»Irgendwann fühlte ich mich ihr verbunden«

Der Amerikanerin Jessamyn Lovell wird der Ausweis gestohlen. Dann begeht die Diebin in ihrem Namen Verbrechen. Lovell verfolgt die Diebin, fotografiert sie - und macht daraus ein ungewöhnliches Kunstprojekt.

Zwei Jahre lang flog ich alle drei Monate von New Mexico nach San Francisco und fotografierte die Plätze, an denen sie gesehen worden war. Ich lief durch die Straßen und suchte sie. Jedesmal, wenn ich um eine Ecke bog, dachte ich: Das könnte sie sein! Oder die! Ich muss wie eine Verrückte gewirkt haben. Dabei dokumentierte ich nur mein Leben. Und dazu gehörte diese Frau. Ich habe sie fotografiert, weil ich meinen Frieden mit ihr schließen musste.

Im Januar 2011 rief mich ein Polizeiinspektor aus San Francisco an und fragte, ob ich Erin Hart erlaubt hätte, meinen Ausweis zu benutzen. Ich sagte Nein und dachte: Wem? Ich hatte vergessen, dass mir mein Portemonnaie geklaut worden war, in San Francisco, in einer Galerie, in der ich meine Arbeiten ausstellte. Ich ging damals zur Polizei, erstattete Anzeige. Es war lästig. Aber ich war gerade nach New Mexico gezogen und brauchte sowieso neue Papiere. Dass man die alten löschen lassen muss, wusste ich nicht.

Erin Hart sei im Gefängnis, sagte nun der Polizeiinspektor, weil sie versucht habe, mit meinem Ausweis in ein nobles Hotel einzuchecken, das »Vitale« in San Francisco. Sie habe ihr gesamtes Hab und Gut dabeigehabt, erzählte mir die Hotelmanagerin später. Auch einen Katzenkorb, in dem eine gepflegte Langhaarkatze saß. Erin Hart habe verstört gewirkt, meinen Namen kaum aussprechen können, deshalb hatte die Hotelmanagerin Verdacht geschöpft und die Polizei gerufen, während Erin Hart weiter behauptete, sie wäre ich. Jede andere wäre schnellstens verschwunden. Aber sie insistierte.

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Eine Woche später bekam ich Briefe. Rechnungen. Angeblich hatte ich am Flughafen von San Francisco ein Auto angemietet. Das war gar nicht so abwegig, ich war ja in San Francisco gewesen. Ich kam durcheinander. Die Briefe waren an mich adressiert, mein Name, meine Adresse, mein Geburtsdatum, das war unheimlich. Es kamen immer mehr Briefe und E-Mails, Hunderte. Angeblich hatte ich Maut hinterzogen, Autos beschädigt, falsch geparkt, geklaut.

Rief ich die Absender an und fragte, was genau mir vorgeworfen werde, reagierten alle gleich. Sie sagten: Sie müssen doch wissen, was Sie getan haben! Dann bekam ich eine Vorladung vom Gericht in Alameda County, Bundesstaat Kalifornien. In dem Schreiben stand nicht, welches Verbrechen ich begangen haben sollte. Aber, wurde mir gedroht, sollte ich nicht erscheinen, würden sie mich einsperren. Natürlich war mir inzwischen klar, dass Erin Hart diese Briefe und Rechnungen zu verantworten hatte. Ich rief beim Gericht an, und der Beamte sagte: Was fragen Sie, Sie waren doch dabei, als Sie verhaftet wurden! Ich antwortete: Verhaftet? Nein, nein, prüfen Sie meine Akte! Ich war nie im Gefängnis.

Es half nichts. Ich buchte einen einfachen Flug – ich wusste ja nicht, ob sie mich festnehmen würden – und erschien am 15. April 2011 vor Gericht. Sie nahmen meine Fingerabdrücke, die nicht mit denen übereinstimmten, die sie von der Täterin genommen hatten: Erin Hart. Sie klagten mich nicht an. Dass ich vorgeladen wurde, steht immer noch in meiner Akte. Ich sollte sie endlich löschen lassen. Weil ich es nicht gewesen war, erfuhr ich nie, was ich getan haben sollte.

Obwohl meine Unschuld bewiesen war, hatte ich Angst. Diese Frau war verrückt. Ihretwegen hatte ich drei Stunden in einem Flugzeug gesessen, um mich einem Gericht zu stellen für etwas, was ich nicht getan hatte. Ich war wütend – aber auch neugierig: Ich wollte sie finden, sehen, wer sie war. Also blieb ich fünf Tage, suchte einen Privatdetektiv und fand Pete Siragusa, einen pensionierten Polizisten aus San Francisco. Erfahrener Typ. Ich hatte ein gutes Gefühl, als ich ihn traf. Er wollte zunächst kein Geld und gab mir Tipps, wie ich Erin Hart finden könnte.

Ich fand sie nicht. Stattdessen lief ich durch die Straßen, fotografierte Orte, an denen sie gesehen worden war, und suchte Zeugen. Kennen Sie Erin Hart?, fragte ich die Leute. Ein paar kannten sie tatsächlich. Ehemalige Vermieter. Oder die Hotelmanagerin, die die Polizei gerufen hatte. Jeder beschrieb Erin Hart als haltlos. Als jemanden, der einsam ist und keine Beziehungen pflegt. Außer zu dieser Katze. Als sie aus dem Gefängnis entlassen wurde, ging sie zurück zum Hotel und fragte nach ihr. Aber die Hotelmanagerin hatte sie ins Tierheim gegeben.

Während ich diese Plätze ablief, versuchte ich mir ihr Leben vorzustellen. Sie war immer wieder obdachlos, und mir wurde klar: Diese Frau war eine Betrügerin, aber sie versuchte bloß zu überleben. Irgendwann fühlte ich mich ihr verbunden. Zwei Frauen ähnlichen Alters aus armen Verhältnissen. Ich war auf dem College, habe meinen Weg gemacht, aber ich kämpfe immer noch darum, zur Mittelschicht zu gehören. Ich weiß, wie es sich anfühlt, wenn man sich nach schönen Dingen sehnt. Etwa danach, in einem noblen Hotel zu wohnen.

Doch Erin Hart interessierte nicht, was sie mit ihrem Verhalten bewirkte, das unterscheidet uns. Und je länger ich sie verfolgte, desto stärker wurde mein Wunsch, sie zu treffen. Ich wollte, dass sie begreift, dass ich eine Person bin. Ich war verletzt, weil sie meine Identität benutzte, und ihr bedeutete es nichts. Ich war für sie bloß ein Mittel zum Zweck. Aber für mich ist meine Identität alles: Ich habe hart gearbeitet, um die zu werden, die ich bin.

Indem ich ihre Spuren fotografierte, wurde Erin Hart Teil meiner Arbeit und meines Lebens. Dass ich sie suchte, war wichtig für mich. Auf ähnliche Weise hatte ich mich meinem Vater genähert, bevor er starb. Fast drei Jahre folgte ich ihm durch Kalifornien und fotografierte ihn aus der Ferne. Er hat mich als Kind traumatisiert, hat uns als Fa-milie zurückgelassen, obdachlos, verarmt. Ich war wütend auf ihn, ich wollte mir etwas zurücknehmen. Und gleich-zeitig war da diese Neugier. Ich sprach ihn nie an, ich wollte keine Beziehung zu ihm aufbauen, sondern innerlich Frieden mit ihm schließen.

So wie mit Erin Hart. Ich wollte mich nicht an ihr rächen, sie nicht bestrafen oder der Welt zeigen: Schaut mal, ich habe sie geschnappt! Ich wollte mit ihr sprechen. Im Januar 2013 rief ich Pete Siragusa an und bat ihn, sie für mich zu suchen. Ich zahlte viel Geld. Er fand sie im Gefängnis und wusste sogar, wann sie entlassen werden würde: am 21. März 2013.

Ich flog nach San Francisco. Zusammen mit dem Privatdetektiv und zwei weiteren Männern wartete ich an der Pforte. Sie kam tatsächlich. Sie sah nicht besonders gut aus, schmal, wirre Haare. Zehn Monate hatte sie gesessen. Wir folgten ihr quer durch die Stadt, benutzten lange Objektive und blieben immer zwei, drei Straßenblöcke hinter ihr. Am Ende verloren wir sie. Ich weiß nicht, ob das ihre Absicht war. Ein Jahr später flog ich wieder hin und spürte sie erneut auf. Ich war wirklich dicht an ihr dran. Während ich auf sie zuging, bekam ich Angst, sie könnte mich angreifen. Ich war nur noch einen halben Meter von ihr entfernt, da hob sie etwas auf, drehte sich um und rannte um die Ecke.

Manchmal habe ich das Gefühl, ich müsste Erin Hart schützen. So wie die Polizei, die nichts über sie verraten wollte. Im Prinzip finde ich das richtig. Aber sie hat mich nicht um Erlaubnis gebeten, meine Identität benutzen zu dürfen. Und so habe ich auch nicht das Gefühl, ich müsste sie fragen, ob ich ihre preisgeben darf. Ich habe ihren Namen veröffentlicht, weil ich es konnte. Das war mein Privileg als Künstlerin, und ich bereue es nicht, auch wenn mich die Aufmerksamkeit überrascht, die meine Arbeit bekommen hat. Aus aller Welt rufen Leute an, schicken Mails, möchten die Fotos veröffentlichen. Und wenn man Erin Hart googelt, taucht mein Name auf. Wir sind miteinander verbunden.

Im Dezember versuchte ich ein letztes Mal, sie zu treffen. Ich wandte mich an den Bewährungshelfer. Vergebens. Erin Hart war obdachlos, nicht zu erreichen. Ich hatte ihr einen langen Brief geschrieben, er begann mit: »Dear Erin Hart«. Das ist auch der Titel meiner Arbeit, mit der ich mich an diese Frau wende, die behauptet hat, sie wäre ich. Ich erklärte in dem Brief, wer ich bin, was ich gemacht habe und warum. Ob sie damit einverstanden sei, mich zu treffen, in einem Café oder wo immer sie sich wohl fühlen würde, um mir ihre Version der Geschichte zu erzählen? Da ich ihn nicht überreichen konnte, fasste ich den Brief in einer Mail zusammen, die ich dem Bewährungshelfer schickte. Sie hat diese Mail bekommen, auch meine Handynummer. Sie kann mich jederzeit anrufen. Ich glaube nicht, dass sie das tun wird.

Fotos: Jessamyn Lovell