Mitleid für den Kotzbrocken?

Ein aufgrund seines Verhaltens unbeliebter Kollege erkrankt an Multipler Sklerose und benötigt Unterstützung. Ist es vertretbar, ihm nicht zu helfen?

»Ein Kollege ist schwer an Multipler Sklerose erkrankt. Er war schon vor der Erkrankung eine sehr unsoziale, unangenehme Person, die jeden verklagt und denunziert hat. Nun ist er beim Weg zum Auto auf Hilfe angewiesen. Niemand möchte helfen, da wir für seinen Weg nach Hause nicht verantwortlich sind und es uns einfach unangenehm ist, ihm zu helfen. Ist das vertretbar?« Hans A., Berlin

Es mag hart klingen, aber zur Selbstbestimmung gehört auch, dass jeder Mensch die Früchte seines selbst bestimmten Verhaltens erntet. Vermutlich würde die Welt besser aussehen, wenn jeder bei der Überlegung, wie er mit seinen Mitmenschen umgeht, den Gedanken miteinbezieht, dass er oder sie vielleicht einmal auf deren Hilfe angewiesen sein könnte. Man könnte darin etwas Ähnliches wie eine in die Zukunft gerichtete goldene Regel erblicken. Oder zumindest eine Art sozialer Notbremse: Man sollte sich so verhalten, dass man seine Mitmenschen nicht vollständig vergrault.

Nur, das ist eine Auffassung von Moral, die mir nicht gefällt: Wer so argumentiert, reduziert Moral zu einem reinen Tauschhandel. Sie mag zumindest teilweise ihre Wurzeln dort haben, aber wir haben als moralische Wesen mit Vernunft die Möglichkeit, uns davon zu befreien, darüberzustehen.

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Ihr Kollege hat sich Ihnen gegenüber schlecht verhalten, aber das ist unabhängig davon, dass er nun Hilfe braucht. Einem Hilfsbedürftigen zu helfen ist meines Erachtens eine basale Frage der Gerechtigkeit: das auszugleichen, was ihm aufgrund seines Schicksals fehlt. Das ist nicht verknüpft mit seinem vorherigen Verhalten – bis zu einer gewissen Grenze, falls er etwa fortfährt, Ihnen das Leben schwer zu machen. Sie müssten sich nicht während Ihrer Hilfe piesacken lassen. Wenngleich man für einen kranken Menschen mehr Verständnis aufbringen sollte. Eine schwere Krankheit kann läutern, manchen aber verhärtet sie auch.

Der französische Philosoph André Comte-Sponville spricht von der Barmherzigkeit als der »Tugend, die den Groll und auch berechtigten Hass überwindet«, die vergibt, ohne zu vergessen, zu der auch das Mitleid als Gefühl führen könne. Sie brauchen sich mit Ihrem Kollegen nicht anzufreunden – diese Früchte erntet er –, aber helfen sollten Sie ihm.

Literatur:

André Comte-Sponville, Ermutigung zum unzeitgemäßen Leben. Ein kleines Brevier der Tugenden und Werte, Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, 1998 Dort vor allem das Kapitel „Die Barmherzigkeit“, S. 141-155. Daneben sind aber für die Frage hier auch die Kapitel „Das Mitleid“, „Die Großherzigkeit“ und „Die Gerechtigkeit“ interessant.

Illustration: Serge Bloch