Samen-Udo und die Musikverbrecher

Ein Berliner Kneipenwirt schreibt die Spitznamen seiner Stammkunden auf – und herauskommt: pure Poesie.

Berlin-Kreuzberg, die Kneipe heißt »Yorckschlösschen«. Kunstlederne Klemmspeisekarte, ein bisschen klebrig natürlich, außen, die Seiten innen vorsorglich in Kunststoffhüllen. Es gibt »Bier & Co«, »Schnapsideen«, täglich ab 17 Uhr auch »Kleine Küche«. Auf den ersten Blick nichts Besonderes, eine klassische Speise- und Getränkekarte wie in vielen Kneipen. Beinahe hätte ich sie schon wieder zugeschlagen, ein Großes vom Fass, bitte, beinahe hätte ich SIE übersehen: Die letzte Seite, die Liste, das kollektive Kneipengedächtnis, 1001 Nacht. Stammgäste aus drei Jahrzehnten.

Laber-Uwe. Samen-Udo. Socken-Paul. Der Fremde. Namen, es sind nur Namen, Spitznamen, sorgfältig aufgereiht. Und doch ist es viel mehr. Hemingway wird die Anekdote zugeschrieben (vermutlich fälschlicherweise, aber sie ist sehr schön), beim Mittagessen mit Freunden gewettet zu haben: Eine ganze Geschichte bekomme er hin, in nur sechs Wörtern. Den ungläubigen Blicken trotzend, nahm er Stift und Serviette. »For sale: Baby shoes, never worn.« Alles drin, Thema, Charaktere, Problem, Spannungsbogen. So ähnlich ist es hier. Schon beim ersten Überfliegen ploppen Gedanken auf, verbinden sich zu Assoziationsketten, bilden Szenen. Der Heizungsknopf-Starrer bewegt minutenlang den Kopf nicht, bis die Tür aufgerissen wird und Der Fremde mit klackenden Absätzen zu Küchen-Heike an die Theke tritt: Ist Halbohr zu sprechen? Vor mir liegt eine ganze Kurzgeschichtensammlung in 200 Wörtern. Wobei es keine fertigen Geschichten sind, sondern deren Atome, Bausteine des Lebens, ein vierspaltiges Periodensystem, dessen Elemente sich untereinander zu neuen Werkstoffen legieren lassen. Ein Bild sagt mehr als tausend Worte, heißt es. Aber diese Worte hier malen mehr als tausend Bilder.

Die Ausstellung ist kuratiert, das wird in der Überschrift klargestellt: Die Auswahl sei unvollständig und subjektiv. Doch nicht nur die Auswahl ist subjektiv, in vielen Fällen wohl auch die Namensgebung. Nerven-Detlev wird sich wohl selbst nie so genannt haben, Der Idiot erst recht nicht. Wir blicken aus der Warte des Kneipiers, aus der Satirikerperspektive des Tennisschiedsrichters, oberhalb und außerhalb des Spielfelds und immer im Recht.

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Zwei könnten mehr über die Liste wissen, verrät die Bedienung. Golo und Der Amüsierbeamte. Jener Amüsierbeamte heißt Olaf Dähmlow, er hat hier in der Kneipe vor 36 Jahren als Putzmann angefangen. Dann Tresenjob, Kellner, Geschäftsführer, Eigentümer. Die Namen kommen vom Anschreiben, erzählt er. Kein Gast bezahle jedes Bier einzeln, und um die Deckel zuordnen zu können, brauchten sie treffende Namen. Prägnant, offensichtlich: Der Nassgekämmte. Golo alias Herr Rügner alias Wolfgang Rügner hatte dann die Idee mit der Liste. Selbst Stammgast und als Grafiker für das Layout der Karte zuständig. Er liebte die skurrilen Namen, von denen Olaf immer sprach. Das klang nach den Zwanzigern, nach Berliner Ringvereinen, die ganzen Ganoven in den Spelunken hatten solche Spitznamen. Die ältesten Stammgäste wurden zu Rate gezogen, um niemanden von Rang in der Galerie zu vergessen. Wann das war? Vor 15, zwanzig Jahren, sagt Der Amüsierbeamte. Vor fünf, sechs Jahren, meint Golo. Ein Mythos lebt auch von seiner Unbestimmtheit.

Die Klarnamen kennen sie nur von manchen Gästen. Zu schnell bekamen viele ihre Kneipennamen verpasst. Die beiden Alleinunterhalter, die mit ihren Keyboards vorbeikamen, die vorprogrammierten Rhythmen anwarfen und Just a Gigolo mit Honkytonk-Einlage interpretierten – Musikverbrecher 1 und Musikverbrecher 2. Der Junge, der viel zu viel erbte und sich mit einem brennenden Hundertmarkschein vor den armen Schluckern am Tresen die Zigarette ansteckte – Millionen-Willy. Dann verbrannte er sich am Geld die Finger und kam nie wieder. Auch Der Schattenlosewar irgendwann weg. Ein Kleinkrimineller, ein Hobbyverbrecher sei er gewesen, der Schatti, sagt Olaf. Der Schattenlose klaute Autoradios und beging Einbrüche, blieb aber stets unbehelligt. Bis er doch einmal einen Schatten warf und seit seiner Verhaftung nicht mehr gesehen wurde.

Sie kamen und gingen, leise und laut. Der eine saß schweigend mit dem Rücken zum Raum, Ernte 23 schmauchend, ein Weizenbier nach dem anderen, den starren Blick nicht vom Heizungsknopf lösend. Die andere war eigentlich ein Er und schmetterte bei jedem Besuch Opernarien, bis sie zur »Nachtigall von Ramersdorf« wurde.

Es ist eine Rückkehr, weg von den bedeutungslos gewordenen Nachnamen zu den sprechenden. Den Berufsbezeichnungen und Eigenschaften, wie im Mittelalter. Wer heute ein »Koch« auf dem Klingelschild stehen hat, stammt vermutlich von einem Küchen-Peter ab. Jürgen könnte »Lang« mit Nachnamen heißen, doch ist er nur 1,69 Meter groß, nimmt die Kneipe ihm sein zu Unrecht geerbtes Körpermerkmal ab. Hier ist er Der kleine Jürgen. Die Kneipe ist ehrlich, die Kneipe ist direkt.

Golo und Der Amüsierbeamte könnten noch viel mehr erzählen. Doch das Schöne der Liste ist gerade ihre Allgemeingültigkeit, sie könnten überall sein, die Namen, die Biografien, sie sind Leerstellen, alles und nichts. Lehrer-Johns (†) Nachfolger sollten ihren Schülern beim Deutschaufsatz diese Liste vorsetzen, die Geschichten kommen von allein. Kevin Spacey hätte daraus als üblicher Verdächtiger einen ganzen Kriminalplot stricken können.

Dostojewski ist dabei, Camus, vor allem aber verstecken sich ungeschriebene Bücher, nie gedrehte Filme. Woytek + Jolantha, irgendwo zwischen Büchner und Horváth. Der Indianer Frankyboy, eine Winnetou-Hommage im Reservatcasino. Die Kindergeschichte vom Hühnervogel-Hotte, der mit dem gutmütigen Schweine-Wilk von Herrn Unbehagen und seinem Handlanger Bob Pulverfass bedroht wird. Zum Gruseln: Prof. Gramlich und Der Zombie. Eher im Bereich Erwachsenenunterhaltung: Babsi und der Fensterputzer, von den Machern von Stange, Der Klempner.

Was wohl die gemeinste Bezeichnung ist? Idioten-Harry? Als Samen-Udo in die Geschichte eingehen? Vielleicht war auch Laber-Uwe beim Anblick der Liste erst mal sprachlos, hielt er sich doch bis dato für einen erstklassigen Entertainer. Oder ist es noch viel gemeiner, keinen Spitznamen zu bekommen? Nach Jahren des Kneipenbesuchs als ecken- und kantenloser Otto Hamborg verzeichnet zu werden, Mann ohne Eigenschaften.

Mit jeder Neuauflage der Karte wird auch die Liste aktualisiert. Einige Gäste legten schwer Wert darauf, aufgenommen zu werden, sagt Golo. »Gerade für die Alten, von denen es immer weniger gibt, ist es eine Erinnerung.« Oft muss er nur Kreuze ergänzen. Am Ende bleiben einige Fragen – aber es ist auch da schöner, über die Antworten nachzudenken, als sie zu kennen. Hat Der Mörder etwas mit Die Leiche zu tun? Und wieso ist Die Leiche dann nicht Die Leiche (†)? Ist Spiegel-Hartmut wie Säulen-Bernd (†) und Tresen-Peter (†) nur eine geografische Verortung innerhalb des Lokals, oder lässt der Name auf Lektürevorlieben oder Journalistenhintergrund schließen? Und was ist eigentlich ein Ausgesägter 50er?

Das Lesen dieser Liste lässt Kneipenabende vorbeiziehen. Von Rauchschwaden durchzogene Wärme, umkippende Gläser, helles Auflachen, routinierte Trägheit, Bewegungsverweigerung. Man kann herauslesen, wer oft da war, wer selten und wer immer. Wer viel trank, wer wenig. Wer nur vorbeikam und wer blieb. Wer dazugehörte und wer stets Außenseiter war. Auf all das antworten die Namen stumm.

Olaf Dähmlow hat in 36 Jahren sehr viele Gäste kommen und gehen sehen.

Fotos: Monika Keiler