Jung und bedröppelt

Ein trauriger Pop-Sommer: Die neue Nummer 1 der Charts vom belgischen DJ Lost Frequencies ist eine Wehklage der Generation Y. Warum schreibt eigentlich niemand mehr Songs in Dur?

Tanzen? Kann man schon auch zu diesem Song. Aber halt so, wie man am letzten Abend des Urlaubs mit dem Ferienschwarm tanzt: wehmütig, traurig, den Abschied schon im Magen. Diese Stimmung hat er drauf, der junge Belgier mit dem Künstlernamen Lost Frequencies.

Der 21-Jährige, der diese Woche mit »Reality« auf Platz eins der Singlecharts steht, ist sowas wie der Chef-Melancholiker der Charts. Vor ein paar Monaten war er mit dem bedröppelten Hit »Are You With Me« auf der Eins, jetzt serviert er diese Nummer: geschrabbelte Akustikgitarre, viel Moll. Dazu die Stimme eines gewissen Janieck Devy, die so klingt, als habe er kurz vor der Studioaufnahme noch doll geweint. Und dann erst der Text:

Decisions as I go, to anywhere I flow.
Sometimes I believe, a time where we should know.
I can't fly high, I can't go long.
Today I got a million, Tomorrow, I don't know.

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Bitte: Kann man die Verunsicherung der Generation Y, zu der Lost Frequencies gehört, noch eindeutiger umschreiben, ohne direkt zu heulen? Als Song ist das allerdings eher lahm. Man fragt sich nach 30 Sekunden schon, warum man das jetzt hören muss, wo doch Sommer ist und der letzte Urlaubstag noch ewig hin. Dabei ist der betrübliche Ton von »Reality« ganz typisch für diesen Juli. Es ist dies nämlich, meine Damen und Herren, der Sommer der traurigen Hits!
Kurze Stichprobe, was in den letzten zwei Monaten alles in den Top Ten war:

Eine aufwändig vertonte Grabrede.
(»See You Again« von Wiz Khalifa und Charlie Puth)

Ein Song über den sinnlosen letzten Akt einer Beziehung.
(»Stole The Show« von Kygo und Parson James)

Eine Wehklage über die verpasste Chance zur großen Liebe.
(»Bye Bye« von Cro)

Ein ziemlich trübseliger Fundus, aus dem die Damen und Herren vom Chart-Ermittler GfK Entertainment in den nächsten Wochen ihren jährlichen Sommerhit wählen müssen. Letztes Jahr war das ähnlich. Da erhielt der schwermütige Robin-Schulz-Remix von »Prayer in C« den Zuschlag. Man kann schon sagen: Wo früher in den Sommermonaten Ballaballa-Maya-Hii-Merengue durchs Radio posaunte, herrscht in letzter Zeit eine bekümmerte Introvertiertheit. Dass die sich häufig an einem Vierviertel-Housebeat stützt, also formell noch als Tanzmusik durchgeht, ist nur noch ein Zugeständnis ans Formatradio. Hinter dem Beat regiert in den Charts die Tristesse

Fragt sich natürlich: Zufall oder Trend? Einen guten Hinweis liefert da eine Studie, die Wissenschaftler der FU Berlin vor drei Jahren gemacht haben: Sie untersuchten rund tausend amerikanische Chart-Hits der vergangenen fünfzig Jahre. Sie verglichen Tempo und Tonart. Ergebnis: In den Sechzigerjahren waren 85 Prozent der Hits in Dur geschrieben. Heute sind es nur noch 42 Prozent. Gleichzeitig sank das Tempo. Die Fröhlichkeit verlässt also die Charts, traurige Songs verkaufen sich besser. Die Forscher erklären das damit, dass die Gesellschaft heute insgesamt mehr Widersprüche duldet. Komplexe, auch irrationale Gefühle seien heute akzeptiert und normal – eine reine Gutelaune-Kapelle wie Abba würde heute kein Mensch mehr ernstnehmen.

Und damit noch ein Wort zur Entwarnung: Wer nun im Sommerurlaub trotzdem fröhlich sein will, darf das natürlich gerne. Einfach wie früher alte Hits einlegen und lostanzen, bis der Tui-Flieger zurück geht. Aber eines ist auch klar, so ehrlich müssen wir leider sein: Blinder Frohsinn ist ganz schön last century.

Erinnert an: Alles, was in den letzten acht Wochen auf Platz Eins stand.
Wer kauft das?
Schwer zeitgemäße Zweifler und Haderer.
Was dem Song gut tun würde:
Ein Quäntchen vom dümmlichen Selbstbewusstsein der Charts in den Neunzigern.

Foto: dpa