Schwein, gehabt

Hurra, Deutschland ist Europameister! Nun ja, im Schweineschlachten. Über eine schier unglaubliche Meisterleistung, die einen erst staunen lässt - und dann nachdenklich stimmt.

Normalerweise neige ich beim Essen nicht zu zwanghafter Kontrolle, doch heute musste ich nachwiegen: Die Scheibe Schinken, die auf der einen Hälfte meiner Frühstückssemmel lag, wog 31 Gramm, die drei Stückchen Salami von der anderen Hälfte zusammen 20 Gramm. Macht zusammen 51 Gramm Wurst und Schinken, mehr Fleisch habe ich heute nicht konsumiert. Mittags gab es gar nichts, abends habe ich eine Basilikum-Pflanze geschlachtet und zu Pesto für Spaghetti verarbeitet. Wenn ich jeden Tag so frühstücken würde – was ich aber nicht tue, meist gibt es nur Kaffee – käme ich auf einen Jahreswurstverbrauch von 18,615 Kilo.

Dann kommen noch ein paar Schnitzel obendrauf und die eine oder andere Scheibe Schweinebraten, und wenn ich betrunken bin, auch mal eine Currywurst. Nach Mitternacht schmeckt die am besten. Auf 101,35 Kilo – das war 2014 das durchschnittliche Schlachtgewicht eines deutschen Schweines – komme ich so nicht. Müsste ich aber ungefähr, denn in Deutschland wurden im letzten Jahr achtundfünfzigmillionensiebenhundertfünfunddreißigtausend Schweine geschlachtet (in Zahlen: 58 735 000), damit waren wir wieder einmal Europas Nummer Eins.

Und wenn man nun einmal ganz grob rechnet und von den 80 Millionen Deutschen alle Mitglieder nicht-schweinefressender Minderheiten abzieht (Muslime, Vegetarier, Juden, Veganer, Damen auf Diät, Zahnlose jeden Alters), bleibt also für jeden anderen eine ganze Sau zum Verzehr übrig. Vor vier Jahren habe ich im Zuge einer längeren Recherche in einer Großmetzgerei gearbeitet. Ich habe dort zwar kein einziges Schwein geschlachtet, das würde ich wahrscheinlich auch nicht übers Herz bringen. Ich habe aber welche aus dem Kühllaster getragen, in dem sie angeliefert wurden, praktischerweise schon halbiert und ausgeblutet. Trotzdem lief mir ab und an ein wenig Schweineschorle in den Kragen.

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Ich habe ihr Fleisch mit sehr scharfen Messern von den Knochen getrennt und dabei einige Filets versaut, habe die weniger guten Fleischstücke mit Gewürzen und viel Fett in ein wunderliches Gerät namens »Blitz« geworfen, das aus ihnen in Sekundenschnelle Schweinebrei gemacht hat, den wir dann in Därme gefüllt haben. Ich war beeindruckt: Übriggeblieben ist von den Schweinehälften quasi gar nichts. Fast alles wurde verarbeitet – wobei der Besitzer eher von Profitmaximierung geleitet war, als von der Indianer-Ethik, dass ein Tier eben ganz aufgegessen wird, wenn es schon sterben muss. Und was da genau in den Leberkäse hineinkommt, merkt ja sowieso keiner.

Trotz dieser Erfahrung esse ich immer noch gerne Fleisch. Weil ich aber auch weiß, was mit ihm passiert, bevor es auf meinen Teller kommt, versuche ich, es nicht zu übertreiben – bei der Zahl von 58 Millionen und paar Zerquetschten und Zerfetzen wurde mir aber ziemlich übel. Weil das sind: rund 160 900 Schweine pro Tag, rund 6700 in der Stunde, rund 111 pro Minute, knapp 2 Schweine pro Sekunde. Ticktack, bumm, zack: wieder zwei.

Anderes Zahlenspiel: Wir schlachten in einem Jahr so viele Schweine, wie Italien Einwohner hat. Das Land, das tonnenweise Salami, Mortadella und Prosciutto exportiert, liegt in der Schlachtstatistik mit etwas über zehn Millionen abgeschlagen an achter Stelle – weil ein großer Teil des Fleisches für all diese Salamis, Prosciuttos und Mortadellas aus Deutschland kommt. Natürlich haben wir Deutschen nicht alle 58 735 000 Schweine selbst aufgegessen, da hätte ich eigentlich gar nicht wiegen und rechnen müssen. Der durchschnittliche Deutsche, das verraten ein paar Klicks, verbraucht 52,8 Kilo Schwein im Jahr, das entspricht ungefähr einer halben Schweinehälfte. Die andere tritt dann wohl post mortem eine Reise ins Ausland an.


Nun kann man natürlich sagen: Das ist doch gut, Arbeitsplätze, Arbeitsplätze, Arbeitsplätze. Und überhaupt: Wer sich über günstige Nahrung beschwert, ist ein arroganter Pinsel und hatte noch nie Hunger. Schon klar. Man kann aber auch sagen: Dieser Europameister-Titel ist ziemlich traurig. Einige Züchter bemühen sich sicher um ihre Tiere. Aber dass man diese schiere Masse nicht artgerecht halten kann, wenn das Produkt ja am Ende nicht nur günstig, sondern möglichst billig sein soll, belegen einerseits lange Berichte, andererseits diese absurd hohe Zahl: 58 735 000.

Und obwohl ich wohl auch morgen wieder eine Scheibe Schinken auf meine Semmel legen werde, hätte ich kein Problem damit, den Titel zweitplatzierten Spaniern zu überlassen – das nennt man wohl kognitive Dissonanz. Ein Vorschlag, liebe Spanier: Ihr dürft nächstes Jahr-Europameister im Schweineschlachten werden – und wir kriegen dafür den Titel bei der Fußball-EM. Einverstanden?