»Beim Autofahren hört der Verstand auf«

Urlaubszeit heißt: großes Gedrängel auf den Autobahnen. Der Verkehrspsychologe Jörg-Michael Sohn erklärt, dass wir mit 100 Stundenkilometern genauso schnell ans Ziel kommen wie mit 150 - und warum es uns dennoch so schwerfällt, einen Gang runterzuschalten.

Der Verkehrstherapeut Jörg-Michael Sohn  arbeitet seit mehr als drei Jahrzehnten mit Menschen zusammen, die den Führerschein verloren haben. Er besitzt kein Auto, dafür zwei Fahrräder, und machte erst mit dreißig den Führerschein, um sich besser in seine Klienten hineinversetzen zu können.

SZ-Magazin: Jetzt beginnen die Ferien, die Menschen wollen so schnell wie möglich am Urlaubsziel ankommen und drücken aufs Gaspedal. Und dann gibt es Spielverderber wie Sie, die sagen: Wenn man zehn Kilometer pro Stunde schneller fährt, kommt man auch nicht schneller ans Ziel. Wie ist das mit den Gesetzen der Physik vereinbar?
Jörg-Michael Sohn: Der Mensch ist nicht fürs Autofahren gebaut. Deswegen irrt er, wo er rast. Wenn Sie im Schnitt zehn Prozent schneller fahren, verbrauchen Sie zwanzig bis dreißig Prozent mehr Sprit. Sie haben bei einer höheren Geschwindigkeit auf längeren Strecken also mehr Tankstopps, bei denen Sie die Zeit wieder verlieren, die sie zuvor durch Schnellfahren gewonnen haben.

Aber warum sind die anderen immer schneller als ich? Wenn ich einen Lkw überhole und fünfzig Kilometer weiter auf den Parkplatz fahre, habe ich noch nicht mal den Wagen abgeschlossen, da fährt der schon wieder an mir vorbei. Man denkt, der muss geflogen sein!
Die Erklärung ist einfach: das menschliche Hirn ist evolutionsbiologisch auf Fußgängertempo programmiert. Wenn jemand vor Ihnen einen Kilometer Vorsprung hat, entspricht das bei vier Kilometern pro Stunde einem Vorsprung von einer Viertelstunde. Ein Autofahrer, der hundertzwanzig Stundenkilometer fährt, braucht für einen Kilometer dreißig Sekunden. Sie fahren mit dem Auto tatsächlich ein paar Kilometer Vorsprung raus, die sich aber wie eine halbe Stunde Vorsprung anfühlen. In Wirklichkeit sind es gerade mal zwei Minuten. Die brauchen Sie, um von der Autobahn zu fahren, einen Parkplatz zu finden und den Wagen abzuschließen, und dann hat Sie der Lkw schon wieder eingeholt.

Sie arbeiten mit Menschen, die den Führerschein verloren haben und zur Medizinisch-Psychologischen Untersuchung müssen, kurz MPU. Heißt diese Prüfung zu Recht »Idiotentest«?

Das ist ein ganz übler Begriff aus der Nazi-Zeit, wo er zur Aussortierung »lebensunwerten Lebens« in der Euthanasie verwendet wurde. Als ich vor dreißig Jahren anfing, sprach man über die MPU genauso wenig wie über Geschlechtskrankheiten. Es gab keine Diskussionskultur und keine öffentlich verfügbaren Informationen, deshalb wucherten die Mythen. Heute gibt es Bücher, das Internet, seriöse und unseriöse Berater, die Hilfe bei der Vorbereitung auf den Test anbieten. Ich sage immer: Ich mache keine MPU-Vorbereitung. Es geht nicht darum, eine Prüfung zu bestehen, sondern sein Verhalten zu verändern.

Was sind das für Menschen, die zu Ihnen in die Praxis kommen?

Die meisten meiner Klienten sagen: Ich will meinen Führerschein wiederhaben – als ob die Fahrerlaubnis ihr Besitz wäre. Die glauben, dass der Führerschein wie ein Schulabschluss ist, den sie lebenslang bekommen. Diesen Leuten entgegne ich dann: In Deutschland ist das Autofahren verboten, deshalb benötigen Sie eine Fahrerlaubnis. Diese Erlaubnis wird unter zwei Bedingungen erteilt: Sie müssen befähigt sein, also die Fahrprüfung bestehen, und Sie müssen geeignet sein, also die charakterlichen Voraussetzungen mitbringen. Wenn jemand gegen Verkehrsregeln verstößt oder in Verbindung mit dem Führen eines Fahrzeugs straffällig wird, gibt es Zweifel an der Eignung – also die Frage, ob er seine Fähigkeiten richtig einsetzen kann.

Viele Führerscheinbesitzer vergessen, dass diese Fähigkeiten auch gefordert sind, wenn sie nicht am Steuer sitzen.
Richtig, auch als Radfahrer kann man den Führerschein verlieren, wenn man stark alkoholisiert über dem Lenker hängt – zwar nicht strafrechtlich, aber weil man durch eine Verkehrsauffälligkeit Zweifel an der Fahreignung auslöst. Dies kann ich auch als Fußgänger. Ich hatte mal einen Klienten, der musste zur MPU, weil er sich in Berlin sturzbetrunken mitten auf den Kudamm gelegt hat. Das galt als Störung des öffentlichen Straßenverkehrs unter Alkoholeinfluss. Den Führerschein können Sie sogar dann verlieren, wenn Sie nüchtern am Schreibtisch sitzen, aber irgendeine Straftat in Verbindung mit Ihrer Eigenschaft als Kraftfahrzeughalter begehen. Zu mir kommen auch Unternehmer, die die Kfz-Steuer hinterzogen haben. Einmal hatte ich sogar einen Exhibitionisten, der sich von seinem Wagen aus der Öffentlichkeit nackt gezeigt hat. Der musste auch zur MPU, aber ich habe ihn weitergereicht, an einen Sexualtherapeuten.

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Sind Ihre Klienten einsichtig, wenn sie ihren Lappen verlieren?
Bei den Alkoholtätern gibt es eigentlich immer ein Schuldbewusstsein. Kein Alkoholfahrer hat das Gefühl, er könne seine Tat rechtfertigen. Punktetäter, die ihren Führerschein wegen Rasens verlieren, haben im Regelfall drei Verteidigungslinien: 1) Ich wars nicht. 2) Alle anderen machen es genauso. 3) Es war doch nicht gefährlich. Beim Autofahren gibt es ein durchgängiges falsches Konzept von Risiko. Die Leute sagen immer: Es war doch nicht gefährlich, es ist doch nichts passiert. Aber Gefahr ist nicht nur dann gegeben, wenn etwas passiert, sondern wenn etwas passieren kann. Das Risiko des eigenen Verhaltens wird oft nicht gesehen, weil die meisten kritischen Verhaltensweisen ohne Folgen bleiben. Ich kann hundertmal besoffen Auto fahren, bevor einmal ein Unfall passiert. Ich kann tausendmal zu schnell fahren, bis es einmal kracht. Die Menschen fühlen sich im Auto unverwundbar.

Woher kommt das?

Beim Autofahren sind Sie von der sinnlichen Erfahrung des Fahrens abgeschlossen, Sie spüren keinen Fahrtwind und die Geräusche sind gedämpft, während Sie in Ihrer eigenen Zivilisationsblase sitzen. Deshalb neigen wir dazu, als Autofahrer nicht Menschen um uns zu sehen, sondern den roten Sportwagen oder den schwarzen Kombi vor uns. Wir tun so, als hätten wir es im Verkehr mit Fahrzeugen und Objekten zu tun, nicht mit Menschen. Verkehr ist aber die Bewegung von Menschen, das ist ein Kommunikationsprozess, bei dem wir eine ganze Menge über Kommunikation aushandeln müssen. Die Möglichkeiten dazu sind im Auto aber beschränkt, und es kommt zu Missverständnissen, die im normalen menschlichen Miteinander überhaupt kein Problem darstellen würden. Wenn Sie im Supermarkt mit dem Einkaufswagen in der Schlange stehen und jemand fährt Ihnen in den Hacken rein, entschuldigt sich der sofort. Beim Autofahren geht das nicht, und wir reagieren als Autofahrer nicht auf das Verhalten anderer Autofahrer, sondern auf die vermuteten Motive.

Noch komplizierter wird es, wenn man als Deutscher im Ausland fährt. Sprechen wir beim Fahren unterschiedliche Sprachen auf der Straße?
Ja, in Deutschland und Frankreich zum Beispiel gibt es historisch unterschiedliche Fahrkulturen. In Deutschland heißt Rot: Stopp! In Frankreich heißt Rot: Ich muss vorsichtiger rüberfahren als bei Grün. Die Franzosen sind daran gewöhnt, Sachen auszuhandeln. Wir Deutschen dagegen sind auf Regeln fixiert und weniger auf Aushandeln. Beide Systeme funktionieren, aber nicht wenn sie vermischt werden. Wenn der Franzose in Deutschland nach seinen Regeln fährt, gibt es Chaos. Ebenso der Deutsche, der in Paris stur bei Grün über die Ampel fährt, ohne zu schauen, weil er glaubt, es kann ja niemand kommen. Wir haben in Europa ähnliche Verkehrsvorschriften, aber es gibt unterschiedliche Interpretationskulturen. Je mehr Ausländer auf unseren Straßen unterwegs sind, desto größer ist die Spannweite des Verhaltens.

Warum spricht man im Deutschen eigentlich von »Geschlechts-Verkehr«?

Gute Frage. Ich hatte mal mit einem Kollegen eine Praxis am Kreuzweg in Hamburg. In dem Haus waren ein Porno-Kino, ein Pfandleiher und ein Sadomaso-Club. Dazwischen prangte unser Schild »Verkehrspsychologen« – dies gab natürlich zu Missverständnissen Anlass.

Der Philosoph Peter Sloterdijk schrieb dem Auto sogar eine phallische Funktion zu und vermutete, dass gerade ich-schwache Menschen stark dazu neigten, das Automobil zu ihrem Ausdrucksmittel zu machen.
Ich habe oft beobachtet, dass Autofahrer, die ein intensives Leben führen und viel unterwegs sind, nach einer gewissen Zeit Autofahren als Zweck sehen und nicht mehr als Spaßfaktor. Die anderen kommen zu mir. Ich habe eine bestimmte Klientengruppe, die ich »Riesenbabys« nennen würde. Große, junge Männer, etwas unkonturiert. Die haben keine eigene Wohnung, keinen Job, keine Freundin, aber ein Auto. Ihr Auto ist ihre Lebenswelt, es ist eine Potenzkrücke.

Ist das unheilbar, oder kann man das wegtherapieren?
Ich hatte mal einen Unternehmensberater, der sadomasochistisch veranlagt war. Dem habe ich gesagt: Ist doch wunderbar, wenn Sie mit Ihrem Bentley langsam dahingleiten. Sie könnten anders fahren, aber sie machen es nicht, und die anderen sind gezwungen, sich anzupassen. Langsam fahren kann auch Macht sein. Das gefiel ihm.

Die deutsche Autobahn ist weltberühmt. Japaner buchen Autobahn-Touren, Hollywood-Schauspieler schwärmen in Talkshows von der großen Freiheit. Wie kommt das?
Die deutsche Autobahn ist ein Verhaltensangebot, auf das Autofahrer weltweit mit begehrlichen Fantasien reagieren. Die Freiheit fasziniert die Leute. Eine Rennstrecke ohne Limit zu haben, wo ich an meine und die Grenzen meines Autos gehen kann. Das können nur Rennfahrer. Das im Alltag haben zu können ist eine verlockende Illusion.

In Wirklichkeit liegt hinter der nächsten Kurve schon die Baustelle.
Und da bringt es auch überhaupt nichts, schneller als erlaubt zu fahren. Lassen Sie uns ein kleines Quiz machen: Sie fahren auf einer fünf Kilometer langen Autobahnbaustelle hundert statt der erlaubten achtzig Stundenkilometer. Wie viel Zeit sparen Sie?

Vier Minuten?
Sie sparen 45 Sekunden. Pro Kilometer also neun Sekunden. Da Sie insgesamt nur drei Minuten brauchen, um die Strecke zu durchfahren, würden Sie selbst mit Lichtgeschwindigkeit nicht mehr als diese drei Minuten sparen. Ich lasse meine Klienten oft schätzen, wie viel Zeit sie der Führerscheinverlust gekostet hat. Das sind bei den meisten mindestens hundert Arbeitsstunden. Sie müssten also 42 000 Kilometer lang zwanzig Kilometer pro Stunde zu schnell fahren, um die Zeit herauszuholen, die sie der Führerscheinverlust gekostet hat. Aber selbst Leute, die im Beruf als Controller mit solchen Rechnungen umgehen, machen das im Auto nicht. Beim Autofahren hört der Verstand auf.

Bringt Autofahren das Schlimmste in dem Menschen hervor?
Schon das Wort »Automobil« ist eine Illusion, weil es suggeriert, wir könnten damit aus eigener Kraft jederzeit von A nach B fahren. In der Werbung sieht man Menschen und Autos in menschen- und autoleeren Gegenden: Wüsten, Küstenstraßen, Berge. Selbst in den Städten sieht man da kaum andere Autos, weil uns die Autobauer den Traum von freier Fahrt für freie Bürger verkaufen wollen. Die Realität ist: Ich stecke im Stau, ich finde keinen Parkplatz, ich komme nicht voran. Das Gefühl von Freiheit, das einem das Auto vermitteln soll, fehlt im Alltag total. Das ist eine Enttäuschung, die viele mit aggressivem Fahrverhalten kompensieren.

Ist Tempolimit hundertdreißig auf Autobahnen eine gute Sache?
Ja. Schauen Sie mal nach Amerika, Skandinavien, Australien – alles Länder mit riesigen Entfernungen. Die Leute fahren dort relativ gleichmäßig und langsam. Man ist als Autofahrer dort bei längeren Strecken eher bereit, in eine Art Marathon-Tempo zu fallen. Im freiheitsliebenden Amerika gilt die verblüffend geringe Geschwindigkeitsbegrenzung von 55 Meilen pro Stunde, also knapp neunzig Stundenkilometer, und die meisten halten sich daran. Die Durchflusskapazität von Straßenabschnitten hängt von der Durchschnittsgeschwindigkeit und der Homogenität der Geschwindigkeit ab. Bei hoher Geschwindigkeit müssen die Sicherheitsabstände größer sein. Das Optimum liegt bei achtzig bis hundert Stundenkilometer, da kriegen Sie am meisten Autos durch.

Woher kommt der sogenannte Stau aus dem Nichts?
Der passiert, wenn Verkehrssysteme an ihre Grenze kommen. Die Straße ist voll, alle fahren hart am Tempolimit – dann genügt es, dass einer auf die Bremse tippt. Der hinter ihm muss härter abbremsen, die Störung pflanzt sich nach hinten fort, bis der Verkehr zusammenbricht.

Haben Sie einen Tipp für Urlaubs-Autofahrer?
Seien Sie ein demütiger Autofahrer. Machen Sie sich klar, dass Autofahren nicht bedeutet, jederzeit irgendwohin zu kommen in der Geschwindigkeit, die Sie wollen. Sie müssen sich in Verkehrsströme einreihen und sind viel mehr auf andere Autofahrer angewiesen, als Sie glauben.

Haben Sie Angst um Ihren Job, wenn Google eines Tages das selbst fahrende Auto präsentiert?
Ich glaube nicht, dass sich so etwas durchsetzt. Es gibt internationale juristische Übereinkünfte, die fordern, dass bei Kraftfahrzeugen der Fahrer jederzeit eingreifen kann. Wer soll bei Unfällen haften: der Fahrer, der Autobauer, der Programmierer der Software? Die Fahrerassistenzsysteme müssen ja ein Bild haben, wie sich andere Verkehrsteilnehmer bewegen. Wenn die sich durchsetzen, steigt die Unsicherheit. Die Systeme können darauf programmiert werden, menschliches Verhalten vorherzusagen. Gleichzeitig müssen sie auch das Verhalten anderer Systeme vorhersagen können. Das ist vollkommen unkalkulierbar.

Sie selbst haben kein Auto. Warum nicht?
Die meisten Autofahrer unterschätzen die Zeit, die sie brauchen, um das Mobilitätskonzept eigenes Auto zu erhalten. Berechnen Sie einmal, wie viel Zeit Sie im Auto, mit dem Auto und für das Auto verbringen. Zur Fahrtzeit kommt die Zeit für Tanken, Waschen, Anmelden, Werkstattchecks. Nicht zu vergessen: die Arbeitszeit, die Sie aufwenden müssen, um sich das Auto leisten zu können. Addieren Sie das alles und verrechnen es mit der Fahrleistung pro Jahr, dann erhalten Sie je nach Wagenklasse und Einkommen eine Durchschnittsgeschwindigkeit zwischen drei und 27 Kilometer pro Stunde. Für mich als Nicht-Autofahrer entfällt das alles. Ich steige aufs Fahrrad und kann sofort losfahren.

Vor 15 Jahren haben Sie Gleichgesinnte gefunden und ein autofreies Wohnprojekt in Hamburg gestartet. Wie funktioniert das?
Wir haben im Vorfeld sehr intensiv darüber diskutiert, wie eng die Regeln sein sollen. Dabei haben wir uns um Kompromisse und Balance bemüht, aber wir mussten am Anfang auch Dinge härter durchsetzen, weil wir ein politisches Zeichen setzen wollten. Wir mussten zum Beispiel Parkplätze bauen, aber versuchen, die freizuhalten. Man darf Carsharing machen oder Taxi fahren, aber keinen eigenen Stellplatz haben. Wir haben Ausnahmeregelungen, zum Beispiel, wenn jemand krank wird. Dann entscheidet ein Verwaltungsausschuss aus drei Leuten. Wir hatten mal eine Hebamme, die hier lebte und alles mit dem Rad erledigte, aber dann selbst schwanger wurde. Die bekam eine Ausnahmegenehmigung für ein halbes Jahr.

Was passiert, wenn einer Ihrer Mitbewohner sich ein E-Bike anschafft?
Über den Umgang mit E-Bikes und Pedelecs verhandeln wir gerade. Ich halte mich strikt an die Definition eines Kfz: ein motorbetriebenes, nicht schienengebundenes Landfahrzeug. Aber wer will, kann sich gerne ein Motorboot für den Kanal neben dem Haus zulegen.

Fotos: Óscar Monzón