Der verlorene Sohn

Vor zehn Jahren verschwand Daniel Eberhardt. Seine Mutter Karola hofft noch immer, dass er lebt.

Einmal war Karola Eberhardt bei einem Therapeuten, und nach der ersten Sitzung, die auch die letzte war, sagte der Mann: Sie waren eine gute Mutter, Frau Eberhardt, Daniel hätte ihnen längst geschrieben.

Hätte. Wenn was?

Es war gut gemeint. Karola Eberhardt verließ die Praxis und wollte sich auf die Gleise legen. Dann dachte sie: Was ist, sollte Daniel zurückkommen, und du bist nicht da? Das, dachte Karola Eberhardt, wäre eine größere Tragödie als die, mit der sie seit zehn Jahren lebt, seit dem 25. Oktober 2004, dem Tag, an dem ihr Sohn Daniel, geboren am 15. November 1988, zuletzt gesehen wurde. Die Hoffnung, er lebe noch, blieb stärker als ihr Wunsch zu sterben.

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Zehn Jahre. Sie wohnte damals schon drei Jahre in der kleinen Wohnung in Ulm-Böfingen. Sie hatte die heile Welt nicht mehr spielen wollen. Für die Kinder kam die Trennung plötzlich. Daniel war mit seinem sieben Jahre älteren Bruder beim Vater geblieben, in Thalfingen, nur den Berg runter, aber bereits in Bayern. Seitdem hat sie so gut wie keinen Kontakt zu ihrem Ex-Mann.

Könnte sie es rückgängig machen, sagt Karola Eberhardt, würde sie in der Ehe bleiben, nur ein paar Jahre noch, dreizehn ist ein schwieriges Alter. Aber sie dachte, sie kriegen das hin. Sie sagte den Jungs: Egal was ist, meine Tür steht immer offen. Die Wochenenden verbrachte Daniel bei ihr. Es wäre einfacher gewesen, wäre er auch unter der Woche geblieben, alle zehn Minuten fuhr ein Bus nach Ulm. Der Zug aus Thalfingen ging bloß alle anderthalb Stunden. Daniel war so schusselig geworden, manchmal verpasste er die erste Stunde. Aber er wollte beim Papa bleiben. Wie es bei Jungs in dem Alter oft ist: Sie suchen die Anerkennung des Vaters, erst recht, wenn sie keine bekommen.

Daniel hatte Probleme. Er wechselte vom Gymnasium auf die Realschule, nur in Kunst und Sport war er gut. Es gibt aus dieser Zeit ein Video, gefilmt zur Übung für ein Referat über eine Forschungsstation in der Antarktis. Man versteht Daniel kaum, er kriegt den Mund nicht auf, verschränkt die Arme, es wirkt, als wisse er nicht, was er mit diesem großen Körper anfangen soll, in dem er steckt, er sah eher aus wie neunzehn als wie fünfzehn. Er sagte zur Mutter, er wolle mehr aus seinem Leben machen. Du hockst auch nur hier, Mama, sagte er, du musst auch mehr aus deinem Leben machen. Mir müsste man richtig in den Hintern treten, sagte Daniel. Der große Bruder versuchte es. Sie schaut das Video oft, ihr Großer hat es ihr auf den Computer geladen. Lasst den Dani, sagte sie damals, er macht es auf seine Art.

Wenn sie fragte, was er am Wochenende machen wolle, sagte er: »Holn mer Filme«, und sie gingen in die Videothek, mehr nicht. Sie hatten viel unternommen früher, zu den Oldtimer-Ausstellungen oder mal in eine Jugendherberge. Jetzt war er so verschlossen, gleichgültig. Saß bis nachts am Computer, obwohl ihr Internet langsam war. Lass mich, Mama! Sie dachte, vielleicht chattet er mit Mädels. Daniel hatte kaum Freunde. Ein Mitschüler erzählte nach dem Verschwinden, Daniel sei gemobbt worden. Die Mittagspausen verbrachte Daniel im Internetcafé. Als Karola Eberhardt dort ihren Flyer kopierte, mit dem sie nach ihm suchte, erkannte man ihn. Auf den Computern im Internetcafé und zu Hause fand die Polizei nichts Ungewöhnliches.

Am 25. Oktober 2004 hatte Daniel bis 16 Uhr Technik-Unterricht. Danach stellte er dem Lehrer noch Fragen zum Lehrstoff. Der Lehrer sagt, so interessiert, so gelöst sei Daniel nie gewesen. Mitschüler sahen ihn um 16.15 Uhr in den Bus steigen. Um 17.35 Uhr notierte ein Fahrkartenkontrolleur in der Regionalbahn 22534 Richtung Thalfingen Daniels Personalien. Er hatte mal wieder sein Schülerticket vergessen. Danach bestieg Daniel vermutlich wieder einen Zug Richtung Ulm. Gesucht wird … 1,77 Meter groß … Mittelblondes Haar … Hinweise an die Kriminalpolizei Ulm, 0731/18 80, oder jede Polizeidienststelle …

Dieses Erlebnis ist ein Trauma, sagt Karola Eberhardt. Ich muss es mir wieder und wieder vorstellen: das Warten. Das Auf-die-Uhr-Schauen. Als die Sonne wieder aufging. Als der Fernsehreporter kam und sie sagte, sie könne nicht raus, weil sie am Telefon bleiben müsse. Falls. Besorgen Sie sich doch ein Handy, sagte der Reporter, machen Sie eine Rufweiterleitung. Sie hat dieses Handy seither immer bei sich. Nach zwei Monaten, im Dezember 2004, ging sie wieder zur Arbeit, Karola Eberhardt ist Verwaltungsangestellte in einer Behörde. Sie blieb lange im Büro, sie wollte nicht nach Hause, wo sich die Nachbarn sorgten, weil sie die ganze Nacht schluchzte. Manchmal fuhr sie einfach los, das half, in die Städte, Augsburg, Nürnberg, München, Stuttgart, in die Kneipen, Jugendclubs. Kennt ihr den?

Zehn Jahre. Sie hatte immer Angst vor diesem Jahrestag. Die Zeit vergeht so schnell. Es sind nur wenige Seiten im Fotoalbum, und aus dem kleinen Jungen, blond und rund und lachend, wird der junge Mann, groß und kantig und abgewandt, der Daniel war, als er verschwand, aus ihrem Leben, das er seither noch mehr bestimmt als zuvor, und aus dem Fotoalbum, dessen folgende Seiten leer sind. Karola Eberhardt ist in der Zwischenzeit umgezogen, ein paar Häuser weiter, die Telefonnummer hat sie behalten und Daniels Zimmer so eingerichtet, wie es gewesen war, der Lamborghini Diablo über dem Bett. Die Zeit ist stehengeblieben, aber sie vergeht noch immer so schnell.

Am Montag, dem 25. Oktober 2004, kündigt Baden-Württembergs Ministerpräsident Erwin Teufel seinen Rücktritt an. Paul van Dyk und Heppner stehen mit ihrem Song Wir sind wir in den Charts. In Daniels Schreibtischschublade hat Karola Eberhardt einen Zettel gefunden, mit Bleistift beschrieben, kaum leserlich: »Paul van Dyk feat. Heppner, Wir sind wir«, sie hat sich das angehört: »Das kanns noch nicht gewesen sein, keine Zeit zum Traurigsein«, wie passend. In seiner Schublade hat sie auch das Bild entdeckt, auf dem Daniel sich gemalt hat, wie er von einer Klippe springt.

Der Hausmeister fand bald in Daniels Schulspind: seine Jacke. Seinen Geldbeutel samt Papieren. Seine Brille. Sein Handy. Alle seine Schulbücher. Ein Polizist sagte: Wer seine Sachen zurücklässt, hat andere Absichten, Frau Eberhardt. Karola Eberhardt sagt: Es war ein warmer Herbst, er brauchte keine Jacke. Die Brille hatte Daniel erst seit Kurzem. Und wenn er ohne Brille nicht weit gekommen wäre, wie der Beamte sagte, hätte er sie doch auch benötigt, wenn er sich wirklich hätte … Wenn sich jemand umbringt, muss es doch eine Leiche geben. Die Suchtrupps hatten doch die Umgebung durchkämmt. Sie kam mit dem zuständigen Beamten nicht zurecht, der sprach immer von Hinweisen, die er »abarbeiten« wolle. Es ging doch nicht um ein gestohlenes Fahrrad!

Seit 2011 hat Karola Eberhardt keinen Kontakt mehr zur Polizei, sie traut sich nicht, sie sagt, man habe sie dort als verrückte und lästige Mutter abgestempelt, na, Frau Eberhardt, wo waren Sie diesmal? Sie ist die Mutter, die zweimal in Aktenzeichen XY … ungelöst auftauchte. Die dem Junkie aus Augsburg Geld gab, weil er behauptete Daniel wohne bei ihm, und er werde ihn später holen. Die einen Privatdetektiv engagierte. Die nach Straßburg fuhr, wegen eines Tipps in Richtung Fremdenlegion, Daniel liebte alles Militärische, er hatte anfangen wollen, sich fit zu machen. Ein Taxifahrer erinnerte sich an den Deutschen, der zur Rekrutierungsstelle wollte, der Name »Eberhardt« war in einem Hotel vermerkt. In Aubagne bestätigte ein Major, Daniel gesehen zu haben, und erzählte, ihr Sohn sei wegen seines zu niedrigen Alters abgelehnt worden. Sie war die Mutter, die auf jedem Bauernhof um Montélimar ihre Flyer verteilte, weil eine Deutsche an einer Raststätte dort mit Daniel gesprochen haben wollte – er verdinge sich in der Landwirtschaft und sehe aus wie Jürgen Klopp. Sie waren früher oft im Urlaub in Frankreich gewesen, es hatte Daniel gefallen. Sie war die Mutter, die immer wieder fragte: Was ist denn mit den Aussagen, Daniel sei mit einer Drückerkolonne unterwegs und verkaufe Zeitschriftenabos an Haustüren? Immer hieß es: nichts. Sackgasse.

Sie wusste doch selbst nicht, ihr blieb nur, weiterzusuchen, weiterzuarbeiten, weiterzubeten. Sie war die Mutter, die viel zu oft zu der Hellseherin ging, die sich über die Polizei gemeldet hatte, die Polizei selbst hatte laut Karola Eberhardt gesagt, die Frau habe in einer Vermisstensache richtig gelegen. Die Hellseherin sah Daniel in Armeekleidung. Feuer. Erdbeben. Malaria. Ich weiß, sagt Karola Eberhardt, dass es verrückt klingt, aber da war immer ein Funken Wahrheit. Es klingt verrückt, aber ich habe mir das mit der Fremdenlegion doch nicht ausgedacht. Es klingt verrückt, aber es hat mir geholfen, Daniel jedes Jahr zum Geburtstag und zu Weihnachten etwas zu schenken. Und es klingt verrückt, aber da waren diese Anrufe, jahrelang, Stunden war jemand am anderen Ende der Leitung, und Karola Eberhardt legte nicht auf, da war ein Atmen. Sagte sie: Daniel, gib mir ein Zeichen, dann habe es Klopfgeräusche gegeben. Die Anrufe hörten auf, die Hinweise wurden weniger. Nur die wirklich Verrückten hörten nicht auf, sich zu melden, per Telefon, per Mail, per Brief, die Kontaktdaten sind ja öffentlich, weil eine freiwillige Helferin so nett war, eine Webseite einzurichten.

Ich weiß, wo Ihr Sohn ist, überweisen Sie 3500 Euro!
Ich hatte eine Vision, er ist freiwillig aus dem Leben geschieden!

Oder Zeugen, die erst glaubwürdig klangen und dann nicht mehr aufhörten zu behaupten, sie hätten Daniel erneut gesehen, sie trügen sein Foto immer bei sich. Der Ex-Mann gab nach einigen Monaten die Hoffnung auf, je wieder von Daniel zu hören. Jeder geht anders damit um. Der ältere Sohn ertrug die Suche nach dem geliebten Bruder irgendwann nicht mehr. Er wollte auch leben. Er sah immer Daniels Foto auf dem Tisch stehen, wenn er zu Besuch kam, mit dem Rosenkranz behängt. Stell doch wenigstens ein Foto vom Älteren daneben, sagte eine Kollegin.

Nach zehn Jahren kann eine verschollene Person für tot erklärt werden. Dann kann man als Angehöriger nach Paragraf 3 des Verschollenheitsgesetzes die Hoffnung offiziell aufgeben. Manchmal denkt Karola Eberhardt, sie sei die Einzige, die noch daran glaubt, dass Daniel lebt. Immerhin, ihre Schwester macht ihr Mut, auch Daniels ehemaliger Lehrer. Viele Freunde von früher meidet sie aber, sie will ihnen nicht auf die Nerven gehen. Einmal war sie bei Freunden zu Besuch gewesen, und im Fernsehen kam ein Film, in dem jemand im Meer ertrinkt, natürlich, dachte sie, im Meer findet man niemanden, in den Seen um Ulm würde man ihn finden, aber im Meer!

Und wenn sie doch mal fröhlich ist, wie zuletzt an ihrem Geburtstag, hat sie ein schlechtes Gewissen. Sie ist am 25. Oktober 2014 dann nach Frankreich gefahren, 1100 Kilometer hin und zurück, auf einen Pferdehof in der Nähe von Montpellier. Eine Frau hatte behauptet, dort Daniel gesehen zu haben, mittlerweile hatte sie revidiert: Er sei es doch nicht. Aber Karola Eberhardt wollte am Jahrestag nicht zu Hause sitzen. Der Mann auf dem Pferdehof sprach Deutsch. Er war nicht Daniel.
Was sie heute glaubt? Ich glaube, sagt Karola Eberhardt, dass er in etwas Kriminelles oder in eine Sekte geraten ist, er war so gutgläubig, nachdenklich. Ich muss das glauben, sagt sie. Vielleicht will er auch einfach keinen Kontakt mehr zu mir. Das wäre weniger schrecklich als sein Tod.

Wenn sie von ihm träumt, ist Daniel ein Kind. Oder er kommt wieder nach Hause, dann sind es keine schönen Träume, sie träumt von der Angst, er könnte wieder gehen. Wegen der starken Schlafmittel, die sie damals nahm, schläft Karola Eberhardt keine Nacht durch. Im Herbst wird sie sechzig, ihr Bluthochdruck wird immer schlimmer. Wenn er vor meiner Tür stünde, sagt sie, würde ich ihm keine Vorwürfe machen. Als sie das sagt, an einem Winterabend, klingt ihre Stimme, als würde Karola Eberhardt weinen, aber es kommen schon lange keine Tränen mehr. Dann klingelt ihr Telefon. Das Display zeigt die Landesvorwahl 0034. Spanien. Karola Eberhardt sagt, diese Nummer habe schon mal angerufen. Hallo? Hallooo. Halloooo. Wer ist da? Daniel? Die Verbindung endet. Online findet Karola Eberhardt die Nummer. Es wird gewarnt, es handele sich um als Meinungsumfrage getarnte Verkaufsgespräche. Ich ertrage das nicht mehr, sagt Karola Eberhardt.

Kurz vor dem zehnten Jahrestag am 25. Oktober 2014 wurde der vermisste Sohn einer Mutter, die Karola Eberhardt bei Aktenzeichen XY … ungelöst kennengelernt hat, nach drei Jahren tot in Tschechien gefunden. Ein Verbrechen wird ausgeschlossen. Sie würde Daniel gern sagen, sie glaube daran, dass er zu etwas Außergewöhnlichem fähig war. Sie würde ihm gern sagen: Schau doch, wie viele Menschen Anteil an deinem Schicksal nehmen, du bist nicht allen egal!

In der Gegend um den Pferdehof bei Montpellier hat es Karola Eberhardt sehr gefallen, es war so friedlich. Manchmal, sagt sie, würde sie am liebsten alles hinter sich lassen und in irgendeinen Zug steigen, der weit weg fährt.

Fotos: Jens Schwarz