dem Landwirtschaftsbedarf ist der ideale kalibetonte Bio-Flüssigdünger für die Fruchtphase eines Riesenkürbis. Heißt korrekt: Vinasse. Den Restzucker darin lieben alle möglichen Bodenlebewesen wie zuckersüchtige kleine Jungs, Tomaten auch.

15. August, DAP 23
6:30 Uhr. Es gibt Melasse oder Vinasse auch im Gartencenter – in Minimengen zum Wucherpreis. Ich brauche SOFORT welche, doch heute ist Mariä Himmelfahrt, was tun? Im Keller steht noch ein Becher Grafschafter Goldsaft. Den Zuckerrübensirup schmiere ich mir manchmal aufs Brot, und: Es ist fast das Gleiche wie Melasse. Also ab in die Gießkanne, und dann wird mein Boden hoffentlich einen Flash bekommen.

9:30 Uhr. Der Kürbis wächst, ich kann ihm dabei zusehen. Jetzt nur noch kurz 300 Kilo aufholen, dann bin ich wieder im Rennen.

16. August, DAP 24
Wir müssen ein paar Tage nach Berlin, mein Schwager heiratet. Aber ich kann jetzt den Kürbis nicht allein lassen. Wer hält den Schirm, falls es hagelt? Wer gießt vorsichtig nur unter den Blättern und frühmorgens, damit kein Mehltau entsteht? Wer schützt den Kürbis vor Sonne, falls doch noch ein Sommertag kommt? Soll ich Migräne simulieren?

»Nachts muss man dem Kürbis eine dicke Wolldecke umlegen, damit er nicht friert.«

20. August, DAP 28
Zurück aus Berlin – alles gut, der Kürbis liegt fett und schwer im Unterholz, er leuchtet wie ein zweiter Mond. Die Größe hat sich verdoppelt. Zwei Kanister Vinasse sind vor meine Tür geliefert worden, morgen wird gedüngt.

21. August, DAP 29
Ich stehe mit einem großen roten Regenschirm im Beet – es hagelt. Zum Glück nur kurz.

22. August, DAP 30
Der Kürbis leuchtet gelb. Das ist nicht gut, zu viel Farbe ist ein Zeichen für verfrühte Reife. Die Siegerkürbisse der vergangenen Jahre pflegten eine zarte Blässe. Ich muss ihn schützen, mit Schleier, Gaze, Schirm! Profis bauen kleine Häuschen über der Frucht. Ich nicht.

23. August, DAP 31
Das Wetter ist mies, unter 20 Grad schon seit fast zehn Tagen, wie soll da der Kürbis wachsen? Andreas Wild meint: »Nachts muss man dem Kürbis eine dicke Wolldecke umlegen, damit er nicht friert.«

2. September, DAP 41
Eigentlich ist jetzt erst Halbzeit, aber die Befruchtung war spät, und nach drei Wochen Kälte mit Wolldecken und Regencape auf dem Kürbis wächst er im Moment sehr, sehr langsam. Meine Frau will wissen, ob er neben Regencape und Decken auch noch was »für schick« braucht.

21. September, DAP 60
Ein Split! Das ist das Ende. Direkt am Stielansatz hat sich ein Riss gebildet, ich konnte gerade noch eine Schnecke aus dem Loch zerren. Damit ist mein »1293 Wild 12« disqualifiziert für alle Wettbewerbe, so wie im vergangenen Herbst der 1056-Kilo-Kürbis des Schweizers Beni Meier: Der schwerste Kürbis der Geschichte wurde disqualifiziert wegen eines zwei Zentimeter großen Loches. Ich verarzte das Loch mit Gaffa-Tape, aber es sind natürlich schon Keime reingekommen, das Pflaster kann Fäulnis und Verderben nur verzögern. Ich bin am Boden. Was tun?

22. September, DAP 61
Was? Tun?!

28. September, DAP 67
Der Kürbis wächst langsam weiter, doch ich habe mich entschieden: Am Freitag werde ich ernten, wiegen – und an dem Abend ist dann jeder Gast bei mir eingeladen, auf einem kleinen rituellen Fest sein Graffito in den Kürbis zu schnitzen. Ich werde ihn aushöhlen, eine Suppe kochen, einen Bauscheinwerfer im Kürbis versenken und ihn aufs Gartenmäuerchen setzen. Im Grunde ist so ein Kürbis auch nur eine Rose: Sechs Monate Pflege, ein paar Tage prachtvolle Schönheit, und bis Halloween hat ihn wohl schon der Kompost.

3. Oktober, DAP 72
Allein kann ich ihn kaum heben. 86 Kilo! Der Vergleich mit den Profikürbissen ist mir egal, ich bin begeistert. Abends wird geschnitzt und gefeiert. Keiner der Kürbisse, die ich Freunden gegeben hatte, ist annähernd so groß geworden wie meiner. Meine Frau meint, das sei kein Wunder bei meiner liebevollen Pflege. Und ob sie sich mal als Riesenkürbis verkleiden solle?

12. Oktober
Europameisterschaft: Die Kürbisse der Landesmeister werden gewogen und im Park »Blühendes Barock« rund um das Schloss Ludwigsburg aufgestellt. Ich bin dabei, zwar ohne Kürbis, aber voller Ehrfurcht – dreizehn Riesen, die meisten mehr als 500 Kilo schwer. Beni Meier, der Schweizer, hat schon vor zwei Wochen als erster Europäer mit 951 Kilo einen Weltrekord aufgestellt. Bei den Schweizer Meisterschaften hat er sich dann selbst geschlagen, und heute bricht er seinen eigenen Rekord zum zweiten Mal – mit seinem dritten, letzten und größten Kürbis: 1054 Kilo! Im Schlossgarten stehen die Giganten nun bis zur Schlachtung am zweiten November, dann wird das Saatgut fürs kommende Jahr entnommen. Andreas Wild ist mit einem 460-Kilo-Kürbis NRW-Meister geworden, wir treffen uns zum ersten Mal persönlich. Vielleicht kann er mir helfen, einen guten Samen für 2015 zu bekommen. Ich werde mir eine Wagenladung Pferdemist als Dünger bestellen – und einen Kürbis züchten, so groß, dass Cinderella darin zum Ball fahren könnte.

Illustrationen: Rutu Modan