Zu früh gefreut

Vier Millionen Männer leiden an vorzeitigem Samenerguss. Aber was heißt hier eigentlich »leiden«? Es ist Zeit, die landläufige Dramaturgie des Geschlechtsverkehrs zu überdenken.

Wenn eine gesellschaftliche Randgruppe eine gewisse Größe erreicht, gelingt es dieser Gruppe irgendwann, ihr Anliegen, das bisher als eher marginal angesehen wurde, in den Mittelpunkt des gesellschaftlichen Interesses zu rücken. Auf diesem Wege wird oft ein Anliegen, das bisher als möglicherweise eher negativ oder unerfreulich galt, zu etwas Positivem, Wünschenswertem umgedeutet.

Ein gutes Beispiel für dieses Phänomen sind etwa Helene Fischer und ihre Fans.
Bis vor wenigen Jahren galt die aktive Bewunderung für die Arbeit der robusten Schlager-Diseuse als Symptom für Anspruchslosigkeit und Eskapismus. Dann aber überstiegen die Platten- und Konzertkartenverkäufe der hochprofessionellen Hit-Garantin mehrere Millionengrenzen: Ihre Anhängerschaft hatte die kritische Masse erreicht, und seitdem galt und gilt die Musik der gesund aussehenden Gassenhauer-Röhre als »gar nicht so schlecht«, »super gemacht«, »muss man sich einfach mal drauf einlassen«, und ist von keiner Feier mehr wegzudenken (Betriebsjubiläum, WM-Titel).

Wenn alles mit rechten Dingen zugeht, müsste eine ähnliche Umwidmung dem vorzeitigen Samenerguss bevorstehen. Angeblich »leiden« in Deutschland 4 Millionen Männer an der „ejaculatio praecox". Dies sind so viele, dass nicht mehr lange von »Leiden« die Rede sein dürfte. Es kommt einfach darauf an, das Wort »vorzeitig« umzudefinieren.

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Führen wir uns die reine Definitionsmacht von 4 Millionen Menschen vor Augen. Das sind mehr, als mit der Zweitstimme bei der letzten Bundestagswahl die Linkspartei, die Grünen oder die CSU gewählt haben. Es sind mehr als doppelt so viele Menschen, als alle im Bundestag vertretenen Parteien zusammengezählt deutschlandweit Mitglieder haben. Kurz, gesellschaftspolitisch gesehen sind Männer mit vorzeitigem Samenerguss als Kollektiv gesehen ein schlafender Riese, eine politische Macht, die nur darauf wartet, sich ihrer selbst bewusst zu werden und ihr Haupt zu erheben.

Betrachten wir die Faktenlage, die Spielräume für Umdefinition, die diese gesellschaftliche Gruppe hat. Allein die Bedeutung des Wortes »vorzeitig« ist im Zusammenhang mit dem Erguss einschlägiger Körperflüssigkeiten streng genommen verfehlt. Der Duden erklärt »vorzeitig« wie folgt: »früher als vorgesehen oder erwartet«.

Hier ist also die Erwartungshaltung der gesellschaftlichen Norm das Problem, die überlebte klassische Dramaturgie des Geschlechtsverkehrs. Warum soll dieser nicht damit anfangen, womit er nach landläufiger Sicht zu enden hat? Weil es immer so war? Nein, „Das haben wir schon immer so gemacht" ist nicht das Denken, das dieses Land weiterbringt. Und was heißt überhaupt »vorgesehen«: Ein Wort aus der Verordnungssprache, die Regulierungswut des Staates aber hat sich herauszuhalten aus der Festlegung von Ejakulationszeitpunkten (ein Fall für die neue gelb-rosa FDP?).

Man sieht hier bereits eine mögliche Argumentationslinie für die große gesellschaftliche Gruppe der frühzeitig Ejakulierenden: Das, was im Allgemeinen als störend und unerfreulich empfunden wird (z.B. eben Schlagermusik von Helene Fischer, ejaculatio praecox), umzuinterpretieren. Dies muss nicht auf der sprachlichen Ebene verharren, es gibt durchaus auch philosophisch-naturwissenschaftliche Argumente, mit denen sich der vorzeitige Samenerguss entproblematisieren lässt, nämlich etwa so: Wer kann beweisen, dass der »vorzeitige« Samenerguss von heute abend nicht in Wahrheit der außerordentlich lang herausgezögerte, über einen ganzen Tag gerettete Samenerguss von gestern abend oder voriger Woche ist?

Illustration: Eugenia Loli