Hautaufgaben

Orgasmus in der Grundschule, Analsex in der Mittelstufe - worüber müssen Schüler Bescheid wissen? Zwischen Eltern und Pädagogen tobt ein Streit, der selbst unter die Gürtellinie geht.

Wann sollten Kinder erfahren, was nackte Erwachsene miteinander tun können?

Seit einigen Monaten bekommt Mathias Ebert regelmäßig Mails, in denen steht, er sei ein Nazi oder homophobes Schwein. Manchmal heißt es auch nur, er solle verrecken. Ebert ist 28 und Vater von vier Kindern, er wohnt in Nordrhein-Westfalen, nahe der Stadt Siegen. Vergangenes Jahr hat er die Martens kennengelernt, eine Familie mit neun Kindern, die den christlichen Glauben sehr ernst nimmt. Eugen Martens, der Vater, hatte gerade eine Nacht im Gefängnis verbracht. Seine Tochter hatte in der Schule, vierte Klasse, den Sexualunterricht verlassen, weil ihr schlecht geworden war, wie sie selbst sagte, und sich dann geweigert, ins Klassenzimmer zurückzugehen. Auch am nächsten Tag blieb sie fern, als wieder Sexualkunde auf dem Programm stand. Das Schulamt verhängte daraufhin ein Bußgeld von 150 Euro gegen die Eltern. Weil sich der Vater weigerte zu zahlen, musste er in Haft. Drei Monate später drohte die Staatsanwaltschaft, auch die Mutter einzusperren, obwohl sie gerade schwanger war – und Mathias Ebert fragte sich: »In welchem Land leben wir eigentlich?«

Mitte Januar dieses Jahres standen er und 1000 weitere Demonstranten vor dem Kölner Dom, um gegen die »Frühsexualisierung der Kinder in Kitas, Kindergärten und Schulen« zu demonstrieren. Laut Ebert waren es hauptsächlich Eltern und Großeltern, die seine Irritation teilten – die Irritation darüber, dass neuerdings in Kindergärten die Kleinen zu Doktorspielen ermutigt würden, die auch beinhalteten, die anderen Kinder am Po zu beschnuppern. Dass in manchen Grundschulen eine Broschüre der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung mit dem Titel Das kleine Körper-ABC verteilt wird, die alle Fragen zu chemischen Verhütungsmitteln, Pille danach und Scheidenflüssigkeit beantwortet. Dass in einer Grundschule in Köln-Lindenthal Neunjährige die Frage beantworten mussten, »was es bedeutet – Sex haben«. Oder: »Was ist ein Orgasmus?« Mehrmals haben sich Eltern beschwert, dass sie bei diesem neuen Lehrplan kein Mitspracherecht haben und auch nicht informiert werden, welche Materialien die Schule verwendet. »Ich habe nichts gegen Sexualkunde«, sagt Ebert. Er erinnert sich noch an seinen eigenen Unterricht in der fünften und sechsten Klasse, als es etwa darum ging, wie ein Kondom funktioniert. »Aber bei Kindern im Kindergarten- und Grundschulalter«, sagt er, »muss man doch behutsam rangehen.«

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Wie weit dürfen Kindergärten und Schulen bei der Sexualaufklärung gehen? Seit einigen Monaten tobt darüber in Deutschland ein erbitterter Streit. Außer in Köln gab es mittlerweile auch Protestveranstaltungen von Eltern in Frankfurt, Stuttgart, Augsburg, Dresden und Hannover. Unter Sexualpädagogen hingegen herrscht Einigkeit: Je früher, desto besser. Und die Kinder sollen, möglichst schon bevor sie in die Schule kommen, informiert werden, dass es noch andere Lebensformen gibt als heterosexuelle Zweierbeziehungen: homosexuelle Partnerschaften, Bi- oder Transsexualität.

Bis vor Kurzem wurden diese Gruppen durch Staat und Gesellschaft marginalisiert und diskriminiert, nun wird die neue Linie beim Sexualunterricht von fast allen Parteien in Deutschland befürwortet. Man könnte meinen: Die Fehler der Vergangenheit bloß nicht wiederholen. »Es geht nicht um sexuelle Früherziehung, sondern um die Vermittlung von Toleranz und Akzeptanz, in der jeder seine eigene Identität, auch die sexuelle, entwickeln kann«, sagt etwa Björn Försterling, FDP-Landtagsabgeordneter in Niedersachsen. Lediglich die AfD, die Partei Bibeltreuer Christen und auch die rechtsradikalen Parteien unterstützen die Demonstrationen der »Besorgten Eltern«, wie Mathias Ebert seine Gruppe in Nordrhein-Westfalen genannt hat. Nicht zuletzt wegen dieser Unterstützer ist die Elternbewegung in Verruf geraten, als Ansammlung reaktionärer Spießbürger, da half es auch nichts, dass Ebert die schwulen Gegendemonstranten in Köln aufforderte: »Kommt doch zu uns, wir haben überhaupt nichts gegen Schwule!«

Sind die Sorgen der Eltern unbegründet? Oder kann es sein, dass die sexuelle Aufklärung nicht nur befreiend wirkt, wie ihre Verfechter meinen, sondern auch zerstörend, wie nicht wenige Eltern befürchten?

Die Täter aus der Odenwaldschule hatten in ihrem Leben keinerlei Sexualerziehung gehabt.


Vor acht Jahren stellte Alice Schwarzer in der Zeitschrift Emma die Frage »Zu jung für Sex?«. Eigentlich war es eine Feststellung. Schwarzer echauffierte sich über eine Kollegin in der Redaktion, weil diese zuließ, dass ihre fünfzehn Jahre alte Tochter zusammen mit ihrem 18-jährigen Freund bei ihr zu Hause übernachtete. Sie tun es ja eh, dann doch lieber zu Hause, fanden Schwarzers jüngere Kolleginnen. »Das kann doch nicht alles sein, was verantwortungsvolle Eltern dazu zu sagen haben«, schimpfte Schwarzer. Sex sei viel mehr als eine körperliche Übung, »dazu braucht es nicht nur körperliche, sondern auch seelische Reife.« Auch die Publizistin Barbara Sichtermann äußerte sich in dem Heft: Es sei ja leider so, »dass Sexualisierung funktioniert, das heißt, dass einem Teenie, der eigentlich von Sex noch gar nichts wissen will, die erotische Sicht auf die Dinge des Lebens aufgenötigt werden kann«. Man könne Kinder durch entsprechende Angebote zu einer verfrühten Entpuppung ihrer erotischen Persönlichkeit drängen. »Man kann es aber auch lassen.« Es seien die Erwachsenen, »die ihren Übergriff auf die junge Generation mit der Ideologie der Freiheit verbrämen«. Dieses Freiheitsverlangen habe seine Berechtigung gehabt, als die Sexualität noch von Tabus umstellt war. Doch inzwischen sei das Pendel umgeschlagen: »Sex ist Pflicht. Und so sei die Frage erlaubt, ob das auch für das Kind gelten muss.«

Werde das sexuelle Interesse verfrüht stimuliert, sei auch die Ruhe hin, die die intellektuelle Neugier begleitet und den Kindern Lebensbereiche erschließt, die sie gerade nicht auf die Geschlechterrolle vorbereiten. »Die kommt noch früh genug und ergreift dann ohnehin Besitz von der ganzen Persönlichkeit«, meint Sichtermann. Bereits vor drei Jahrzehnten befand der US-Medienforscher Neil Postman in seinem Buch Das Verschwinden der Kindheit, die Kindheit sei zum Teil dadurch definiert, dass »sie für dieses Lebensalter die Abschirmung vor den Geheimnissen der Erwachsenen und besonders den sexuellen Geheimnissen verlangt«.

Der Unterschied zur heutigen Debatte? Die Emma-Autorinnen und Postman sahen die größte Gefahr in der sexuellen Aufladung der Kindheit durch Werbung, Fernsehen und Konsumartikel wie die Barbie-Puppe, nicht im Schulunterricht. Davon abgesehen geistert die Sorge vor der Frühsexualisierung der Kinder offenbar nicht nur in den Köpfen rückständiger Eltern. Die Sache ist komplizierter – allerdings auch komplizierter, als es sich viele Eltern vorstellen.

Uwe Sielert, Sozialpädagoge in Kiel, beschäftigt sich seit dreißig Jahren mit der Sexualerziehung in Deutschland. Er sagt: »Frühsexualisierung ist heute ein Kampfbegriff gegen eine Sexualerziehung, die die Sexualität von Kindern ernst nimmt.« Das Wort suggeriere, Kinder würden dadurch zu früh mit sexuellen Dingen konfrontiert. Das Gegenteil sei der Fall: Sielert hat gerade eine Studie fertiggestellt, befragt wurden hundert Grundschullehrkräfte in Schleswig-Holstein. Die Hälfte von ihnen gab an, dass im Unterricht viele Kinder in Sachen Sexualität Fragen stellen und Themen ansprechen, die für ihr Alter eigentlich unangemessen seien. Das wundert Sielert nicht, denn nie waren sexuelle Darstellungen und Bilder so leicht zugänglich wie heute. Nur: Wer beantwortet die Fragen dieser Kinder jetzt am besten? Von den Mitschülern hätten sie nur Halbwissen zu erwarten, argumentiert Sielert. Mit den Eltern sprechen anderen Untersuchungen zufolge nur etwa zwei Drittel der Kinder im Alter von sechs oder sieben Jahren über Sexualität, bei den Zehn- bis Zwölfjährigen ist es nur noch ein Drittel. »Kinder wollen ihre Eltern nicht beschämen«, erklärt Sielert. Kurz gesagt: Die Kinder sind längst sexualisiert, folglich sei es an Kindergarten und Schule, sie vor Ängsten und Irrwegen zu schützen, also: umfassend aufzuklären.

Sielert saß am Runden Tisch, der 2010 als Reaktion auf den Missbrauchsskandal der katholischen Kirche und der Odenwaldschule entstand. Eine Lehre aus dieser Zeit: Die Täter hatten in ihrem Leben keinerlei Sexualerziehung gehabt, »sie hatten kein positives Verhältnis zu ihrer eigenen Sexualität und vermischten sie mit Machtgelüsten. Am Ende haben sie sich genommen, was sie glaubten, was ihnen zusteht«, wie Sielert sagt. Allerdings steht auch er selbst bei diesem Thema in der Kritik: Gerade die sexualfreundliche Erziehung, die er propagiert, verwische die Grenzen zwischen Schülern und Lehrern und begünstige damit den Missbrauch – siehe Odenwaldschule. Sielert hält dem entgegen, an der Odenwaldschule habe »ein klebriges, kumpelhaftes Sexualmilieu« vorgeherrscht. Hätte es dort Sexualerziehung gegeben, wäre dieses Klima kaum möglich gewesen,argumentiert er, »weil die Missbrauchsopfer dann eine Stimme bekommen hätten«. Für seine These spricht, dass auch die Missbrauchsopfer in den katholischen Internaten oft schwiegen, weil ihnen buchstäblich die Worte für das fehlten, was ihnen widerfahren war; Worte wie Oralverkehr oder Analverkehr. Natürlich, räumt Sielert ein, führe Sexualerziehung zu Irritationen, bei Eltern wie bei den Kindern, besonders wenn es um Lebensentwürfe geht, die den eigenen Erfahrungen widersprechen, etwa die Partnerschaft von zwei Frauen oder Männern. Gerade diese Irritation ermögliche es aber, Vorurteile abzubauen.

Doch was ist Irritation, was Zumutung? Elisabeth Tuider, Leiterin des Fachgebiets Soziologie der Diversität an der Universität Kassel, hat ein Buch mit 70 praktischen Übungen zur Sexualerziehung für Lehrer und Sozialarbeiter herausgegeben. Der Titel: Sexualpädagogik der Vielfalt. In einer Übung sollen 15-jährige Schüler »galaktische Sex-Praktiken« erfinden, dazu das entsprechende Sex-Spielzeug wie auch »erotische Musikstücke«. Ziel: Es soll »einem zu engen Sexualitätsbegriff entgegengewirkt werden«. In einer anderen Übung gilt es, einen »Puff für alle« zu errichten, der die Bedürfnisse eines »weißen heterosexuellen Mannes« ebenso erfüllt wie die einer »lesbischen Trans-Frau«. Die Schüler sollen sich mit der Innenraumgestaltung des Puffs beschäftigen oder auch mit der Frage, wer dort arbeitet. Damit würden die Schüler sensibilisiert »bezüglich marginalisierter Lebensformen und sexueller Vorlieben«. Der von Tuider vorgeschlagene Lehrplan hat Proteste in der Öffentlichkeit ausgelöst, der türkisch-stämmige Autor Akif Pirinçci schäumte auf Facebook: »Noch vor dreißig Jahren hätte man so eine Alte in den Knast gesteckt und sie solange dort behalten, bis sie verrottet wäre.«

Die Professorin, die zwischenzeitlich unter Personenschutz stand, rechtfertigte sich kürzlich, ihr Buch enthalte lediglich Anregungen für den Unterricht, die Themen würden die Schüler selbst vorgeben. Ebenso würden die Schüler selbst entscheiden, ob sie tatsächlich über Prostitution, Oralverkehr oder Schmetterlinge sprechen wollten. »Grundregel ist: Jeder und jede kann jederzeit aussteigen.« Eine erstaunliche Sicht: Sie verkennt, dass Schüler, die allzu große Scham offenbaren, sich im Klassenzimmer schnell dem Gespött der anderen aussetzen. Auch der Fall der Familie Martens zeigt, dass eben nicht jede jederzeit aussteigen kann.

Sowohl Tuider als auch Sielert sind Vertreter der neo-emanzipativen Sexualaufklärung: Sie sehen es als wichtige Aufgabe, den Kindern und Jugendlichen ein positives Verhältnis zum eigenen Körper und zur Sexualität zu vermitteln. Im Fall von Tuiders Übung »Puff für alle« hat das allerdings dazu geführt, dass es darin allein um die sexuellen Wünsche potenzieller Kunden geht – es fehlt der Hinweis, dass viele Frauen in Bordellen ausgebeutet werden. Immerhin wären die Schüler, an die sich Tuider mit dieser Übung richtet, alt genug, um die Schattenseiten von käuflichem Sex und Sexualität an sich zu reflektieren. Doch wie steht es mit den Fünfjährigen? Die lernen in Sonja Härdins Buch Wo kommst du her? Aufklärung für Kinder ab 5 über das Gefühlsleben der beiden Protagonisten Lars und Lisa: »Wenn es so schön ist, dass es schöner nicht mehr werden kann, haben Lisa und Lars einen Orgasmus. Das ist schön kribbelig und warm in der Scheide und am Penis. Aus Lars’ Penis spritzt eine weiße Flüssigkeit in Lisas Scheide. In der Flüssigkeit, die auch Sperma genannt wird, sind viele kleine Samenzellen.« Das Buch wurde unter anderem in Berliner Grundschulen und Kindergärten eingesetzt. Dann doch lieber die Geschichte vom Storch, der die Babys bringt?

Dazu wird es nicht kommen, nicht einmal im katholisch geprägten Bayern. Wolfgang Ellegast, Referatsleiter für Biologie im bayerischen Kultusministerium, verweist hier auf ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts, das die Schulen seit 1977 verpflichtet, die Schüler sexuell aufzuklären. Wie der Unterricht gestaltet wird, mit welchen Büchern, Fotos oder Familien, liegt in der Verantwortung des Bundeslands, der Schule – und letztlich jedes einzelnen Lehrers. Ellegast betont, die Lehrer seien angehalten, auch auf sehr behütete Kinder Rücksicht zu nehmen, die mit dem Thema bisher nicht konfrontiert wurden, »Schule ist schließlich eine Pflichtveranstaltung«. Er fügt aber hinzu: »Wir haben 120 000 Lehrer in Bayern – natürlich wissen wir, dass das nicht jedem gelingt.« Weitere Elternproteste sind also absehbar.

»Die Verbalisierung und Rationalisierung aller Winkel und Ecken der Sexualität nimmt dem Eros ja eher den Stachel«


Wer den heutigen Sexualunterricht beklagt, muss allerdings bedenken, wie dieser Unterricht früher aussah. Lange Zeit bestand das Ziel der Aufklärung vor allem darin, Sexualität bei Kindern so lange wie möglich hinauszuzögern. Um Jungen vom Masturbieren abzuhalten, wurde sogar die Wissenschaft bemüht: Ein Dr. med. Hans Hoppeler etwa schrieb in seinem Büchlein Aufklärung und Rat für Jünglinge bei ihrem Eintritt in das geschlechtsreife Alter, das bis in die Sechzigerjahre in Deutschland verkauft wurde: Wer »öfters künstliche Samenentleerung herbeiführt«, entziehe dem Körper wichtige Hormone und richte damit »ernsthaften Schaden« an. »Körperliche und geistige Leistungsfähigkeit gehen zurück, die Frische und Energie des Denkens lassen zu wünschen übrig.« Der Schweizer Psychotherapeut Theodor Bovet riet in den Fünzigern in seiner Aufklärungsschrift Von Mann zu Mann zum »Kampf gegen unreine Gedanken«. Wenn man doch einmal »von einer akuten Versuchung überfallen« werde, hilft laut Bovet nur eines: »Aus dem Bett sofort aufstehen und irgendwie ablenken, sei’s mit einer Geometrieaufgabe oder mit Zeichnen oder mit Knopfannähen.«

Doch bereits die Philantropen, eine Bewegung, die im ausgehenden 18. Jahrhundert entstand und ebenfalls gegen die Verschwendung von Körpersäften eintrat, hatten eine unerwünschte Nebenwirkung dieser repressiven Sexualaufklärung erkannt: Die Thematisierung des Problems könnte die Jünglinge überhaupt erst auf verwerfliche Gedanken bringen. Ihre Lösung des Dilemmas: ständige Bewachung der Heranwachsenden sowie Infibulation. Das heißt, die Vorhaut der Kinder wurde mit einer Art Sicherheitsnadel verschlossen. Die Sexualaufklärung, wie sie Sielert und Tuider vertreten, ist natürlich auch als Reaktion auf solche Zeiten zu verstehen: Nie wieder Tabus!

Trotzdem hat Walter Müller eine tröstliche Botschaft für besorgte Eltern, die befürchten, ihr Nachwuchs könne in der Schule nun jede Scham verlieren: »Die Verbalisierung und Rationalisierung aller Winkel und Ecken der Sexualität nimmt dem Eros ja eher den Stachel«, sagt der emeritierte Würzburger Pädagogikprofessor. Je mehr im Unterricht darüber gesprochen werde, desto mehr verliere die Sexualität den Reiz des Geheimen und Verbotenen. »Insofern wirkt die lustbetonte Sexualaufklärung – entgegen der Absicht ihrer Erfinder – eher lustfeindlich.« Tatsächlich zeigen Untersuchungen, dass Jugendliche heute später sexuell aktiv werden: Laut einer Studie der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung hatte 2005 ein Viertel der 17-jährigen Mädchen noch keinen Geschlechtsverkehr, im Jahr 2010 war es ein Drittel. Und auch im Rest der aufgeklärten Gesellschaft scheint sich eine gewisse Sexmüdigkeit ausgebreitet zu haben.

Alles in allem hält Müller den Einfluss auf das Verhalten der Kinder und Jugendlichen durch schulische Sexualerziehung für sehr begrenzt: »Schüler sehen in einem Lehrer in erster Linie einen Menschen, der sie beurteilt und Noten vergibt. Und dieser Mensch versucht nun, die intimsten Fragen der Schüler aufzugreifen – das kann eigentlich nicht funktionieren.« Natürlich dürfe sich die Schule nicht ihrer Verantwortung entziehen: Die Vorstellung von Liebe und Erotik sei bei vielen Kindern und Jugendlichen heute stark von gewaltverherrlichenden und frauenfeindlichen Darstellungen aus dem Fernsehen und Internet geprägt. Dennoch warnt Müller vor übertriebenen Erwartungen: »Es handelt sich um ein gesellschaftliches Problem. Das kann die Schule nur partiell reparieren.«

Vielleicht wäre schon einiges gewonnen, wenn wenigstens die Erwachsenen lernen würden, im Dauerstreit um die richtige Sexualerziehung nicht so hemmungslos übereinander herzufallen.

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Sexualkunde
Seit 1968 steht Sexualkunde auf dem Lehrplan der Schulen. Die Bundesländer erließen Richtlinien für den Unterricht, die die Lernziele definieren: Die Schüler sollen etwa eine positive Beziehung zum eigenen Körper bekommen, sich vor sexueller Gewalt schützen können, über Empfängnisverhütung Bescheid wissen, Toleranz gegenüber anderen Lebensweisen entwickeln. Nur Bayern macht seinen Lehrern Vorgaben, welche Themen in welcher Klassenstufe zu behandeln sind. In jedem Fall müssen die Eltern vorher informiert werden, was unterrichtet wird - und mit welchen Lehrmitteln.

Illustrationen: Monica Ramos