Dann hatte sie wieder einen Anfall

Ist ein Kind schwerbehindert, werden seine Geschwister oft vernachlässigt. Unsere Autorin hat es trotzdem nie geschafft, Nane zu hassen.

Februar 2015: Unsere Autorin zu Besuch bei ihrer Schwester in der anthroposophischen Wohngruppe in Wien. Nane löst gerade ein Puzzle mit hundert Teilen.
NANE

Meine Schwester Christiane, Nane genannt und zweieinhalb Jahre jünger als ich, wurde scheinbar gesund geboren. Als sie neun Monate alt war, lag sie zum ersten Mal mit verdrehten Augen in ihrem Bettchen, Arme und Beine völlig verkrampft, Schaum vor dem Mund. Die Nane kam sofort ins Krankenhaus, auf dem Weg dorthin wurde sie bewusstlos. Mit Valium wurden ihre Krämpfe beendet. Weil sie 38,5 Fieber hatte, wurde der Anfall als Fieberkrampf eingestuft.

Die Krämpfe wiederholten sich, anfangs mit Fieber, später auch ohne. Bis die Nane drei war, hat sie sich mehr oder minder normal entwickelt, manchmal hatte sie Krampfanfälle, manchmal nur Absencen, das sind Bewusstseinsstörungen, die nur wenige Sekunden dauern. Die Ärzte diagnostizierten Epilepsie und suchten nach einer Medikation, die ihre Krampfanfälle reduzieren sollte, da das Gehirn bei diesen Anfällen nicht mehr durchblutet wird und hohe Verletzungsgefahr bestand. Die Medikamente aber, die die Nane bekam, machten sie apathisch, ihre Persönlichkeit ging völlig verloren, sie war einfach zugedröhnt. Der Preis für wenige bis keine Anfälle war zu hoch. Darum haben die Ärzte bald die tägliche Dosis reduziert.

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An die Anfälle gewöhnten sich meine ältere Schwester Barbara und ich. Sie kamen häufig nachts, meine Mutter hat die Nane dann seitlich gelegt, damit der Speichel abfließen konnte, hat sie gehalten, damit sie nicht aus dem Bett fiel und sich verletzte. Meistens gingen die Anfälle nach drei oder vier Minuten vorüber. Wenn nicht, musste die Nane ins Krankenhaus. Es gab Tage, da hatte sie sieben oder acht Anfälle, stets waren wir in Habachtstellung. Wir durften auch kaum fernsehen als Kinder, weil das Flimmern der alten Bildschirme Epilepsie auslösen konnte. Ich war sicher, unsere Schwester würde es nicht erleben, erwachsen zu werden.

ICH

Meine Eltern haben hohe Ansprüche, an sich, an die Kinder. Und dann wird nach meiner Schwester und mir ein krankes Kind geboren. Von klein auf hatte ich das Gefühl, etwas Besonderes leisten zu müssen, denn der Platz für das Nicht-Leisten war durch die Nane besetzt. Ich sehe mich noch, wie ich Hausaufgaben mache und nicht weiß, ob man nämlich mit h schreibt. Aber ich habe meine Mutter nicht gefragt, weil ich wusste, dafür ist kein Platz – die Nane hatte eh gerade wieder einen starken Anfall gehabt. Wir beiden älteren Schwestern waren angepasst, es war völlig klar, wie wir uns zu verhalten hatten: Wenig Zeit beanspruchen, funktionieren, keine Probleme machen. Offen ausgesprochen haben das unsere Eltern nie. Vielleicht hätten sie das auch bestritten. Aber sie hatten für meine Schwester und mich einfach keine Kapazitäten mehr frei.

Unseren Auftrag haben wir so gut erfüllt, wie es uns möglich war. Ich bin allerdings Legasthenikerin geworden. Eine Nachbarin wurde engagiert, die mit mir Lesen übte. Ich hab nur geheult, vor Druck und weil ich es nicht schaffte, den Erwartungen zu entsprechen. Und weil ich mir so sehr gewünscht hätte, dass meine Mutter mit mir übt. Immer wieder wurden Leute eingespannt, die sich um uns große Schwestern kümmerten, sobald etwas Außergewöhnliches passierte, selten hatte meine Mutter Zeit dafür. Ich habe bis heute keine Ahnung, ob meine Eltern überhaupt wissen, wie schlimm das damals war für mich. Als meine ältere Schwester und ich gleichzeitig mit akuter Blinddarmentzündung ins Spital kamen und operiert wurden, mussten meine Eltern mit der Nane gerade in eine Spezialklinik, und meine Mutter organisierte für uns einen Besuchsdienst von Bekannten und Freunden im Krankenhaus. Als wir aus dem Spital kamen, wurden wir ebenfalls bei Freunden der Familie untergebracht. Ich fühlte mich verlassen und unwichtig. Keine Krankheit schien schlimm genug zu sein, dass die Sorge und Pflege meiner Mutter mir zuteilwurde. Immer war bei der Nane etwas Schlimmeres – und es tröstete mich nicht, dass es bei ihr wirklich etwas Schlimmeres war. Meine Pickel im Gesicht waren nicht schlimm genug, meine Probleme in der Schule nicht, meine Blinddarmentzündung nicht. Wir wurden auch nie gefragt: Wie geht es euch eigentlich damit, dass die Nane fast gestorben wäre? Das ist doch keine unmögliche Frage, oder?

Ich erinnere mich nicht, die Nane jemals gehasst zu haben. Sie war ja noch ärmer als ich. Das zieht sich wie ein roter Faden durch mein Leben: Sobald ich denke, jemand anderem geht es schlechter als mir, stelle ich meine eigenen Wünsche zurück. Da braucht der andere nicht mal was zu sagen, ich übernehme unaufgefordert, selbst wenn ich schon am Limit bin, selbst wenn der andere dadurch genervt ist. Das hat zu vielen schwierigen Situationen mit meinem Mann geführt. Er ist Spanier, am Anfang war er bei Behördengängen auf meine Hilfe angewiesen, und er musste sich sein Leben, seinen Beruf, seinen Freundeskreis neu aufbauen. Ich wollte ihm alles abnehmen. Gleichzeitig habe ich ihn für seine Schwäche manchmal gehasst, aber hassen durfte ich ja nicht.

Stattdessen empfand ich Mitleid mit der Nane. Und Eifersucht, weil sie so viel Aufmerksamkeit von meinen Eltern bekam. Und Scham, wenn Leute uns
wegen Nanes auffälligen Verhaltens anstarrten. Aber im selben Moment, in dem negative Gefühle aufkamen, meldete sich das schlechte Gewissen: Ich darf so nicht denken, die Nane kann nichts dafür, ich sollte dankbar sein, dass ich gesund bin. Ich habe es auch lange als eine Schuld empfunden, gesund geboren zu sein.

NANE

Als kleines Kind waren ihre sprachlichen Fähigkeiten sogar überentwickelt. Sie konnte jedes Märchen der Gebrüder Grimm auswendig, und wenn wir beim Vorlesen einen Fehler machten, hat sie ihn sofort korrigiert. Obwohl sie ein waches, offenes Kind war, fiel es ihr schwer, Kontakt aufzunehmen. Sie hat wohl autistische Züge, ihr Verhalten war obendrein oft zwanghaft: Sobald es Veränderungen gab, hat sie immer dieselben Sätze wiederholt. Was sie bis heute grandios kann: Puzzles machen.

Als sie vier oder fünf war, diagnostizierten die Ärzte neben der Epilepsie eine Meningitis, die sie schon überwunden und die niemand erkannt hatte. In ihrem Gehirn gab es nun Vernarbungen, durch die sie sich stark verändert hat. In diese Zeit fielen auch die Phasen, in denen sie wirre Dinge tat – sie hat sich zum Beispiel in alle Körperöffnungen etwas reingesteckt, Geld, Spielhütchen, was immer sie fand. Sie wurde aggressiv gegen sich und andere, hat geschrien und uns die Dinge kaputtgemacht beim Spielen – und wieder die ganze Aufmerksamkeit unserer Eltern auf sich gezogen. Also formten meine große Schwester Barbara und ich einen Überlebenspakt: Zu zweit waren wir stark. Wir hatten einander. Wir gaben uns gegenseitig Halt. Wenn ich von meiner Kindheit erzähle, spreche ich unbewusst auch immer von Wir, kaum in der Ich-Form.

Ich erinnere mich kaum, mit der Nane gespielt zu haben, man konnte
ja auch nicht richtig spielen mit ihr. Sie war in ihrer eigenen Welt. Zeitweise hyperaktiv, dann wieder apathisch, oder sie lag im Bett, um sich von einem Anfall zu erholen. Oder weil unsere Mutter uns in guter Absicht von der Nane separierte, damit wir ungestört spielen konnten. Sobald die Nane um uns herum war, galten andere Regeln – aufpassen, vorsichtig sein.

Nach allem, was man weiß, hat die Nane wohl eine Mischepilepsie, weil sich der Anfallscharakter verändert, dazu eine zerebrale Schädigung ungewisser Herkunft. Dass sie schwerbehindert ist, erkennt man nicht sofort, weil sie weder spastisch ist noch ihr Gesicht oder Körper deformiert sind.

Heute können wir nur erahnen, was sie wirklich mitbekommt, sie spricht nur noch wenige, sich wiederholende Phrasen, das heißt, sie singt sie fast und wiederholt sie oft: »Rausgehen.« »Nein.« »Gar nicht.« Wenn sie »Rausgehen!« schreit, ein verzweifeltes Gesicht macht, glauben wir zu wissen, jetzt braucht sie wirklich Ruhe.

Sie lebt in einer anthroposophischen Wohngruppe in Wien. Als ich sie im vergangenen Herbst dort besuchte, setzte ich mich zu ihr ans Bett. Sie nahm meine Hand, ließ sie nicht mehr los, zog mich näher zu sich und schaute mir in die Augen. Ich schaute sie auch an und streichelte sie. Ihre Gesichtszüge wurden ganz entspannt und sie lächelte. Es war intensiv und wunderschön. Vielleicht der intimste Moment zwischen uns seit Langem.

Allein wäre sie völlig unfähig zu leben, sie würde vor vollem Kühlschrank verhungern, weil sie Zusammenhänge nicht erkennt. Wie bei einem Säugling muss man alles erahnen. Sie ist nun 42 Jahre alt.

»Das war wie ein unausgesprochenes Gesetz in unserer Familie: Wir stehen alles durch.«


MEINE MUTTER

Ich erlebe meine Mutter, heute 74, so: Man muss alles aushalten, man muss stark sein. Ich glaube, sie hatte Angst, wenn sie Schwäche zeigt, bricht alles auseinander. Ihre Ansprüche an sich sind hoch. Sie holte sich auch kaum Hilfe, keine Putzfrau, keine Haushaltshilfe. Das war wie ein unausgesprochenes Gesetz in unserer Familie: Wir stehen alles durch.

Als meine Eltern heirateten, gab meine Mutter ihren Beruf als Pharmazeutin auf. Sie war meinem Vater immer dankbar, dass sie diese Zeit, als wir klein waren, nicht zu arbeiten brauchte. Aber in meiner Erinnerung habe ich meine Eltern nie glücklich erlebt. Familie, das war nichts Fröhliches. Immer war da so eine Belastung bei ihr, eine Erschöpfung, eine Angespanntheit. Nachts, wenn die Nane ihre Anfälle hatte oder aus Unruhe bis zu zehn Mal pro Nacht wach wurde, stand ausschließlich meine Mutter auf, nie mein Vater. Ich erinnere mich nicht, dass sie sich jemals beklagt hätte. Sie war ein Soldat.

Hatte die Nane einen starken epileptischen Anfall, schwebte sie in Lebensgefahr, dann brachte sie der Notarzt ins Krankenhaus, es war oft dramatisch. Doch war die Krise vorüber, holte meine Mutter alle Arbeit doppelt so schnell nach. Bis zum Alter von sechs Jahren war die Nane zehn Mal für längere Zeit im Krankenhaus, manchmal acht Wochen hintereinander. Wir wohnten zu der Zeit im bayerischen Oberaudorf, mein Vater arbeitete ein paar Kilometer weiter in Kufstein, Tirol, und meine Mutter ist jeden Morgen achtzig Kilometer von Oberaudorf nach München zur Nane gefahren und jeden Abend zurück. Damals, in den Siebzigerjahren, war es in Spitälern noch nicht erlaubt, beim kranken Kind zu übernachten. Oft hat sie die Nane noch am Parkplatz weinen hören. Jetzt, wo ich selbst Mutter bin, bricht es mir das Herz, wenn ich an das Dilemma meiner Mutter denke: ein weinendes krankes Kind allein im Spital und zwei gesunde Kindern zu Hause, die über Wochen nachmittags bei den Nachbarn untergebracht werden müssen.

Die Nachbarn waren zwei nette ältere Damen, bei denen die Tür für uns stets offen stand. Selbst später, als wir wieder in der Nähe von Wien wohnten, haben wir bei diesen Damen und ihren Enkelinnen in Oberaudorf unsere Sommerferien verbracht. Die Mama meint bis heute: Das war eure Rettung, dort durftet ihr Kind sein.

NANE

Auch schwerbehinderte Kinder müssen zur Schule, nur wollte keine die Nane nehmen, vor allem weil sie wegen ihrer Anfälle eine Daueraufsicht brauchte. Irgendwann fanden meine Eltern Föhrenbühl am Bodensee, eine anthroposophische Einrichtung, ein echtes Dorf für Behinderte. Sie leben in einem Haus mit dem Hausvater und der Hausmutter, gehen zur Schule, werden ihren Fähigkeiten entsprechend gefördert und haben einen geregelten, vorhersehbaren Tagesablauf, was für Menschen wie die Nane besonders wichtig ist. Dort lebte sie, bis sie 21 war. Seither wohnt sie in einer anderen Einrichtung in Wien, einer ebenfalls anthroposophischen Arbeits- und Lebensgemeinschaft mit eigenen Werkstätten. Nach dem Frühstück wird sie mit anderen in die Weberei gefahren. Wenn es ihr gut geht, fädelt sie Perlen auf. Nach Überzeugung der Anthroposophen ist der Wesenskern eines Menschen immer gesund, es wird nicht auf die Defizite geschaut, sondern darauf, wie man seinen Seelenfrieden erhalten kann. Das hat der Nane sehr viel Würde bewahrt.

Als sie in dieses Dorf am Bodensee kam, konnte sie noch sprechen, singen, auswendig Gelerntes aufsagen. Doch sie hat nie erzählt, wie ihr Tag war oder wie es ihr geht. Ob die Nane drunter gelitten hat, dass sie schon mit sieben wegmusste von zu Hause, weiß ich nicht. Ob meine Eltern darüber geredet haben, weiß ich auch nicht.

Kaum war die Nane in diesem Dorf am Bodensee, hat meine Mutter als freiwillige Helferin in einer anderen Behindertenschule gearbeitet. Das zu begreifen fiel mir schwer, denn ohne die Nane hätte sie endlich mal Zeit für uns gehabt. Als ich 29 war, nahm ich all meinen Mut zusammen und konfrontierte meine Mutter damit. Aber sie empfand jeden Satz von mir als Angriff und verteidigte ihre Entscheidung.

MEIN VATER

Das Verhältnis zu meinem Vater, heute 77, war nicht so eng wie das zu meiner Mutter. Die Rollenverteilung zu Hause war klar: Er verdient das Geld, sie kümmert sich um die Kinder. In dem Moment, in dem die Nane an den Bodensee zog, stürzte er in schwere Depressionen, bekam Panikattacken, das zog sich über Jahre. Dazu hatte er zeitweise eine Entzündung der Bauchspeicheldrüse und konnte nicht mehr essen. Seine Firma machte dicht, er war für zwei Monate arbeitslos. Im Grunde hat sich durch die Krankheit meines Vaters nichts geändert bei uns: Alles war eingespielt, unser Alltag auf einen Schwerkranken zugeschnitten.

Die Ehe meiner Eltern ging kaputt, sie trennten sich, als ich 14 oder 15 war. Da war mein Vater schon jahrelang in Therapie. Meine Mutter begann wieder in einer Apotheke zu arbeiten, mein Vater hat langsam seine Depressionen überwunden. Heute kümmert er sich toll um die Nane. Jedes zweite Wochenende holt er sie im Wechsel mit meiner Mutter aus dem Heim. An einigen Wochenenden, an denen sie im Heim bleibt, besuche ich sie. Wir wohnen ja alle in und um Wien.

Heute kann ich mit meinem Vater viel besser reden, auch darüber, wie ich unsere Kindheit und ihn erlebt habe. Er hört zu und versucht zu verstehen. Das tut gut.

Nachdem mein Vater seine Depressionen überwunden und wieder einen neuen Arbeitsplatz gefunden hatte, kehrte keine Ruhe ein, sondern meine ältere Schwester bekam plötzlich epileptische Anfälle. Da setzte sich mein Vater zu mir ans Bett, ich dachte, um mich zu trösten. Aber er fing an zu weinen und wollte, dass ich ihn tröste. Ich dachte: Immer ist jemand schneller als ich, um den man sich kümmern muss.

BARBARA

Woher die epileptischen Anfälle meiner älteren Schwester kamen, weiß man nicht. Nach drei oder vier Malen waren sie wieder vorbei. Unser Verhältnis war immer sehr eng. Zwischen uns gab es nie Rivalität. Aber sie war gut in der Schule, angepasster als ich, fleißiger. Auch ihr Verhältnis zur Nane ist anders: Ihr macht Nanes Krankheit mehr Angst, sie würde sich nicht allein um sie kümmern wollen.

Beide haben wir nicht gelernt, uns in den Mittelpunkt unseres eigenen Lebens zu stellen. Wir haben stattdessen gelernt, die eigenen Wünsche völlig hintanzustellen, bis man denkt, man hat keine Wünsche mehr. Die Barbara, heute 47, hat immer wieder das Gefühl, sie sei nichts Besonderes, ihr Selbstwert ist gering. Sie war Stewardess und ist eine tolle Mutter. Aber was sie gut kann, sieht sie nicht.

»Das war wie ein unausgesprochenes Gesetz in unserer Familie: Wir stehen alles durch.«

Der erste Schultag: die Autorin mit ihrer großen Schwester Barbara, daneben die knapp vierjährige Nane an der Hand der Mutter. Nane wurde kurz zuvor Hirnsubstanz entnommen, um den möglichen Abbauprozess zu untersuchen.

ICH

In der Pubertät begann es zu bröckeln: Ich funktionierte nicht mehr so gut. Ich fand nicht den Anschluss an meine Freundinnen, die ihre Jugend lebten, ich war wohl damals schon depressiv, mindestens sehr schwermütig.

Mit 24 ging ich wegen meiner Depression in Behandlung, hielt aber weiter das Bild aufrecht, es ginge mir gut. Damals war ich tagsüber in einer Werbeagentur beschäftigt, bin um 19 Uhr in die Therapie, dann wieder zurück in die Agentur und habe weitergearbeitet. Ich war beliebt. Aber die Wochenenden waren die Hölle. Die Frage, will ich noch leben oder nicht, war ein langjähriger Begleiter. Ich glaube, meine Eltern wussten von nichts.

Mir schien, als trenne mich eine Milchglasscheibe von der Welt. Drüben tobte das Leben und das Lachen – versuchte ich aber, auf die andere Seite zu gehen, war es dort sofort still und tot.

Insgesamt war ich mehr als zehn Jahre in Psychotherapie, für das Geld hätte ich zwei Kleinwagen kaufen können. Mit 31 Jahren wurde Colitis ulcerosa
diagnostiziert, eine chronische Darmerkrankung, ich kam für sechs Wochen stationär in eine Abteilung für psychosomatische Krankheiten.

Ich wurde sehr dünn während der Therapie, fast magersüchtig. Und ich musste lernen: Mein Leben ist mein Mittelpunkt; es gibt mich als eigene Person; aha, ich habe Wünsche, aha, und Bedürfnisse. Nur – welche eigentlich?

Ich wurde mit 39 Jahren schwanger. Ich sollte alle möglichen Tests machen, um möglichst früh herauszufinden, ob mein Kind behindert ist. Ich wollte keinen Test machen. Meine Frauenärztin drängte mich jedoch immer mehr. Eines Morgens wachte ich auf und kollabierte im Bett. Ich kam ins Krankenhaus. Und zur Psychologin. Ihre Fragen lösten den Deckel, mit dem ich die ganze Zeit versucht hatte, nichts hochkommen zu lassen: Es lastete ein gewaltiger Druck auf mir, und zwar nicht nur, mit der Angst umzugehen, was wäre, wenn mein Kind behindert ist. Sondern auch der Druck der Mediziner, ich müsste das wissen wollen, um dann das Kind vielleicht abtreiben zu lassen. Das hätte für mich bedeutet, das Recht auf Leben meiner behinderten Schwester in Frage zu stellen. Ich machte keine Tests. Ich hatte auch keine Zweifel, ein gesundes Kind zu bekommen. Denn ich war überzeugt: Ich habe schon gelernt, was das heißt – auf mich warten andere Aufgaben im Leben.

Heute bin ich Fotografin, verheiratet und habe eine fünfjährige gesunde Tochter. Als die Nane vergangenes Jahr sehr krank war und ich manchmal völlig erschöpft vom Besuch im Spital zurückkam, ertappte ich mich dabei, mich exakt wie damals meine Mutter zu verhalten: sich nichts anmerken lassen, die liegen gelassene Arbeit doppelt so schnell nachholen. Aber ich stelle meiner Tochter eine Frage, die mir nie gestellt wurde: Wie geht es dir?

NANE

Im vergangenen Sommer hatte sie eine große gesundheitliche Krise, sie kam wieder für Wochen ins Krankenhaus. So schlimm war es schon lange nicht mehr. Vielleicht ist die Schädigung des Gehirns so weit fortgeschritten, dass bestimmte Verbindungen nicht mehr funktionieren. Inzwischen geht es ihr wesentlich besser, aber sie hat bis heute Anfälle. Die Anfälle kommen mehrmals pro Monat, meistens nachts – zum Glück, dann kann sie nicht fallen. Sie hat Zuckungen, röchelt, Speichel kommt in die Lunge, sie verdreht die Augen, hat kein Bewusstsein. Der Nachtdienst in ihrem Heim und meine Eltern sind darauf vorbereitet, zum Glück.

Was die Nane heute gern macht: Sie legt Bücher quer und blättert, aber das ist eine monotone Handlung, ich glaube, sie schaut sich keine Bilder an. Sie macht Puzzles immer noch besser als meine Tochter, sie hört gern Musik. Sie genießt Essen sehr, mag aber nichts Vermischtes wie Eintöpfe. Sie liebt Nachspeisen.

Fast alle Eltern von Behinderten setzen diese auf einen Thron. Auch meine. Die Nane ist ein Geschenk des Himmels! So viel können wir lernen von ihr! Ich verstehe das schon, aber ich tue mich schwer, es zu glauben. In Wirklichkeit wünscht sich jeder ein gesundes Kind. Und ich finde diesen Wunsch so was von gerechtfertigt. Man hat ein verdammt hartes Leben mit schwerbehindertem Kind, es gibt ganz viele Kollateralschäden, man kann nur Schadensbegrenzung machen und hoffen, dass alle halbwegs unverletzt davon kommen.

Ich weiß nicht mal, ob wir der Nane was Gutes getan haben, indem sie durch Medikamente und medizinische Fortschritte ein langes Leben bekommt. Sie kann das ja nicht selbst entscheiden. Vielleicht haben wir nur ihr Leiden verlängert. Nane, ich hoffe, wir haben in deinem Sinne gehandelt.

Fotos: Peter Rigaud