Die Essenz aller Witze

Kabarettist Claus von Wagner schreibt seit seiner Jugend auf Blöcken, die man sonst nur aus amerikanischen Anwaltsserien kennt. Er klaut sie nach wie vor aus dem Arbeitszimmer seines Vaters.

Wer: Claus von Wagner, Kabarettist, Satiriker („Die Anstalt“), Finanzmarktskeptiker
Was: Yellow Legal Pad (Notizblock), 3er-Pack ca. 10 Dollar
Warum: Muss rein !!!

Mein Teil ist gelb, es schreit geradezu nach Aufmerksamkeit! Das ist nicht einfach nur ein Block, es ist ein Pad. Ein echtes Pad. Ohne Schnickschnack. Ohne »i« davor! Ein Yellow Legal Pad. In Deutschland gab es diese Pads früher gar nicht. Ich versuche hier gerade mein Lieblingsteil hochzujazzen, merkt man das?

Künstler, die berufsbedingt viel lesen und schreiben, referieren sicher gerne über irgendwelche Büroutensilien, die ihrer Kreativität dienlich sind. Das ist normalerweise: Laaangweilig. Aber dieses hier, hat eine Geschichte! Als ich elf Jahre alt war, musste mein Vater eine Zeit lang als Anwalt für Siemens in New York arbeiten. Trennungsschmerz inklusive. Aber immer, wenn er nach Hause kam, brachte er diese gelben Legal Pads aus der US-Kanzlei mit. In so großen Mengen, dass wir heute noch davon zehren. Achten Sie mal drauf, die liegen meistens in amerikanischen Anwaltsfilmen herum. Bei uns lagen sie schon immer im Arbeitszimmer meines Vaters – aus dem ich mich seit meiner Kindheit grundsätzlich frei Haus bediene. Radiergummis, gespitzte Bleistifte, Pads. Kann man seine Eltern überhaupt »beklauen« – als rechtmäßiger Erbe?

Als Jugendlicher habe ich das Pad beim Daddeln mit meinem AMIGA 500-Computer benutzt – um darauf in pedantischer Weise die Lösungswege von Text-Adventures zu notieren, die... sind sie noch bei mir?! Zugegeben: das klingt jetzt sinnlos. War es aber nicht! Ein Beispiel: In der Computerspiele-Zeitschrift »Power Play« – Spiele-Profis schnalzen bei dem Namen heute noch mit der Zunge – hatte damals ein verzweifelter Leser in der Leserecke gefragt, was denn die Funktion dieses verdammten Pelikans beim Text-Adventure »Wishbringer« sei. Hätten sie es gewusst?! Eben. Aber ich wusste das! Es stand auf meinem Legal Pad! Also: Antwort zugesandt. Veröffentlicht. 30 Mark kassiert! Ha! Was der Pelikan bedeutet hat? Tja, haben sie mal 30 Mark...?

In meinem Beruf muss ich viel recherchieren und lesen, lesen, lesen: Zeitungen, Blogs, wissenschaftliche Artikel, Twitter-Fetzen, PDFs, also Infos in welcher Form auch immer. Am Ende fasse ich alles auf dem Computer grob in einem Dokument zusammen, das dann oft 40 Seiten lang und unlesbar ist. Ich ertrinke in Details. Das Pad ist meine Boje in der Informationsflut. Ich zieh mich auf die Wohnzimmercouch zurück und schreibe aus dem Gedächtnis alles auf, was von den Infos bei mir hängen geblieben ist. Quasi die Essenz. Dabei kommen meistens die guten Sprüche zustande.

Meine typische Schreibposition auf der Couch ist: angelehnt, Beine angezogen, Pad auf den Knien. Das klingt jetzt nicht besonders entspannt, aber das Pad ist perfekt für genau diese Stellung. Es hat einen schweren verstärkten Kartonboden. Das US-Format ist auch ein bisschen größer und breiter als deutsche DIN A4-Blöcke. Man muss die Schenkel nicht so zusammenpressen, damit es locker auf den Knien liegt. Zu intim? Ok.

Und nun zum Wichtigsten, dem Seitenrand! Links abgetrennt durch eine rote Doppellinie. Auf diesem Streifen Papier kategorisiere ich meine Pointen. Ein Ausrufezeichen heißt: Gag ist in Ordnung. Das sind meist handwerkliche, saubere Formulierungen mit einer klassischen Witzstruktur, von denen man weiß, dass sie funktionieren – auf die man aber nicht stolz ist. Drei Ausrufezeichen bedeuten dagegen: Muss rein!!! Wenn ich das sogar wörtlich dazuschreibe, hat die Pointe die besten Chancen im fertigen Text zu landen. Irgendwann wimmelt das Blatt von Ausrufezeichen, Umkästelungen, Unterstrichen und bedeutungsvollen Kringeln. Dann wird’s schwierig! Da gibt’s auch schon mal vier Ausrufezeichen! Das eskaliert dann oft. Pointen sind übrigens nicht immer Schenkelklopfer, das können auch leise Gedanken sein, bei denen man erst nachsinnen muss, bevor sie sich voll entfalten.

Bei meinen Recherchen versuche ich auch immer wieder bei Gesprächen mit Experten mitzuschreiben. Das Problem ist, ich kann es danach nicht mehr lesen! Durch das viele Tastaturtippen ist meine eigene Handschrift verkümmert. Auf der Seite hier habe ich zum Beispiel für unsere »Erster Weltkrieg«-Sendung mit einem Nahost-Experten geredet. Da steht: »80%« – dahinter steht nichts mehr. Schade. Ich glaube, das war eine ziemlich interessante Zahl.

Ohne Text dazustehen, diese Stille, wenn die Pointe nicht zündet – das muss man ertragen können. Stille aushalten, sage ich gern. Ich kann das aber nicht. Deshalb rede ich vielleicht in Interviews so schnell, damit keiner merkt, wenn ich einen Moment lang eigentlich nichts zu sagen habe.

»Die Anstalt« ist wahrscheinlich noch eine der wenigen Live-Sendungen ohne Teleprompter, also müssen die Texte sitzen. Das Pad kann ich leider nicht mit in die Sendung nehmen – ein Spickzettel mit meiner Handschrift wäre in so einer Notsituation tödlich. Deshalb kommen die Texte vom Pad noch einmal in den Laptop: Schriftgröße 10, ausdrucken, Spickzettel fertig. Die werden dann überall an mir und im Studio versteckt. Was tut man nicht alles – aus der Angst vor Stille.