»Hans, der Träumer«, rief ihn sein Lehrer in der Schule. »Der bin ich bis heute geblieben«, sagt Hannes Wader.
SZ-Magazin: Herr Wader, Sie hatten eine lupenreine Proletarierjugend: Lehre mit 13, Ihre Mutter ging putzen, Ihr Vater war erst Knecht auf einem Bauernhof, dann Fabrikarbeiter.
Hannes Wader: Mein Vater war schon als junger Mensch in der Sozialdemokratie engagiert und im Arbeitersport aktiv. Mitte der Zwanziger wurde er Vorturner der
Damenriege und gründete den Mandolinenverein Bielefeld. 1933 wurde er von der
Fabrikleitung entlassen, weil er Mitglied der SPD war.
Sie lernten Ihren Vater erst mit drei Jahren kennen.
Er war gegen den Krieg, aber natürlich wurde er trotzdem eingezogen. Als er 1945 aus der Gefangenschaft zurückkehrte, entstand keine Beziehung zwischen uns. Er konnte wohl mit Kindern nichts anfangen. Das sind Dinge, die sich übermitteln. Ich war wohl auch kein guter Vater. Heute würde ich manches anders machen.
Ihr Vater begann zu trinken und kümmerte sich kaum noch um die Familie.
Einmal hat er mich misshandelt. Ich stahl ihm immer die Tabakreste aus der Jackentasche und verkaufte sie. Wenn ich fünfzig Pfennig zusammen hatte, kaufte ich mir am Kiosk einen Groschenroman, Cowboygeschichten mit Billy Jenkins und Tom Prox. Als ich acht oder neun war, wollte er unbedingt eins der Hefte lesen und fragte, wo ist das geblieben? Ich sage, weiß ich nicht. Und da hat er mich geschlagen. Alle standen drum rum und waren fassungslos. Das war der Ausbruch eines Menschen, der sich als Versager fühlte. Er spürte, da war eine schweigende Gegnerschaft ihm gegenüber.
Was für ein Mensch war Ihre Mutter?
Sie war eine sehr warmherzige Frau. Und sie hatte das Glück, gerne zu singen. Der Volksmund sagt, Singen vertreibt das Leid. Das ist so. Das ist auch bei mir immer so gewesen. Was das betrifft, bin ich begünstigt.
In der Volksschule fielen Sie als Daumenlutscher auf, Ihr Lehrer begrüßte Sie morgens mit dem Satz: »Da kommt Hans, der Träumer.«
Der bin ich bis heute geblieben. Mit sieben fing ich an, im Kopf die Heldentaten aus Büchern nachzuspielen. Bei uns zu Hause war Lesen nicht gern gesehen. Der Junge sollte ja kein Anwalt werden. In der Schulbibliothek konnte man sich aber Sensationen wie Moby Dick ausleihen oder Urwille und Welterlösung von Arthur Schopenhauer.
Sie wurden bereits mit fünf eingeschult.
Das war zu früh. Ich war der Kleinste und Schwächste, der, der sich nicht zur Wehr setzen konnte. Hätte man ein Jahr gewartet, würden wir hier wahrscheinlich nicht sitzen. Durch die zu frühe Einschulung ist eine Scheißkindheit entstanden. Ich war ja nicht nur körperlich Spätentwickler, sondern vom Denken her auch. Ich war langsam und bin es immer noch, auch beim Gitarrespielen, Slowhand.
Mit 13 gingen Sie von der Schule ab. Ihre Entscheidung?
Nein. Die Familie musste mich irgendwo lassen, weil alle arbeiteten. Also wurde entschieden, ich werde Dekorateur in einem Schuhgeschäft in Bielefeld. Man muss sich das vorstellen wie in Hänsel und Gretel, wo Vater und Mutter nachts sagen: Was sollen wir bloß mit den Kindern machen? Wir müssen die aussetzen. Bei mir hieß es: Der Junge ist ja zu nichts zu gebrauchen. Den kannst du nicht auf den Bau schicken, dazu ist er zu dünn, zu klein. Und dann träumt er ja nur und ist mit seinem Kopf immer woanders.
Nach sechs Jahren Schuhgeschäft feuerte Sie Ihr Chef wegen »Unfähigkeit, Streitsucht und Musizierens während der Arbeitszeit«.
Ich dachte, ich bleibe mein Leben lang Dekorateur – aber dann habe ich dem Chef im Streit ein Paar Schuhe vor den Wanst geworfen. Auf das anschließende Grafikstudium an der Werkkunstschule brachte mich meine damalige Verlobte, Helga Schmidt aus Bad Oeynhausen. Wenn ich was über mich lese, steht da: Wader ist immer gradlinig seinen Weg gegangen. Nix. Entschieden habe ich nur ganz selten was. Die entscheidenden Dinge sind mir widerfahren. Ich habe keine Willensstärke, ich kann bloß nicht anders.
1963 wechselten Sie an die Hochschule der Künste in Berlin.
Bei Helga ging so ein Gegrummel los, Berlin sei viel doller als Bielefeld. Also bin ich mit. Gelebt habe ich von Straßenmusik. Das blieb unter zehn Mark am Tag, aber das war eine Spitzengage damals. Ich spielte Klarinette oder Gitarre. Da ich zur Untermiete wohnte, bin ich zum Klarinetteüben in den Kleiderschrank gegangen. Das ist ja eine schrille Angelegenheit.
Für welche Musik schlug Ihr Herz?
Ich hatte Georges Brassens entdeckt und sang seine Chansons nach – ohne ein Wort Französisch zu verstehen. Später schrieb ich nach seinem Muster Lieder und schickte das Tonband ans Burg-Waldeck-Festival im Hunsrück. Ich wurde angenommen und trat vor weit mehr als tausend Leuten auf. Dieser Pfingsttag 1966 war das Erweckungserlebnis meines Lebens. Ich fühlte mich plötzlich als Teil einer Bewegung. Es war großartig, nicht mehr der einzelne Spinner zu sein, der meint, er wäre Walther von der Vogelweide junior.
Wie kam Ihr Auftritt an?
Das habe ich missverstanden. Die wollten mich vor Begeisterung nicht runterlassen von der Bühne, aber ich dachte, die wollen mich verarschen. Das gab es damals oft, dass man jemanden angestachelt hat, sich zu produzieren, um sich dann über ihn lustig zu machen. Ich dachte, ich wäre jetzt das Opfer.
Waren Sie 1966 ein politischer Mensch?
Nein. Wenn mich was gar nicht interessiert hat, dann war das Politik.
Hat die Achtundsechziger-Bewegung Sie politisiert?
Nein. Obwohl ich als politischer Liedermacher gelte, habe ich bis heute kein echtes politisches Interesse entwickeln können. Ich sehe das für mich als eine Strafarbeit an, mich mit Politik zu befassen. Baby, don’t
leave me alone: Das ist das Sujet, über das ein Liedermacher ein Lied machen kann. Alles andere sind nur Varianten davon. Ich übertreibe jetzt, aber nicht sehr.
Obwohl Sie tadellose Augen hatten, trugen Sie damals eine Brille.
Damit hatte ich schon an der Werkkunstschule in Bielefeld angefangen. Zu der Zeit gab es Studenten – und Studierende. So nannte man Leute, die kein Abitur hatten, aber trotzdem studierten. Die Brille sollte mich zu einem Studenten machen. Wenn ich in die »Rio-Milchbar« am Jahnplatz ging, habe ich mir dazu noch eine Baskenmütze aufgesetzt und auf die Frage gewartet: Na, was studierst du denn? Die wurde dann auch gestellt.
Wie sah Ihre Brille aus? Modell John Lennon?
Nein. Ich habe mir so eine Arbeitgeber-Brille gekauft, Modell Hanns Martin Schleyer. Ich habe noch andere Experimente mit meinem Habitus gemacht, schwarzer Hut und Cape zum Beispiel. Das waren Maßnahmen der Distinktion. Ich suchte eine eigene Kontur für mich, wollte aber gleichzeitig dazugehören, die Quadratur des Kreises.
Auf Ihrem neuen Album singen Sie von einem Mann, dem vorm Berliner Springer-Hochhaus die Zähne ausgeschlagen werden. Ist das autobiografisch?
Ja. Das war einen Tag nach dem Dutschke-Attentat, wo der Bachmann ihn angeschossen hat. Auch in den Folk-Clubs, in denen ich auftrat, ging dieser Mordversuch wie ein Lauffeuer rum. Als wir mit der U-Bahn in die Kochstraße fuhren, wurden wir von Polizisten mit Tschakos auf dem Kopf in die Zange genommen. Einer von ihnen haute mir mit dem Schlagstock die Schneidezähne weg. Keine gute Sache für einen Sänger.
Hat der Polizeiknüppel Sie zum regelmäßigen Demonstranten gemacht?
Ja. Interesse an Politik war immer noch nicht da, aber ich konnte mich diesem Sog, der gleichzeitig ein Druck war, nicht mehr widersetzen. Alles war neu: sich der Welt kritisch gegenüberzustellen genauso wie unsere Lieder. Es kam vor, dass Leute mich am ganzen Leibe zitternd fragten, warum ich solche Scheißlieder singe, das sei unverzeihlich. Die waren von den Liedern vollkommen überwältigt, der Code lautete aber, sich von Gefühlen nicht erschüttern zu lassen, sondern alles kritisch und nüchtern zu hinterfragen. Deshalb kriegte ich meine Poesie um die Ohren geschlagen. Ich selbst verhielt mich gegenüber anderen genauso. Man vergewaltigte sich freiwillig.
Haben Sie Ihr Studium abgeschlossen?
Nein. Nach dem zweiten Semester war ich fast nur noch nachts unterwegs, die Tage habe ich verpennt. Wenn ich doch mal zur Hochschule ging, habe ich meine Gitarre mit in den Aktsaal genommen. Die anderen haben dann die Mädels abgemalt, und ich habe dazu gesungen.
Im Oktober 1971 wurden Sie in einer Kneipe in Karlsruhe von einer jungen Frau angesprochen, die sich als Hella Utesch vorstellte und behauptete, freie Radiojournalistin beim NDR zu sein. In Wahrheit war es …
Frau Ensslin.
Mitbegründerin der Terrorgruppe RAF und an fünf Bombenanschlägen mit vier Todesopfern beteiligt.
Sie suchte eine Wohnung in Hamburg, und ich hatte eine, weil ich Berlin verlassen wollte. Also gab ich ihr die Schlüssel.
Sie gaben einer Frau, die Sie gerade erst kennengelernt hatten, Ihren Wohnungsschlüssel?
Das war vollkommen selbstverständlich. Es war cool, jeden bei sich pennen zu lassen, ohne Fragen zu stellen. Für solche Augenblicke im Leben habe ich gesungen, nicht um die Welt zu verändern.
Gudrun Ensslin machte aus Ihrer Wohnung ein Waffen- und Sprengstoffdepot. Als die Polizei das Versteck entdeckte, wurden Sie nach einem Konzert auf offener Straße verhaftet. Die Staatsanwaltschaft ermittelte gegen Sie wegen Unterstützung einer kriminellen Vereinigung.
Meine Verhaftung wurde in der Tagesschau gesendet. Man schob mir eine Kanone in den Bauch und drehte meine Arme auf den Rücken. Bei meiner Mutter tauchten Kriminalbeamte auf, die wissen wollten, ob ich seltsamen Umgang habe. Sie sagte: »Meine Herren, mein Sohn ist nicht homosexuell!« Das Verfahren gegen mich wurde erst nach fünf Jahren eingestellt. Man observierte mich, mein Telefon wurde mit einer Wanze abgehört, Österreich verhängte ein Einreiseverbot, und die rechten Medien boykottierten mich.
Gehörten Sie zu jenen, die klammheimliche Freude empfanden, wenn die RAF Repräsentanten des Staates wie den Generalbundesanwalt Siegfried Buback ermordete?
Freude habe ich dabei nicht empfunden, klammheimliche Sympathie vielleicht. Könnte sein, dass ich zum Sympathisantensumpf gehörte, wie das damals hieß. Rückblickend nehme ich mir das übel. Es beschämt mich. Die Aufarbeitung der Baader-Meinhof-Scheiße habe ich nicht verfolgt. Ich bin nicht dran interessiert. Ich möchte das verdrängen.
»Weil ich im Denken und Fühlen ein Chaot bin, tat es gut, nur eine Wahrheit zu haben.«
Wader im Bergpark Wilhelmshöhe in Kassel. Nicht weit entfernt lebt er mit seiner Frau.
Fingen Sie in den Jahren nach Ihrer Verhaftung mit dem Trinken und achtzig Gitanes am Tag an?
Das mit dem Trinken hat überhaupt nicht angefangen, ich hatte immer schon gesoffen. Rückblickend würde ich mich als Alkoho-liker sehen, aber damals sagten die Club-betreiber: »Zwanzig Mark Gage und frei saufen.« Mein Freund Reinhard Mey hat gar keinen Alkohol getrunken und sich lieber besser bezahlen lassen. Er hatte ein Auto, ich nicht. Deshalb konnte ich ständig unter Wasser sein.
Obwohl Politik für Sie Strafarbeit ist, traten Sie 1977 in die DKP ein. Warum?
Das war lebensrettend für mich. Einerseits wurde ich verfolgt und boykottiert, andererseits verkauften sich meine Platten plötzlich wie wahnsinnig, und ich trat in der Berliner Philharmonie auf. Das hat mich innerlich zerrissen. Ich war berühmt, allein und hatte alle Freiheiten – und das bekam mir nicht. Ich dachte, wer auf der Bühne steht, ist automatisch eine politische Figur. Weil ich mich irgendwo dran halten wollte, las ich das Kommunistische Manifest von Marx und Engels. Das hat mich umgehauen. Tut es heute noch.
Kam die DKP zu Ihnen oder Sie zur DKP?
Das hat sich ergeben. Plötzlich stand einer auf der Matte, und das kam gerade richtig. Ich wollte irgendwo dazugehören und etwas vertreten. Man sendet wohl irgendwie Signale aus, wenn man für etwas eine Bereitschaft hat. Das merke ich auch auf der Bühne. Wenn ich schlecht drauf bin, behandeln mich die Leute wie Scheiße. Wenn ich selbstbewusst auftrete, fallen sie auf die Knie.
Was taten Sie für die Partei?
Ich habe morgens um sieben Streiklieder vor Werktoren gesungen. Das hat mir eine Zeitlang sehr gut gefallen. Endlich hatte ich einen Ort.
Wie reagierten Ihre Fans auf Ihr Parteibuch?
Man zerbrach meine Platten und schickte mir die Scherben nach Hause. Die sollte ich mir in meinen miesen Kommunistenarsch stecken. Andere schickten tränenverwischte Briefe, ich hätte sie verraten.
Sie sind erst 1991 aus der DKP ausgetreten. Diese fast 15 Jahre Treue sind schwer zu verstehen.
Ich war schon vor der Wende am Abdriften, weil ich in Moskau alptraumhafte Dinge erlebt hatte. Mein Glauben war kontaminiert, aber ich wollte aus meinem Parteiaustritt kein Spektakel machen nach dem Motto, jetzt plötzlich sehe ich ein, dass alles falsch war. Mir hat es nie gefallen, wenn Leute mit Pauken und Trompeten die Seiten wechseln.
Was haben Sie in Moskau erlebt?
Wegen einer Intrige galt ich plötzlich als Dissident und Klassenfeind, der im Westen antikommunistische Propaganda macht. Es hieß: Wader isolieren! Entsprechend wurde ich behandelt. Ich habe mich dann auch noch selbst beschimpft, dass ich als beschissen verwöhnter Kapitalisten-Promi eben nicht über den nötigen Klassenstandpunkt verfüge und deshalb so beleidigt reagiere.
Was ersetzt Ihnen heute die DKP?
Ich habe keinen Ersatz. Ich bin, was ich vorher war. Es gab ja viele Linke, die nicht in einer Organisation gebunden waren. Das waren die freischwebenden Arschlöcher. Jetzt bin ich wieder ein freischwebendes Arschloch und mit meinen Zweifeln allein.
Ihr Freund Konstantin Wecker sagte mal zu Ihnen: »So wie ich mein Kokain hatte, hattest du die DKP.«
Da liegt er nicht falsch. Ich hatte meine Gewissheiten, wenn sie auch eingebildet waren. Weil ich im Denken und Fühlen ein Chaot bin, tat es gut, nur eine Wahrheit zu haben.
Wann begannen Ihre Zweifel?
Mit Tschernobyl. Ich dachte, sozialistische Kernkraftwerke sind für den Menschen, kapitalistische für den Profit. Und deshalb sind sozialistische Kernkraftwerke richtig. Und dann kam Tschernobyl – Feierabend!
Ihr Parteibuch brachte Ihnen zum zweiten Mal Boykotte ein.
Ich stellte erleichtert fest, dass meine Einkünfte um sechzig Prozent zurückgingen. Geld war für mich bähbäh. Damit wollte ich nichts zu tun haben. Es war natürlich toll, welches zu kriegen, aber das habe ich dann schnell wieder ausgegeben.
Mehr noch, Sie lebten auf Pump. Wie kriegten Sie es hin, 1,5 Millionen Mark Schulden bei Ihrer Bank zu haben?
Kann ich Ihnen auch nicht genau sagen, ich hatte sie jedenfalls. Erst mal habe ich mir über Jahre nie meinen Kontostand angeguckt. Und dann habe ich mir eine Mühle in Nordfriesland gekauft und umbauen lassen. Dem Architekten habe ich freie Hand gelassen. Dann wurde mir das Nachbarhaus angeboten. Musste auch umgebaut werden. Die Scheune habe ich auch noch zum Wohnhaus umgebaut, mit neuem Reetdach und Sauna und allem möglichen Drum und Dran. Ich hatte so eine Ensemble-Vorstellung, weil ich immer viel Besuch hatte. Dann habe ich auch noch ein Stück Land dazugekauft und was dazugehörte. Das läpperte sich.
Hatten Sie einen Berater?
Mein Manager kam aus der Arbeiterklasse wie ich. Der war vorher Bademeister gewesen. Dem habe ich vierzig Prozent gezahlt. Vierzig Prozent von wie viel wollte ich nicht wissen.
Wollte die DKP Spenden von Ihnen?
Ja, habe ich natürlich gemacht. Ich wollte ja kein Geld mehr haben.
Champagner? Frauen? Sportwagen?
Nein, das verbot mir meine Einstellung. Allerdings habe ich schon mal in der Bunten geblättert und die Menschen beneidet, die vierzig Kilometer weiter auf Sylt sitzen. Die lassen es sich gut gehen, und wenn du das machst, gibt es Klassenkeile.
In Ihrem Lied Wo ich herkomme heißt es: »Niedere Abkunft saugt sich an dir fest wie feuchter Lehm / Zieht alles runter, was nach oben will, und außerdem / Lastet auf der Unterschicht, dem Bodensatz der Welt / Das ganze Gewicht der Oberschicht.« Spüren Sie Neid auf Menschen, die mit einem goldenen Löffel im Mund geboren wurden?
Ja, das muss ich sagen. Nicht auf den Reichtum der Oberschichtler, sondern auf das selbstverständliche Bewusstsein der Höherwertigkeit und die Überzeugung, dass ihnen zukommt, was sie sind und haben. Ich denke, mir kommt es immer noch nicht zu, dass zwei Redakteure des SZ-Magazins hier sitzen und mich interviewen. Das kriege ich nicht richtig zusammen. Um mich mal selbst zu zitieren: »Deine Herkunft bleibt dir immer an den Hacken kleben / Irgendwas, irgendwer – und wenn du selbst es bist / Wird schon dafür sorgen, dass du es niemals vergisst.« Für Oberschichtler gilt das nicht. Die haben über sich nur den lieben Gott und dessen Handynummer auf Kurzwahltaste.
Über Ihren Liedern liegt eine große Schwere und Untröstlichkeit. Mit Ihrer proletarischen Herkunft ist das nicht zu erklären.
Ich bin kein heiterer Typ. Darüber unterhalte ich mich öfter mit meiner Frau. Wir sind beide Trauerklöße, sage ich jetzt mal so. Meine Frau hat ja auch nicht umsonst den Beruf der Psychologin ergriffen. Sie will sich da über etwas klar werden.
Ihre Frau, 18 Jahre jünger als Sie, ist auf Traumatherapie spezialisiert.
In ihrer Erinnerung gibt es keine traumatischen Erlebnisse. Ich kann auch bei mir nicht sagen, woher die Schwermut kommt.
Sie schließen beim Singen nie die Augen.
Da kommt das Vertrauen ins Spiel, Vertrauen zum Publikum. Das hatte ich nie. Die meisten meiner Kollegen haben das in sehr ausgeprägter Form. Darum beneide ich sie sehr. Herman van Veen oder Konstantin Wecker sind Stagediving-Existenzen. Ich habe mal gesehen, wie Campino von den Toten Hosen mit geschlossenen Augen Stagediving gemacht hat. Ich würde mich lieber aufhängen.
Erleben Sie nie narzisstischen Selbstgenuss auf der Bühne?
Es gibt tatsächlich diese Momente, wo ich denke, ja, es geht auf. Aber das sind nur Augenblicke. Bei anderen dauern die an. Konstantin macht zweieinhalb Stunden Programm, und dann gibt er vier Stunden Zugabe. Er mag die Position seines Triumphes nicht verlassen. Ich muss immer auf mich einreden, dass die Zuschauer doch nicht deshalb Eintritt bezahlt haben, um mich mal richtig hassen zu können. Hannes, sage ich mir dann, man kann auch lernen, was zu mögen, sogar sich selber.
Wie reagieren Sie auf Standing Ovations?
Ich gehe in Habachtstellung. Das ungetrübte Entgegennehmen einer Ovation fällt mir schwer. In letzter Zeit kann ich manchmal zulassen, angenommen zu sein, aber im Grunde denke ich immer noch, dass die Leute nur deshalb aufstehen, weil sie schon so lange gesessen haben.
Das nennt man Daseinspessimismus.
Ich würde nicht aufstehen und mir applaudieren. Bei Kollegen mache ich das, zwar nicht als Erster, aber ich mache es. Wenn die Leute bei mir stehend applaudieren, denke ich: Machen sie das bei jedem? Dann ist es ja inflationär. Unterm Strich habe ich auf der Bühne eigentlich überhaupt nichts verloren.
Fotos: Ramon Haindl