»Es hatte sich einiges aufgestaut«

Franz Kafkas »Brief an den Vater« ist eine der erbarmungslosesten Abrechnungen, die ein Sohn je geschrieben hat. Der Kafka-Biograf Reiner Stach hat sich mehr als zwanzig Jahre mit dem Schriftsteller und dessen Familie auseinandergesetzt - und dabei auch etwas über sich selbst als Sohn gelernt.

Franz Kafka

Foto: dpa

SZ-Magazin: Im November 1919 mietete sich ein 36-jähriger Mann in der »Pension Stüdl«, fünfzig Kilometer nördlich von Prag, ein Zimmer. Neun Tage lang schrieb er einen Brief an seinen 67-jährigen Vater, mit dem er immer noch in derselben Wohnung lebte. Der Brief, eine erbarmungslose Abrechnung, wie sie wohl noch kein Vater empfangen hatte, war am Ende 103 Seiten lang und endete grußlos mit: »Franz«.
Reiner Stach: Kafka war auf hundertachtzig, und er hatte allen Grund dazu. Die von jeher gespannte Beziehung zum Vater war unerträglich geworden, nachdem der ihn gedemütigt hatte wie selten zuvor. Man kann verstehen, dass er endlich mal zurückschlagen wollte.

Auslöser für den geplanten Showdown war ein Eklat wegen Kafkas Verlobter Julie Wohryzek. Die hielt der Vater für ein Flittchen.
Wie bei jeder prospektiven Braut ihres Sohnes hatten die Kafkas wieder mal ein Detektivbüro beauftragt, um Erkundigungen einzuziehen. Für ihre Generation war das absolut normal. Sie wären auch nicht beleidigt gewesen, hätten andere Eltern wiederum ihren Sohn durchleuchten lassen. Als der Vater Franz mit den Recherchen konfrontierte, bekam er offenbar zur Antwort: Ist mir egal, was da drinsteht, ich kenne die Frau besser.

Der Inhalt des Dossiers ist nicht überliefert.
Aber ein Brief Kafkas an seine Schwester Ottla, in der von einer »abscheulichen Auskunft« die Rede ist. Julie war schon mal verlobt gewesen, vielleicht war es nur das. Einen zweifelhaften Ruf fing man sich sehr schnell ein. Wenn eine junge Frau innerhalb eines halben Jahres mit zwei verschiedenen Männern auf der Straße gesehen wurde, hatte sie schon einen Eintrag im Klassenbuch.

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Kafkas Brief an den Vater gilt heute als Basistext der literarischen Moderne. Bei aller stilistischen Eleganz ist der Brief von Feindschaft und Hass kontaminiert.
Kafka hat seinen Vater durchaus nicht von Grund auf gehasst, aber es hatte sich eben einiges aufgestaut. Hermann Kafka war ein Großsprecher, der sich über die Wirkung seiner Worte nicht viel Gedanken machte. Für den sensiblen Kafka jedoch war Selbstachtung überaus wichtig. Kam ihm jemand dumm oder versagte den Respekt, konnte er auch hart und kalt reagieren. Der Vater hatte beim Thema Julie eine rote Linie überschritten, indem er ihm an den Kopf warf: Bloß weil du auf eine hübsche Bluse reingefallen bist, musst du nicht gleich heiraten! Geh lieber ins Bordell. Wenn du dich davor fürchtest, gehe ich mit dir. Als diese verachtungstriefenden Sätze fielen, saß die Mutter daneben. Diese Szene muss man im Hinterkopf haben, wenn man den Brief liest.

Der Vater war in ärmlichen Verhältnissen in einem Dorf in Südböhmen aufgewachsen und hatte sich in Prag zum Inhaber eines Galanteriewarengeschäfts mit bis zu 15 Angestellten emporgearbeitet.
Das hatte er auch seiner Frau zu verdanken, die an diesem Aufstieg einen Anteil von mindestens fünfzig Prozent hatte. Doch der relative Wohlstand hatte seinen Preis. Als Kind war Franz Kafka dauernd allein, weil die Eltern bis abends im Geschäft waren. Versorgt wurde er vom ständig wechselnden Personal. Das war eine Situation wie bei einem Heimkind – nicht sozial, aber innerpsychisch. Er las und träumte viel und konnte sich wie alle begabten, einsamen Kinder wunderbar mit sich selbst beschäftigen. Aber wie man Freunde findet, wie man Vertrauen aufbaut, das wusste er nicht. Dieses Problem hat ihn zeitlebens begleitet.

Kafka, als Kind schmächtig und zerbrechlich, bescheinigte in seinem Brief dem Vater eine imposante körperliche Statur, fortwährende Übellaunigkeit, Ironie, böses Lachen, Herrschsucht, Jähzorn und eine Vorliebe für Zoten. Waren es diese Attribute, die seine lebenslange Furcht vor dem Vater begründeten?
Wahrscheinlich ist Kafka als Kind nicht geschlagen worden, aber der Vater spielte seine Überlegenheit permanent aus. Er wurde ziemlich laut, drohte Prügel an und legte die Hosenträger schon mal auf der Stuhllehne bereit. Vor solchen Auftritten hatte der Junge eine unmäßige Angst, aber er revoltierte nicht, sondern verkroch sich in sich selbst. Später kam die Überlegung hinzu, dass ja der Vater mit seinem ständigen Sarkasmus womöglich recht haben könnte. Er hatte immerhin die Verantwortung für eine ganze Familie übernommen, und seine Zähigkeit als Geschäftsmann brachte den Kindern viele Bequemlichkeiten, Bildung und einen gewissen Wohlstand. Wenn der erwachsene Kafka das mit seinen eigenen Misserfolgen ver-glich, fühlte er sich noch immer klein. Er musste sich sagen: Wenn der Vater mal alt ist, weiß er genau, was er geleistet hat. Aber ich?

Über die Tischsitten des Vaters schrieb Kafka: »Da ich als Kind hauptsächlich beim Essen mit Dir beisammen war, war Dein Unterricht zum großen Teil Unterricht im richtigen Benehmen bei Tisch. Knochen durfte man nicht zerreißen, Du ja. Man musste achtgeben, dass keine Speisereste auf den Boden fielen, unter Dir lag schließlich am meisten. Bei Tisch durfte man sich nur mit Essen beschäftigen, Du aber putztest und schnittest Dir die Nägel, reinigtest mit dem Zahnstocher die Ohren.« Woher kam dieser sadistisch genaue Blick?
Kafka verwandelte die Ohnmacht des Kindes in eine Stärke, aus Ängstlichkeit wurde überscharfe Beobachtung. Er sammelte die kleinen Lächerlichkeiten des Vaters, um sich zu behaupten und ein klein wenig zu rächen.

An den Vater seiner Freundin Felice Bauer schrieb Kafka: »Ich lebe in meiner Familie fremder als ein Fremder. Mit meiner Mutter habe ich in den letzten Jahren durchschnittlich nicht zwanzig Worte täglich gesprochen, mit meinem Vater kaum jemals mehr als Grußworte gewechselt. Mit meinen verheirateten Schwestern spreche ich gar nicht, ohne etwa mit ihnen böse zu sein. Für die Familie fehlt mir jeder mitlebende Sinn.« Warum verhielt sich Kafka zu Hause wie ein Autist?
Er war vollkommen unfähig zum Smalltalk. Das Gespräch erstarb, wenn er merkte, dass es kein gemeinsames Thema gab oder man ihn nicht verstand – und das war ja innerhalb der Familie meistens so. Die typischen Familiengespräche interessierten ihn nicht, die kreisten entweder ums Geschäft oder um die Schicksale irgendwelcher Verwandter. Kafka wäre sich wie ein Lügner vorgekommen, hätte er sich mit abgenötigten Phrasen an diesen Gesprächen beteiligt. Dieses Desinteresse brachte aber vor allem den Vater zur Weißglut. Selbst wenn es um ernste Geldsorgen ging, brachte Franz es fertig, freundlich lächelnd in seinem Zimmer zu verschwinden.

Hat Kafka mit dem Vater über seine Frauenbeziehungen gesprochen?
Nur, wenn es unbedingt sein musste, denn die groben Bemerkungen, die er dann zu erwarten hatte, wollte er sich ersparen. Aber auch von der Mutter erntete er bei diesem Thema allenfalls Sätze aus dem Poesiealbum. Aus der Ferne betrachtet ist es wirklich unglaublich, wie sehr alle diese Personen aneinander vorbeiredeten. Dabei war Kafka keineswegs autistisch, er war im Gegenteil durch ein paar menschliche Worte leicht zu erreichen, und beim Vater hat er auf solche Worte jahrelang geradezu gelauert. Doch der hatte eine ganz andere Vorstellung von »Familie«. Als zum Beispiel Kafka seine jüngste Schwester Ottla ermunterte, sich der Landwirtschaft zuzuwenden, wurde er vom Vater als Halunke beschimpft, wörtlich! Als dann ein Verwandter sich darüber wunderte, wie Hermann über seinen eigenen Sohn herzog, wurde er hinausgeworfen. Nach dem Motto: Das geht niemanden etwas an, wie es bei uns zugeht. Interessant ist übrigens, dass Kafka bei der Verteidigung seiner Schwester ziemlich energisch werden konnte, energischer, als wenn es um ihn selbst ging.

Wie verhielt sich die Mutter?
Sie war warmherzig, aber sie versuchte die Konflikte kleinzu-reden oder zu beschweigen. Bestand die Gefahr, dass ein Streit offen ausgetragen wurde, hieß es sofort: Das könnt ihr nicht machen, der Vater hat ohnehin ein schwaches Herz! Der Vater spielte auf dieser Klaviatur mit. Sobald ihm die Argumente ausgingen, rief er sofort nach kalten Umschlägen. Plötzlich war es vorbei mit dem starken Patriarchen, und es wurde an Rücksicht und Mitleid appelliert.

Die beiden Brüder Kafkas sind als kleine Kinder gestorben. Was brachte den Vater gegen seinen einzigen Sohn auf?
Dass er sich nicht um Familienangelegenheiten kümmerte und keine Verantwortung übernahm. Zum Beispiel, als eine Fehlinvestition in eine Asbestfabrik dahinschmolz. Franz Kafka war ja nominell sogar Teilhaber dieser Fabrik, und aus Hermann Kafkas Sicht war es vollkommen verantwortungslos, dass der Sohn meinte, er hätte Besseres zu tun. Schließlich war Franz Jurist und arbeitete bei einer Versicherung. Dass er sein Wissen nicht für die Familie nutzte, erschien Hermann fast feindselig. Ein anderer Vorwurf war, dass der Herr Sohn sich nicht um die Spielregeln kümmerte, mit welchen Leuten man Umgang hatte und mit welchen besser nicht. Der Kerl brachte es fertig, einen abgerissenen ostjüdischen Schauspieler mit in die Wohnung zu bringen oder sogar mit einer stadtbekannten Weinstubenkellnerin über den Ring zu spazieren. Mindestens zweimal war er mit Prostituierten liiert, und er dachte gar nicht daran, die zu verstecken. Bei solchen Dingen schüttelte vermutlich der ganze Kafka-Clan den Kopf.

Warum hat der Brief an den Vater den Adressaten nie erreicht?
Es ist unklar, ob Kafka seine Absicht selber geändert hat oder überredet wurde, den Brief in der Schublade zu lassen. Wahrscheinlich merkte er im Akt des Schreibens, dass der Brief zur Selbstklärung viel dienlicher war als zur Auseinandersetzung mit dem Vater. Friedlicher wäre es in der Familie auf keinen Fall geworden nach diesem Brief. Mit am eindrücklichsten finde ich, dass er immer noch versucht hat, so etwas wie Empathie aufrechtzuerhalten und ausdrückliche Schuldzuweisungen zu vermeiden. Das würde mir in so einer Situation nicht mehr gelingen.

Wenn Kafka dem Vater ein neues Buch aus eigener Feder überreichen wollte, bekam er zur Antwort: »Leg’s auf den Nachttisch.«
Ob der Vater je etwas vom Sohn gelesen hat, wissen wir gar nicht. Das mit dem Nachttisch wurde zwischen Ottla und Franz zum Running Gag. Wenn einem von beiden ein Buch nicht gefiel, sagte er: Leg’s auf den Nachttisch.

Kafkas Bücher waren so dünn, dass der Vater sie in ein paar Stunden hätte lesen können. Wie illiterat war der Mann?
Die literarischen Leistungen seines Sohnes zu verstehen war schlicht jenseits seiner intellektuellen Möglichkeiten. Er hatte ein paar Bände Unterhaltungsliteratur im Regal stehen, aber interessiert haben ihn nur Operetten und die Lustbarkeiten, die er vom Militär kannte. Woher sollte kulturelles Interesse bei ihm auch kommen? Er hatte vier Jahre Volksschule hinter sich, das war alles.

Was bekam der Vater von den Schreibmühen des Sohnes mit?
Nicht viel, denn er schlief meistens schon, wenn der Sohn zur Feder griff. Abendessen gab es gegen 21 Uhr, nach 22 Uhr begann Kafka zu schreiben. Um zwei, halb drei ging er erschöpft zu Bett. Um kurz nach sieben wurde er wieder geweckt, um acht war er im Büro. So jedenfalls war es während intensiver Schreibphasen. Der Familie wird jedoch nicht entgangen sein, dass es auch monatelange Pausen gab, was sie in ihrer Meinung nur bestärkte, das Schreiben sei für Franz ein Zeitvertreib.

Las die Mutter die Bücher ihres Sohnes?
Auch das wissen wir nicht. Es ist aber vorgekommen, dass Kafka seinen Eltern vorgelesen hat, zum Beispiel den ganzen Heizer. Er notierte danach, der Vater habe nur höchst widerwillig zugehört, über die Reaktion der Mutter sagt er nichts.

»Franz war der Einzige am Tisch der Kafkas, der immer gebräunt war.«

»Ich wäre glücklich gewesen, Dich als Freund, als Chef, als Onkel, als Großvater, ja selbst als Schwiegervater zu haben. Nur eben als Vater warst Du zu stark für mich«, schrieb Fanz Kafka 1919 an seinen Vater Hermann. Und schickte den Brief nie ab.

Bild: Archiv Klaus Wagenbach

Das Urteil las Kafka auch öffentlich vor, eine Erzählung über einen tödlich endenden Vater-Sohn-Konflikt.
Wäre der Vater zu dieser Lesung erschienen, hätte man ihn zu gern dabei beobachtet. Die Erzählung endet ja damit, dass der Vater seinen Sohn zum Tod durch Ertrinken verurteilt. Der Sohn läuft daraufhin zum Fluss und stürzt sich mit den Worten ins Wasser: »Liebe Eltern, ich habe euch doch immer geliebt.«

Als Kafka den Brief an den Vater schrieb, hatte er viele Jahre in einem Durchgangszimmer hinter sich, das an das Schlafzimmer der Eltern grenzte. Warum wohnte ein promovierter Jurist mit gut bezahlter Stellung noch bei Papa und Mama?
Weil er noch kurz zuvor schwer krank gewesen war. Er hatte während des Krieges in diversen Zimmern zur Untermiete gewohnt, aber Ende 1918 bekam er die Spanische Grippe. Er hatte 41 Grad Fieber und war am Rande des Todes. An der Spanischen Grippe starben in Prag damals jeden Tag an die hundert Menschen. Kafka überlebte nur, weil die Eltern ihn über etliche Wochen pflegen ließen. Jeden Tag kam ein Arzt, und über Schwarzhändler wurde ihm die beste Ernährung verschafft. Es muss zu diesen Hungerzeiten ein Vermögen gekostet haben, den Franz aufzupäppeln. Sein Schuldkonto beim Vater wurde dadurch riesengroß – und das steigerte seine Wut auf ihn wie auf sich selbst: Wieder diese elende Abhängigkeit! Allerdings rührte es Kafka auch, zu sehen, dass der Vater wirklich Angst um ihn hatte.

Kafka fing mit 24 bei der Prager Arbeiter-Unfall-Versicherungsanstalt an. Hätte er sich nicht schon da ein eigenes Zimmer nehmen können?
Das wäre ein Affront gewesen. Man zog bei den Eltern erst aus, wenn man heiratete oder wegen des Berufes in eine andere Stadt musste. So hielten es auch seine Freunde. Er hätte natürlich sagen können: Tut mir leid, ich brauche nun mal Ruhe. Aber das hätte einen Riesenstreit gegeben, und um den vom Zaun zu brechen, war er nicht stark genug.

Was hätten Sie als Hermann Kafka auf den Brief an den Vater geantwortet?
Hermann hätte sagen können: Mein lieber Franz, dir war als Erwachsener alles freigestellt. Du konntest studieren, was du wolltest, du konntest reisen, wohin du wolltest. Deshalb ist es nicht glaubwürdig, dass du als 36-Jähriger immer noch behauptest, von mir geknebelt zu sein. Etwa so hätte der gesunde Menschenverstand geantwortet.

Kafka gefiel den Frauen so gut, dass er gelegentlich fliehen musste. Von einer Weinstubenkellnerin, mit der er ganze Tage im Bett verbrachte, ließ er sich »Franzi« nennen.
Sexuelle Erfahrungen machte er reichlich, denn Frauen fanden ihn charmant und geistreich. Er war alles andere als ein lichtscheuer und lebensflüchtiger Stubenhocker. Er schwamm, ruderte, nahm Reitstunden und machte gewaltige Fußmärsche. Er war der Einzige am Tisch der Kafkas, der immer gebräunt war.

Trotz diverser Verlobungen blieb Kafka Junggeselle. Im Brief an den Vater schrieb er dazu: »So wie wir aber sind, ist mir das Heiraten dadurch verschlossen, dass es gerade Dein eigenstes Gebiet ist. Manchmal stelle ich mir die Erdkarte ausgespannt und Dich quer über sie hin ausgestreckt vor. Und es ist mir dann, als kämen für mein Leben nur die Gegenden in Betracht, die Du entweder nicht bedeckst oder die nicht in Deiner Reichweite liegen.«
Ich glaube, Kafka versucht hier, Bilder zu finden für Hemmnisse, die im Wesentlichen unbewusst wirkten. Sein bewusstes Grundgefühl aber war: Ich bin kein Familienmensch, ich bin ein Einzelgänger durch und durch und kann meine Begabung nur aus-leben, wenn ich mich nicht an jemanden anpassen muss, mit dem ich zusammenlebe. Autobiografische Texte von Kierkegaard und Grillparzer haben ihn darin noch bestärkt.

Warum ist bei Kafka Sex mit Angst besetzt?
Die Leute denken immer, es sei hochneurotisch, dass Sex und Angst bei Kafka so nah beieinander sind. Das ist Unsinn, bei Max Brod war das genauso, wie seine Tagebücher beweisen, nur konnte der das zeitweise verdrängen. Wer nicht mit der eigenen Ehefrau schlief, hatte panische Angst vor Schwangerschaften und Geschlechtskrankheiten, das war unvermeidlich. Aber bei Kafka kommt noch ein individuelles Problem dazu. Vor allem in seinen späteren Jahren hatte er das Gefühl, ein ganz und gar instabiles Ich zu bewohnen, das jederzeit einstürzen könne. Er hatte buchstäblich Angst davor, die Kontrolle zu verlieren und verrückt zu werden. Daher versuchte er, alles zu vermeiden, was ihn allzu sehr aufwühlen würde. An Milena zum Beispiel schrieb er sinngemäß: Ich bin doch schon selig beim bloßen Zusammensein mit dir, wozu dann noch Sex? Das konnte sie natürlich nicht akzeptieren.

Kafka war Kunde in Bordellen. War das russisches Roulette?
Er wusste immerhin, dass die Prostituierten jede Woche zur ärztlichen Untersuchung mussten. Andernfalls galten sie als illegal und riskierten eine Haftstrafe. Trotzdem, diese zeittypische Lockerheit, mit der man Frauen kaufte, kam Kafka bereits vor seinem dreißigsten Lebensjahr abhanden.

Wie erklären Sie Kafkas grausame Selbstzerstörungsfantasien?
In seinen Texten gibt es sadistische, masochistische, exhibitionistische und homosexuelle Szenen. Weil sein Ich eine sehr dünne Membran hatte – so stelle ich es mir vor –, hatte er privilegierten Zugang zu psychischen Vorgängen, die bei uns allenfalls im Traum auftauchen. Das ist natürlich ein sehr anstrengendes Leben. Er wurde permanent geflutet, von innen wie von außen, und er musste es manchmal aufschreiben, um besonders unangenehme Fantasien wieder loszuwerden. Deswegen auch die Irritierbarkeit, die Lärmempfindlichkeit, die Schlaflosigkeit, die Kopfschmerzen.

Als Kafka nach vierzig Jahren und elf Monaten Lebenszeit im Juni 1924 an Tuberkulose starb, umfasste sein veröffent-lichtes Werk 350 Druckseiten. Von keinem seiner Bücher waren mehr als ein paar Tausend Exemplare verkauft worden. Zur Bestattung am Rande Prags erschienen weniger als hundert Menschen.
Sie sagen es, sein veröffentlichtes Werk war eben sehr schmal. Er war kein Unbekannter, aber man musste sich für neuere Literatur schon explizit interessieren, um mitzubekommen, dass da in Prag ein Supertalent auf seinen Durchbruch wartete. Man braucht sich nur vorzustellen, Kafka hätte den Process vollendet und öffentlich daraus vorgelesen. Dann wäre alles anders gekommen, in allen großen Blättern wäre er rezensiert worden, und sein Verleger Kurt Wolff hätte ihm Vorschüsse für künftige Arbeiten gezahlt.

Einen Tag vor seinem Tod schrieb Kafka einen freundlichen Brief an die Eltern, in dem er sich daran erinnerte, wie er einst mit dem Vater im Bad an der Moldau ein Glas Bier trinken durfte. Wollte er mit seinem Kontrahenten Frieden schließen?
Das letzte Gefühl dem Vater gegenüber war eine stille Trauer, dass alles so schiefgelaufen war: So, wie du warst, und so, wie ich war, konnten wir uns nicht verstehen. Der Brief zeigt aber auch, dass Kafka den Vater von seinem Krankenlager unbedingt fernhalten wollte. Erneut diese ständigen lautstarken Entscheidungen über seinen Kopf hinweg, das hätte er nicht ertragen. Kafka wollte die Fäden jetzt endlich in der Hand behalten, gemeinsam mit seiner sehr liebevollen letzten Freundin Dora Diamant. Frieden konnte er nur finden, wenn ihn die Eltern in Frieden ließen.

Sie haben mehr als zwanzig Jahre mit Kafka im Kopf verbracht. Welche Folgen hat das?
Natürlich kommen da identifikatorische Prozesse in Gang, das kann man gar nicht verhindern. Ich stelle mir vor, dass es Romanautoren ähnlich ergeht. Als ich zum Beispiel das Sterbekapitel schrieb, konnte ich tagelang nicht aus dem Haus. Es wäre undenkbar gewesen, mit irgendwem Mittagessen zu gehen und über Tagespolitik und Wetter zu reden. Ich versuchte mich in die Situation eines Menschen zu versetzen, der in einem Sanatorium unter Höllenquallen um sein Leben kämpft. Und ich hatte nach der langen Arbeit des biografischen Schreibens tatsächlich das Gefühl, einen nahen Menschen zu verlieren.

Kafka starb an Kehlkopftuberkulose.
Drei, vier Wochen vor seinem Tod rieten ihm die Ärzte, nicht mehr zu sprechen, um den Kehlkopf zu schonen. Er konnte nicht den kleinsten Schluck Wasser nippen ohne ungeheure Schmerzen. Wenn er etwas zu sich nehmen sollte, musste er vorher eine betäubende Injektion in den Rachen bekommen, um schlucken zu können. Er wollte dann immer, dass Dora Diamant aus dem Zimmer geht, damit sie das Gewürge nicht miterleben musste. Aber er wusste, Dora wird mich überleben, sie muss nach Prag fahren und meinen Tod den Eltern klarmachen – das waren natürlich Horrorfantasien.

Was würden Sie Kafka gern fragen?
Lustig wäre es, ihn mit den zirka 20 000 Büchern zu konfrontieren, die über ihn geschrieben wurden. Ich wüsste sehr gerne, wie er wirklich über seinen Freund und Förderer Max Brod dachte. Das intellektuelle und sprachliche Gefälle zwischen den beiden war eklatant. Liest man Brods private Notizen, glaubt man, das hat ein pubertierender 14-Jähriger geschrieben, es ist trostlos. Aber Kafka hat Brod gebraucht, und er hat ihn auch gemocht, über all diese Differenzen hinweg. Der Verdacht liegt allerdings nahe, dass er ihn in seinem Tagebuch geschont hat, in der Erwartung, dass Brod das eines Tages ohnehin lesen wird. Also, Doktor Kafka, wie verhielt es sich damit wirklich?

Träumen Sie von Kafka?
Das fehlte noch. Dinge, mit denen man sich tagsüber ständig beschäftigt, müssen nachts nicht bearbeitet werden. Nachts sind die Sachen dran, die man tagsüber weggedrängt hat.

Feiern Sie Kafkas Geburtstag?
Wenn ich allein war, bin ich meistens darüber hinweggegangen. Wenn ich nicht allein war, habe ich mit irgendwas angestoßen. Ansonsten bin ich weitgehend ritualfrei.

Haben Sie Kafka-Devotionalien?
Ich besitze einen leeren Briefumschlag, auf den Kafka mit sehr schöner Handschrift seinen Namen, seine Adresse und die seiner Verlobten geschrieben hat: »An Fräulein Felice Bauer, Carl Lindström AG, Berlin O-17«. Immerhin ein Autograf.

Woher haben Sie den Umschlag?
Vom Sohn von Felice Bauer geschenkt bekommen.

Was ist der Umschlag wert?
So um die 10 000 Euro. Ein kompletter Brief kostet zwischen 100 000 und 150 000 Euro. Die Preise für Kafka-Autografen steigen immer weiter, es ist Wahnsinn. Für das Manuskript vom Process hat das Literaturarchiv Marbach 1988 drei Millionen Mark bezahlt. Heute könnte man bei einer Versteigerung sicher das Zehnfache erzielen. Oder nehmen Sie die Korrespondenz mit Felice Bauer, die in irgendeinem privaten Safe schlummert. Auch für diesen Pappkarton mit gut 500 Karten und Briefen müssten Sie mittlerweile einen achtstelligen Betrag anlegen.

»Ohne Empathie ist jeder Biograf verloren.«

Reiner Stach, 63, ist Literaturwissenschaftler. Er war als Lektor tätig, ehe er ab 1996 an seiner dreiteiligen Kafka-Biografie arbeitete. »Kafka. Die frühen Jahre«, »Kafka. Die Jahre der Erkenntnis«, und »Kafka. Die Jahre der Entscheidungen« sind bei S. Fischer erschienen.

Foto: Oliver Helbig

Der letzte weiße Fleck in der Kafka-Forschung ist der Nachlass von Max Brod, um den seit Jahren vor israelischen Gerichten gestritten wird.
Ich fürchte, der Prozess wird bis zum obersten Gerichtshof gehen und noch mehrere Jahre dauern. Der riesige Nachlass umfasst allein 20 000 Briefe. Er liegt teils in Tresoren, teils in einer Privatwohnung in Tel Aviv, bewacht von einer 80-jährigen Dame, die jede Menge Katzen hält. Sie heißt Ewa Hoffe und ist die Tochter der Brod-Erbin Ester Hoffe. Seit Jahrzehnten haben die Hoffes niemanden in diese Wohnung gelassen, natürlich auch mich nicht, und es ist zu befürchten, dass sich die Papiere nicht im besten Zustand befinden. Nachdem in der israelischen Presse die Falschmeldung verbreitet worden war, in dieser Wohnung lägen unbekannte Kafka-Manuskripte, ist zweimal eingebrochen worden. Das ist alles ziemlich traurig.

Was lässt Sie im Alltag an Kafka denken?
Wenn ich zum Beispiel in einem startenden Flugzeug sitze, denke ich oft daran, wie er wohl eine solche Erfahrung aufnehmen würde – er, der damals diese zwanzig Meter hoch fliegenden Kisten anstaunte. Oder ich überlege, ob er das Internet ertragen könnte oder das 3-D-Kino mit Surround-Sound. Dass ich seine Beziehung zum Vater manchmal vor dem Hintergrund meiner eigenen Erfahrungen sehe, ist natürlich auch nicht zu vermeiden. Irgendwo gibt es da Parallelen, das ist ja sicherlich die Voraussetzung dafür, dass man sich in so etwas einfühlen kann. Ohne Empathie ist jeder Biograf verloren.

Wie sind Sie selbst vom Vater losgekommen?
Ich habe mich mit 17 von der Familie für eine Zeitlang getrennt. Das ging nicht anders, denn die Konflikte – die eigentlich nur generationentypisch waren, wie ich jetzt weiß – bedrückten mich so, dass ich kaum noch fähig war, mich auf die Schule zu konzentrieren. Ich musste zu einem selbstständigen sozialen Wesen werden, erst dann war ein Neuanfang möglich, aber fortan auf Augenhöhe. Einen solchen Reset hätte Kafka wohl auch versuchen sollen.

Sie gingen mit 17 noch zur Schule. Wovon haben Sie gelebt?
Irgendwelche Jobs, vor allem Nachhilfestunden. Dem Schuldirektor sagte ich mit weichen Knien: Es tut mir leid, aber wenn ich hier Abitur machen soll, und das will ich unbedingt, dann müssen Sie bitte tolerieren, dass ich nicht in jeder Schulstunde anwesend bin, ich muss nämlich nebenher Geld verdienen. Und wenn ich krank bin, muss ich mir meine Entschuldigungsbriefe selber schreiben. Da war natürlich erst mal der Teufel los, denn ich war ja noch längst nicht volljährig, aber der Direktor akzeptierte es schließlich. Sein wichtigstes Anliegen war, dass die Angelegenheit nicht publik wurde, und dadurch konnte auch ich ein bisschen Druck ausüben. Mein Abiturzeugnis war dann deutlich besser als die Zeugnisse vorher. Durch die Freiheit wurde mein Ehrgeiz enorm angestachelt. Man steht dann unter Strom, will sich und anderen etwas beweisen.

Wie sind Sie auf Kafka gestoßen?
Den habe ich schon als Gymnasiast gelesen, außerhalb des Unterrichts. Der entscheidende Kick kam aber erst, als ich mit etwa 27 bei einem Preisausschreiben eine Kafka-Kassette gewann, in der auch die Tagebücher enthalten waren. Die kannte ich bis dahin nicht, und die Lektüre fiel in eine doppelte Krisensituation. Ich hatte eine Trennung hinter mir, und ich musste mich endlich entscheiden, ob ich in Mathematik oder Literatur meinen Uni-Abschluss mache. Deshalb war ich ein bisschen im freien Fall. In dieser Situation die Tagebücher von Kafka zu lesen, war ein unglaubliches Erlebnis. Ich verlor erst mal jede Distanz und wurde zum Fan. Wahrscheinlich kann man auch nicht sein halbes Leben einer solchen Figur widmen, ohne mal ihr Fan gewesen zu sein.

1985 promovierten Sie über Kafkas erotischen Mythos, anschließend waren Sie Wissenschaftslektor beim S. Fischer Verlag.
Zum Lektor muss man geboren sein, aber ich merkte allmählich, dass ich selber Schreib-Ehrgeiz entwickelte. 1995 habe ich mein Kafka-Projekt im Verlag vorgestellt. Ich las zwei Probekapitel vor. Die Kollegen waren ziemlich platt, und die Verlegerin Monika Schoeller sagte: Machen Sie genauso weiter!

Ahnte die Verlegerin, dass Ihr Projekt erst 19 Jahre später vollendet sein und drei Bände mit zusammen 2037 Seiten umfassen würde?
Natürlich nicht. Ich hatte ja selbst noch kein Gefühl dafür, mit welchem Aufwand ich zu rechnen hatte. Wie komplex Kafkas Lebenswelt war und was man sich da alles an Wissen draufschaufeln muss, habe ich, ehrlich gesagt, unterschätzt.

Ohne die Selbstausbeutung von Autoren könnte kein Verlag überleben. Lagen Ihre Vorschüsse über Hartz-IV-Niveau?
Sie lagen deutlich darüber, der Verlag hatte mir einen sehr großzügigen Vertrag geboten. Aber ich hatte ja zugunsten dieses Riesenprojekts alle beruflichen Bindungen gekappt. Und so waren anfangs nicht die Finanzen das Problem, sondern die Angst zu scheitern, die Angst, was danach käme.

Wovon lebten Sie, als die Vorschüsse aufgebraucht waren?
Bei den ersten beiden Bänden sprang jeweils die S.Fischer Stiftung ein. Sehr schwierig wurde es erst beim letzten Band, als die Stiftung nur noch eine kurzfristige Förderung übernahm. Ich habe dann einen ausführlichen Brief an Jan Philipp Reemtsma geschrieben …

… Erbe eines großen Vermögens und bedeutender Kulturmäzen.
Es war fabelhaft, sein Ja kam nach wenigen Tagen. Normalerweise dauert es bis zu einem halben Jahr, ehe Stiftungen entscheiden. Ohne seine Hilfe hätte ich einen privaten Kredit aufnehmen müssen. Meine Neurosen mögen es gar nicht, dass ich mich verschulde, aber ich hätte es gemacht. Es wäre ja absurd gewesen, so ein Riesending auf der Ziellinie scheitern zu lassen.

Hatten Sie Nebeneinkünfte?
Wenn in einem Bundesland Kafka Abiturprüfungsstoff war, habe ich an Gymnasien oder in Lehrerseminaren Vorträge gehalten. Die Angst vor Kafka ist so groß, auch bei den Lehrern, dass ich damit Geld verdienen und gleichzeitig einigen Leuten helfen konnte.

Kann man Sie immer noch buchen?
Ja. Demnächst ist Nordrhein-Westfalen dran.

Stimmt es, dass Sie Ihre Kafka-Forschungen auch mit Poker finanzierten?
Ich habe Online-Poker gespielt. Der naive Plan war, mit regelmäßigen Gewinnen später meine Rente aufzubessern. Aber nach zwei Jahren verlor ich die Lust daran: Poker ist ein absolut ödes Spiel.

Wie gut sind Sie?
Nicht virtuos, aber besser als der Durchschnitt, ich bleibe im Plus. Um damit wirklich hohe Beträge zu erspielen, muss man allerdings erhebliche Summen investieren, und selbst wenn ich die hätte: Beim Online-Poker wird an den teuren Tischen so viel betrogen, dass mir das Risiko zu hoch wäre. Auch das war ein Grund aufzuhören.

Ihre Kafka-Biografie gilt als Meilenstein und wird weltweit mit Hymnen bedacht. Werden Sie jetzt vermögend?
Schön wär’s. Voraussichtlich in diesem Frühjahr wird der Verlag sämtliche Vorschüsse durch die Buchverkäufe wieder eingespielt haben. Erst dann kann ich mit diesem Opus etwas verdienen, und der Verlag natürlich auch. Man erzählt sich unter Autoren und Verlegern ja gern, dass es im deutschen Sprachraum etwa 30 000 Menschen gibt, die bereit sind, auch anspruchsvollere Sachbücher und Romane zu lesen. Wenn das eine realistische Schätzung ist, dann haben wir dieses Reservoir erst zu zwei Dritteln ausgeschöpft.

Wenn es stimmt, dass man auf dem Höhepunkt seines Erfolgs abtreten soll, dürften Sie nie wieder eine Zeile veröffentlichen. Das Problem ist, Sie sind erst 63.
»Erst« ist schön gesagt. Und welcher Autor ist denn je auf dem Höhepunkt seines Erfolgs abgetreten? Ein auf fast zwei Jahrzehnte angelegtes Großprojekt wie diese Kafka-Biografie wird es allerdings in meinem Leben nicht mehr geben, das wäre nicht zu verantworten.

Gäbe es denn eine Figur, die Sie interessiert?
Muss es eine Person sein? Es könnte doch auch eine Epoche sein. Die Mentalität der Kafka-Zeit zum Beispiel interessiert mich immer mehr, je mehr ich darüber erfahre. Hier wurde ausgebrütet, was wir Moderne nennen. Zwischen 1890 und 1910 brachen neue Technologien in unglaublicher Fülle über die Menschen herein, vom Auto und Kino bis zum Röntgenstrahl. Als geradezu gespenstisch wurde das Grammophon empfunden. Das ist mentalitätsgeschichtlich alles hochgradig spannend.

Das klingt wieder nach zwanzig Jahren Arbeit.
Ich plane ja kein Handbuch. Wie sich diese Innovationen in Europa durchsetzen, welche Ängste und komischen Reaktionen sie auslösten, wie die Menschen sie allmählich in ihren Alltag integrierten und zu welchem Preis – das alles lässt sich auch exemplarisch beschreiben. Dazu ge-hören natürlich auch die Gegenbewegungen. Je abstrakter und komplexer das soziale Leben wurde, desto stärker wurde das Bedürfnis nach Einfachheit und Natürlichkeit. Denken Sie an die Lebensreformbewegung. Das erklärt nicht zuletzt den Aufstieg von Figuren wie Rudolf Steiner, den Kafka ja getroffen hat.

Was halten Sie von Steiner?
Bei einem Vortrag in Prag erzählte er im Beisein Kafkas, jedes innere Organ des Menschen korrespondiere mit einem der Planeten. Auch behauptete er, mit den Seelen der Bewohner des versunkenen Atlantis in Kontakt zu stehen. Das wirft zwei Fragen auf: Ist es denkbar, dass dieser Mann, der doch eine umfassende philosophische Vorbildung hatte, diesen Humbug selber glaubte? Und zweitens: Warum fand er damit eine so treue, teils fanatische Gefolgschaft, bei der wiederum viele Gebildete mitmachten? Das ist doch unheimlich. Man könnte hier sicher Aufschlüsse darüber gewinnen, wie Sekten funktionieren und wie allzu kühle Aufklärung den Boden bereitet für ziemlich vorgestrigen Kult. Wenn ich meine Abneigung gegen diesen Scharlatan überwinden könnte, wäre auch das ein künftiges Thema. Ich würde das gern verstehen. Zwei Jahrhunderte lang wurde uns gesagt, man muss die Menschen nur genügend bilden, dann stirbt der Aberglaube ab und die Religionen gleich mit. So läuft das offenbar nicht. Aber wie läuft es dann?