Späte Bekehrung

Mehr als zwanzig Jahre lang war John J. Smid der Chefideologe einer Anti-Schwulen-Bewegung in den USA. Seine Überzeugung war lange: Schwulsein ist Sünde und kann therapiert werden. Jetzt hat er einen Mann geheiratet.

John J. Smid (rechts) und sein Ehemann Larry im Wohnzimmer ihres Bungalows in Paris, Texas.

Fast ein ganzes Leben der Lüge liegt hinter John J. Smid, als Chuck Breckenridge, Pastor der Diversity Christian Fellowship von Tulsa, Oklahoma, am 16. November 2014 um 14 Uhr offiziell absegnet und amtlich macht, was er und Larry sich vor einem Jahr versprachen: dass sie sich lieben und achten wollen, im Licht wie im Schatten, an guten wie an schlechten Tagen, so lange ihre Liebe sie tragen würde.

Keine zwanzig Minuten dauert die Trauung. Ein befreundetes Heteropaar macht die Trauzeugen, Johns Nichte schießt ein paar Fotos, draußen fällt der erste Schnee. Vermählt haben sie sich schon ein Jahr zuvor, bei einer privaten Zeremonie. Es gab ein Abendmahl, und Larry und John wuschen sich gegenseitig die Füße, so wie Jesus seinen Jüngern die Füße wusch, um ihnen zu zeigen, dass er zum Dienen bereit sei. Sogar eine Hochzeitstorte gab es.

Meistgelesen diese Woche:

Doch sie wollten noch ein Zeichen setzen. Lange mussten sie nach einer Kirche suchen, die auch rechtlich gültige Homo-Ehen schloss. Im konservativen Texas, wo sie beide leben, ist die gleichgeschlechtliche Ehe zwar nicht mehr verboten, die Legalisierung aber noch nicht rechtskräftig. Die Flüge nach Kalifornien, wo sie seit Kurzem erlaubt ist, waren fast gebucht, da zog Oklahoma nach. Nach Tulsa sind es nur drei Autostunden. Es ist Johns dritte Ehe, aber keine hat sich so richtig angefühlt wie diese, was daran liegt, dass er zuvor mit Frauen verheiratet gewesen ist.

Jetzt sitzt Smid in der Küche ihres gemeinsamen Bungalows in Brookston, zwölf Meilen westlich von Paris, Texas. Schaut er aus dem Fenster, blickt er auf Prärie und grasende Rinder. Manchmal treibt der Wind Tumbleweed-Büsche über die braunen Wiesen. »Ich wollte keine Zeit mehr verlieren. Wie viele gute Jahre habe ich wohl noch in mir?«, fragt er in die Stille hinein. »Zwanzig? Zehn?« Kürzlich wurde er sechzig, sein Kinnbart ist schon lange weiß. Dank seines durchtrainierten Körpers wirkt er trotzdem jünger.

Er ist jetzt Hausmann, kümmert sich um den Garten und den Haushalt, während Larry das Geld heimbringt. Manchmal kann es John Smid immer noch nicht glauben. Jesus Christus, vor ein paar Jahren noch hätte er all das als Teufelswerk verdammt, denn in seinem früheren Leben dachte er ganz anders über Schwule, obwohl er selber einer war. Sie erschienen ihm als Verirrte, die vom göttlichen Pfad abgekommen waren. Ja, es gab eine Zeit in seinem Leben, da predigte er, Schwule könne man heilen. Aber verirrt, das war er selbst.

Mehr als zwanzig Jahre lang war John Smid Chef von Love In Action, einer kleinen, aber einflussreichen Kirchenorganisation in Memphis, Tennessee, die vorgab, Homosexualität therapieren zu können. Mit dubiosen Jugendprogrammen, kruden Regeln und einem straffen Regime. Seine Schützlinge sollten keine Unterwäsche von Calvin Klein, keine Mode von Abercrombie & Fitch tragen. Sie sollten maskuline Stereotypen einüben (Ölwechsel, Football, Türaufhalten) und den Kontakt zu den Eltern abbrechen. Schwule, das glaubte Smid wirklich, können durch harte Arbeit an sich selbst von ihren Neigungen befreit werden. Heute sagt er: »Ich muss damit leben, meine besten Jahre an eine falsche Idee verschwendet zu haben. Ich habe viele verletzt. Aber das Leben ist eine einmalige Reise. Man kann sie nicht noch einmal antreten.«

John Smids lange Reise zu sich selbst ist eine Geschichte, wie sie vielleicht nur der evangelikale Bible Belt Amerikas hervorbringt. Eine Abfolge aus Erweckungserlebnissen und göttlichen Zeichen. Sie erzählt von Verblendung und Selbstverleugnung, aber auch von Versöhnung und Glück. Sie beginnt im katholisch geprägten Nebraska der Fünfzigerjahre, wo Smid in den Suburbs von Omaha aufwächst. Vor der Garage steht ein rotes 53er Oldsmobile. Johns Vater Norman, Briefträger, ist ein gottesfürchtiger Mann. Dem Sohn schärft er ein: »Jesus starb für unsere Sünden, vergiss das nie!« Der Satz frisst sich wie Rost durch Smids Leben. Die Ehe der Eltern geht nicht gut. Als John zehn ist, lässt seine Mutter Vera sich scheiden, sie heiratet einen anderen. Sein Vater lebt fortan im Zölibat als gebrochener Mann. Erst vierzig Jahre später sollte er noch einmal heiraten, acht Jahre vor seinem Tod.

John ist 19, als er 1974 seine erste Freundin hat. Er ist ein verschlossener Junge, ein Spätzünder, seine Sexualität nur eine Ahnung, die er nicht versteht. Als er kurze Zeit später heiratet, ist er noch Jungfrau. Die Ehe erscheint ihm als Hafen der Sicherheit. Vor dem wilden Leben da draußen, vor sich selbst und seinen verwirrenden Gefühlen. Er muss jetzt nur noch funktionieren.

Nach zwei Jahren hat er zwei Töchter. Er liebt das Vatersein, doch immer öfter spürt er auch diese Leere und die Sehnsucht: wie ein Phantomschmerz. Doch erst vier Jahre später offenbart er sich einem Kollegen, sie unterhalten sich lange, trinken ein paar Bier – und dann passiert es. John J. Smid ist 25, als er zum ersten Mal mit einem Mann schläft.»Es stellte mein ganzes Leben in Frage«, sagt er heute. »Ich habe zum ersten Mal den Unterschied gemerkt.«

Der Vater bricht in Tränen aus, als sein Sohn ihm sagt, er sei schwul und wolle die Scheidung. »Tu das nicht, mein Junge, es bringt nur Unglück«, sagt er und wird noch unglücklicher, als er schon war. Doch John verlässt seine Familie, geht mit Männern aus, zieht in ein Schwulenviertel. Es lässt sich fallen in den Lebenstil der Schwulenszene, die Anfang der Achtziger auch im kreuzbraven Omaha floriert. Keine festen Bindungen, keine familiäre Verantwortung. Seine kleinen Töchter sieht er noch, aber sie passen nicht mehr recht in sein neues Leben. Sex hat Smid jetzt oft. Was er nicht hat, ist Seelenfrieden.

Warum bleibt niemand bei ihm? Warum endet alles immer im Drama? Was stimmt nicht mit ihm? Im Radio hört er von Love In Action. Die Liebe von Mann zu Mann sei falsch verstandene Schwärmerei, heißt es in der Sendung. Ungesund und unangemessen sei sie und werde in Verdammnis münden. Niemand, der glaube, er sei schwul, müsse das bleiben. Ja, verrückt höre sich das an, sagt Smid. »Aber damals kam es mir wie die Lösung all meiner Probleme vor.«

Er zieht nach San Rafael, Kalifornien, wo Love In Action damals residiert, taucht ab in die Welt aus Gut und Böse und steigt schnell auf. 1990 bietet man ihm die Leitung der Organisation an. Er wird auch Vorstandsmitglied bei Exodus International, einer Art Dachverband der christlichen Homosexuellenbekehrer.

Fragt man ihn heute, wie es sein kann, dass ein offen Schwuler, der seine Familie aufgab, binnen weniger Jahre zum Fackelträger der »Anti-Schwulen-Bewegung« in Amerika aufsteigen konnte, zuckt er nur mit den breiten Schultern: »Ich fühlte mich angenommen, so nahe bei Gott, so frei von Sünde.« 1988 heiratet er wieder eine Frau: Vileen. »Ich war wie auf Autopilot«, sagt Smid. Auch, was den Sex betrifft. Fromme Männer würden ihren Mann stehen, sagt Vileen, zu einer gesunden Ehe gehöre gesunder Sex. John spürt die Bringschuld. Was er nicht spürt, ist Lust. Doch Zweifel kann er sich nicht mehr leisten.

John Smid sagt auch heute noch, dass nicht alles schlecht war, dass man etwas aus den Programmen ziehen konnte, Familienwerte, Seelsorge. Er erzählt von Schwulen, die fortan im Zölibat lebten oder eine Familie gründeten wie er – und damit zufrieden waren. Was er in den ganzen 22 Jahren nicht erlebte, war ein Schwuler, der nach einer Behandlung bei Love In Action nicht mehr schwul war. Die meisten seiner Schützlinge, sagt Smid, verließen die Einrichtung, um wieder als Homosexuelle zu leben.

Davon aber lässt er sich damals nicht beirren. Auch nicht von den Wissenschaftlern und Psychologen, die seine Lehre für gefährlich halten und ihr jede wissenschaftliche Grundlage absprechen. Nicht einmal von einstigen Mitstreitern, die vom Glauben abgefallen sind. 1993 berichtet das Wall Street Journal über John Evans, einen der Gründer von Love In Action, der ausgestiegen ist und die »Ex-Gay-Bewegung« öffentlich anklagt. Man zerstöre dort Leben, muss Smid lesen, es sei eine Fantasiewelt. »Ich begriff nicht, dass es unsere vermeintliche Hilfe war, die Menschen kaputt machen konnte.« Für ihn ist Evans damals nur einer mehr, der vom Weg abkam. Er ist blind vor Eifer. Einem seiner zweifelnden Kursteilnehmer rät er, lieber Selbstmord zu begehen als schwul zu leben. 1994 verlagert Love In Action seinen Sitz nach Memphis, Tennessee, in den christlich-konservativen Süden der USA.

Der Wind beginnt sich 2005 zu drehen, als der MySpace-Blog eines 16-Jährigen für Aufregung sorgt. Zach Stark berichtet darin von den Plänen seiner Eltern, ihn in ein Reformcamp von Love In Action zu schicken. Von seiner Verzweiflung, seiner Angst. Es kommt zu Demonstrationen vor dem Gebäude, jeden Tag, sechs Wochen lang. Die Medien springen darauf an. Smid muss nun unangenehme Fragen beantworten. Mehrmals trifft er sich mit dem Schwulenaktivisten Morgan J. Fox, der die Proteste angeführt hat. Und der kommt ihm weder böse noch leidend oder lebensuntüchtig vor. Er mag ihn. Ein bisschen bewundert er ihn sogar: ein Schwuler ohne Selbsthass und Schuldgefühle.

Doch es ist nicht Einsicht, die Smid 2008 von seinem Posten zurücktreten lässt, sondern ein verlorener Machtkampf innerhalb seiner Führungsriege. Er geht als ein Verstoßener, ohne Ahnung, was die Zukunft bringen würde, heim zu seiner Frau, die er nicht liebt, und wartet auf ein Zeichen. »Ich legte mein Schicksal einmal mehr in die Hände des Herrn und sagte: Gott, überrasche mich!«

Ausgebrannt fühlt er sich, ohne Richtung. Er, der Orientierungslose, gründet Grace Rivers, einen Beratungsblog für schwule Christen. Sein Schwulsein hat er sich längst wieder eingestanden. Das Zeichen kommt, als er 2010 die Gay Christian Network Conference in Nashville, Tennessee besucht, einen jährlichen Kirchentag für Homosexuelle.

Er trifft dort glückliche Transsexuelle, erfolgreiche Schwule, Priesterinnen, Menschen, die er bis vor Kurzem verdammte, und muss lernen, dass man die Bibelstellen, die er jahrelang zitierte, um Schwule zu diskreditieren, auch anders auslegen kann. Gott hat nichts gegen Schwule: Diese Erkenntnis breitet sich in seinem Bewusstsein aus wie eine Erlösung. Ein Jahr später ist er wieder dort und trifft Larry.

Larry ist acht Jahre jünger als er und einen Kopf größer. Auch er trägt einen graumelierten Bart an Kinn und Oberlippe. Sie essen und beten zusammen, diskutieren Bibelverse. Als John vom Geräteschuppen erzählt, den er zu Hause bauen will, bietet Larry seine Hilfe an. Sie arbeiten das ganze Wochenende. Larry liest die Baupläne, John sägt und hämmert. Muskeln, die sich spannen, Blicke, die sich kreuzen. Vileen ist Besuch von Männern, meist Kollegen, gewohnt. Sie hegt keinen Verdacht. Als der Schuppen fertig ist und Larry Abschied nimmt, weiß John, dass er verliebt ist.

Natürlich sehen sie sich wieder. Diesmal bei Larry, in dessen Bungalow in Paris. Er ist keine fünf Minuten im Haus, da schaut John in Larrys Küchenschränke, als könnte sich darin ein neues Leben verstecken. Sie müssen beide lachen, fühlen sich ertappt. Wieder arbeiten sie im Garten. Dann nimmt Larry seinen ganzen Mut zusammen und küsst John. Es ist der erste Kuss in seinem Leben. Immer war er Single, hat ein Leben für Gott geführt, zwei Master und einen Doktor in Religionswissenschaften gemacht, sich zum technischen Abteilungsleiter einer Stahlfabrik hochgearbeitet und fast jeden Tag bei seinen Eltern zu Abend gegessen. Ein paar Mal war er mit Frauen aus, doch eingeschlafen ist er immer allein. Sie haben keinen Sex an diesem Wochenende, und doch ist nichts mehr wie zuvor.

»Ich verstehe es nicht. Ich verstehe es einfach nicht«, sagt Vileen immer wieder, als John ihr kurz darauf eröffnet, dass er die Scheidung will. Aber was gibt es da nicht zu verstehen? Endlich hat er einen Grund, sein falsches Leben hinter sich zu lassen. Kurz vor Weihnachten 2012 verlässt er seine Frau nach 23 Jahren Ehe.

John und Larry führen nun eine Fernbeziehung, sechs Autostunden. Sie entdecken FaceTime für sich. Wenn John abends in seinem Apartment kocht, baut er sein Computer-Tablet auf dem Küchentresen auf, um Larrys Gesellschaft zu haben. Larry nimmt sein Tablet mit ins Bad, wenn er sich rasiert. Einmal, Larry ist zum Essen da, bricht das Gespräch ab. Ins Schweigen fragt John: »Woran denkst du, Larry?« Larry schaut ihm lange in die Augen. »Wie wär’s, wenn du zu mir ziehst, John?« Natürlich will er.

Larry beginnt, sich zu outen, bei seinen Freunden, bei seinen Kollegen. Warum noch Versteck spielen? Sie renovieren das Haus, streichen die Wände neu. Larry geht ins Stahlwerk, John macht den Haushalt, jobbt nebenbei in einem Theaterlager und restauriert alte Möbel. Für seine Vergangenheit hat er sich mittlerweile mehrfach öffentlich entschuldigt. Seine Reue wirkt echt. Zweimal im Monat gehen sie in die örtliche Kirche. Es ist eine kleine Kongregation der evangelischen Christian Church, vielleicht siebzig Gläubige. Ältere Leute, bibelfest. Aber als der Pastor zwei Wochen nach ihrer Hochzeit beim Gottesdienst unerwartet ihre Trauung verkündet, da stehen sie alle auf, nacheinander. Und klatschen.

Zu seinen beiden Töchtern aus erster Ehe hat John Smid wieder Kontakt. Wie sich herausstellte, können sie sehr gut mit einem schwulen Vater leben. Was sie nicht ertrugen, war die Fassade. »Dad«, hat die Ältere neulich gesagt, »ich bin froh, dass du endlich erkennst, dass das, was du heilen wolltest, nicht geheilt zu werden braucht.«

Foto: Brandon Thibodeaux