»Wir holen dich da raus«

Ein Journalistenpaar aus Hamburg lernt in Kabul einen afghanischen Jugendlichen kennen. Ein halbes Jahr später ruft er an: Er ist auf der Flucht und braucht Hilfe. Das Paar muss eine Entscheidung treffen.

Niklas: Du bist nie bereit dazu, ein Kind zu kriegen – bis es plötzlich da ist und dich braucht. Unseres war wenigstens so nett, vorher anzurufen.

»Nik, was glaubst du, wo ich bin?«, fragt mich Hasib, als wäre das hier ein Ratespiel. »In Deutschland?«, frage ich, weil ich hoffe, dass er den Weg über das Meer schon hinter sich hat. Weil ich will, dass er endlich angekommen ist. Weil er, der 16-Jährige aus Kabul, so wahnsinnig gut gelaunt klingt am Telefon. »Nein, nein«, sagt Hasib und lacht. »Griechenland?«, rate ich weiter. »Ungarn!«, ruft er. Die Polizei habe ihn verhaftet und Fingerabdrücke genommen. Er sei in einem Lager für minderjährige Flüchtlinge, in Fót, in der Nähe von Budapest. Dann bricht die Verbindung ab.

Ich bin gerade beim Bäcker. Es ist ein Montagmorgen Mitte Juni 2015 und zwei Wochen her, dass wir aus Kabul zurückgekommen sind. Wir waren für ein paar Wochen dort, um an einem Film zu arbeiten. 2014 hatten wir in Afghanistan gelebt und Hasib Azizi kennengelernt. Er war kein sehr enger Freund, aber wir mochten ihn gern; ab und zu lernten wir Englisch zusammen. Damals hatte er uns von seinem Plan erzählt, und wir hatten versucht, ihn davon abzuhalten. Ohne Erfolg. Als wir nun wieder nach Kabul kamen, war er schon unterwegs nach Deutschland. Viel mehr wussten wir nicht. Sein Anruf ist das erste Lebenszeichen seit Wochen.

Meistgelesen diese Woche:

Ronja: Ich sitze am Computer, als Nik mit einer Tüte Semmeln zur Tür reinkommt: »Scheiße, Hasib hat angerufen!« Noch während er erzählt, sucht er Nummern von Anwälten raus. »Es muss doch irgendeinen legalen Weg geben«, sagt er, während ich darüber nachdenke, ob ich mir einen illegalen vorstellen kann. Ich habe noch nie geglaubt, dass nur schlechte Menschen Schmuggler sind. Und jetzt sitzt ein Freund in Ungarn fest.

Wir schreiben verschlüsselte E-Mails und fragen mit umständlichen Konjunktiv-Konstruktionen nach den rechtlichen Folgen von Fluchthilfe. Geldstrafen von bis 5000 Euro in Öster-reich. Haftstrafen von bis zu fünf Jahren. Aber wenn man kein Geld verlangt, auch nicht fürs Benzin, wenn man nur einmal und nur eine Person mitnimmt, dann sind die Chancen nicht schlecht, dass man davonkommt. Und erst mal müssen sie uns ja erwischen.

»Ich kann das nicht«, sage ich am Abend zu Nik, kurz vor dem Einschlafen.

»Wir müssen das tun«, denke ich am Morgen, nach dem Aufwachen. Neben der Frage, wie wir uns fühlen werden, wenn wir Hasib nicht helfen, gibt es noch die Frage: Bringt ihm das überhaupt was? Niemand hat weniger Erfahrung im Schmuggeln als wir. Das ist ein Argument dagegen. Oder dafür.

Niklas: Ich schreibe Hasib, er soll nur bis Wien fahren und uns dann anrufen. Dass wir ihn abholen wollen, sage ich nicht. Um nicht als Flüchtling erkannt und zurückgeschickt zu werden, rate ich ihm stattdessen, er solle mit Ohrstöpseln im Zug sitzen und ein Buch lesen – aus irgendeinem Grund glaube ich, dass sei flüchtlingsuntypisch.

Ronja: Wir fahren mit dem Zug nach München und wollen von dort mit dem Auto los. Am Hauptbahnhof kontrolliert eine Handvoll Polizisten ein Dutzend schwarzer Männer. Verdachtsunabhängige Personenkontrollen.

Unser Auto ist ein Cabrio-Viersitzer, so klein, dass man denkt, es passen nur zwei Leute rein. Hasib soll sich auf der Rückbank querlegen. Decke drüber. Jacke drüber. Windschutz hoch. In einer Garage testen wir unseren Plan. Ich komme kaum hinter die Sitze, aber als ich erst mal liege, ist es okay. »Er ist ja auch kleiner als ich«, sage ich. »Und er hat schon ganz andere Sachen mitgemacht«, sagt Nik.

Niklas: Ende Juni 2015, 9 Uhr am Morgen. Wir sind gerade aufgebrochen, da lese ich eine Nachricht, die Hasib uns in der Nacht geschrieben hat: »Ich komme erst morgen los.« Wir wissen nicht, ob etwas schiefgegangen ist oder ob er sich bloß verspätet. Wir können nur über Facebook mit ihm kommunizieren, und er ist seit zwei Stunden nicht mehr online. Als wir Wien erreichen, hat Hasib sich immer noch nicht gemeldet. Also weiter nach Ungarn, zu dem Camp in Fót.

Ronja: Vor einem Wachhäuschen mit drei Polizisten weht die Flagge der EU. Ich parke unser Auto etwas abseits, wir kaufen ein Eis und machen Selfies vor einem Kriegerdenkmal. Wir wollen wie Touristen aussehen, nicht wie Schmuggler.

Ein afghanisch aussehender Junge kommt aus dem Camp, ich laufe ihm hinterher. »Wohnst du im Camp?« frage ich. »Ja, genau«, sagt der Junge, überrascht, seine Muttersprache zu hören. »Kennst du einen Hasib aus Kabul? Er ist 16.« »Nee, einen Hasib gibt’s hier nicht«, sagt der Junge und will schon weitergehen. Vielleicht denkt er, ich bin vom Geheimdienst. Ich zeige ihm, dass Hasib und ich bei Facebook befreundet sind. Der Junge lacht. »Wie könnte ich ihn nicht kennen?« fragt er, »Wir wohnen im selben Zimmer. Ich hole ihn mal.«

Als Hasib mich sieht, reißt er die Arme hoch wie ein Etappensieger bei der Tour de France. Ich gestikuliere, er soll unauffälliger tun. Er schreit stattdessen »Salaam, Nik!« und rennt auf mich zu. Wir nehmen uns lange in den Arm und sagen nichts. Wir weinen beide.

Ronja: Die werden Hasib in Deutschland niemals glauben, dass er 16 ist! Die werden ihn zurückschicken nach Ungarn! Als wir uns das vorige Mal in Kabul gesehen haben, war er kleiner als ich, jetzt überragt er mich deutlich. Und er wirkt hart. Aber vielleicht denke ich das auch nur, weil ich mir vorstelle, was er erlebt hat. »Schön, dass du hier bist!«, sage ich. »Schön, dass ihr hier seid«, sagt Hasib. »Wie lange brauchst du?«, frage ich. »Fünf Minuten.« Er holt seinen Rucksack, verabschiedet sich von dem Jungen, der ihn zu uns gebracht hat, und verschwindet durch ein Loch im Zaun aus dem Camp.

Ich sitze am Steuer – eine Frau als Schmugglerin, so haben wir uns das ausgemalt, fällt in kein Fahndungsraster. Von Hasib sieht man nichts mehr – er liegt versteckt unter einer schwarzen Wolldecke, seine Füße passen gerade noch drunter. Ich fühle mich benommen. Die ersten Minuten sagen wir alle nichts.

Niklas: »Kriegst du genug Luft unter der Decke?«, frage ich. »Mach dir keine Sorgen, Nik. Für mich ist das hier Luxus! Und ich muss keine Angst haben, wie bei den anderen Schmugglern.«

»Hast du mich gerade Schmuggler genannt?« »Na, was denn sonst?«, sagt er und lacht. Dann erzählt er, warum er es nicht nach Wien geschafft hat. Er ist schon am Abend zuvor nach Budapest gefahren und hat dort mit einem Schmuggler und anderen Jugendlichen die Nacht vor einer Disko gewartet. Früh am Morgen sind sie dann in einen Zug nach Wien gestiegen. »Ich hab mir ein Buch mitgenommen«, sagt Hasib, »wie du gesagt hast. Nur hab ich nicht gemerkt, dass ich es die ganze Zeit falschrum gehalten habe – es war auf Ungarisch, ein anderes habe ich im Camp nicht gefunden. Als ich festgenommen wurde, haben die Polizisten laut darüber gelacht.« Die Polizisten fuhren Hasib zurück ins Camp. »Zum Abschied haben sie gesagt, ich solls halt morgen wieder versuchen.«

Ronja: Als wir Budapest verlassen, schalte ich das Radio ein. Wir singen mit und täuschen uns selbst gute Laune vor. Wir wollen überzeugend wirken, wenn wir an die Grenze kommen. Und wir wollen uns davon ablenken, wie nervös wir sind. Jede Viertelstunde überprüft Nik die Decke, manchmal schauen Hasibs Füße raus, manchmal seine Stirn.

Niklas: Fünf Minuten vor der Grenze ist mir schlecht vor Angst. »Wie weit ist es noch bis Österreich?«, fragt Hasib. »Eine halbe Stunde«, lüge ich. Ich sage ihm, er soll »Asyl« sagen, falls ein Polizist ihn entdeckt. Aber natürlich weiß er das längst.

Ronja:Ich versuche, tief einzuatmen – klappt nicht. Mein Herz klopft laut. Wenn uns jetzt einer anhält, fliegen wir sofort auf. Wir lassen die Fenster runter. »Denk an Sommerurlaub!«, sage ich mir, als ich in den zweiten Gang schalte. An der Straße steht ein Polizist. Ich starre nach vorne, der Polizist auf sein Handy. Ein paar Sekunden später haben wir es geschafft. Im Radio läuft, kein Witz: Looks Like We Made It.

Niklas: Ich warte noch kurz, dann sage ich Hasib, dass wir in Österreich sind. »Wirklich?«, fragt er. Irgendwie sind wir irritiert davon, dass alles so gut klappt.

Die Nacht verbringen wir bei einem Freund auf dem Land, der Himmel ist voller Sterne. »Willst du noch was essen? Oder Tee?«, fragt der Freund Hasib. »Nein, danke«, antwortet er. »Aber habt ihr WLAN?« Er will den anderen Jungs in Budapest Bescheid sagen. »Meiner Familie schreib ich erst morgen«, sagt er, »falls wir wirklich in Deutschland ankommen. Sie wissen nicht, dass ich schon wieder unterwegs bin.« Dann zeigt er uns Fotos auf seinem Handy. Ein Selfie in Mazedonien, auf einem Bahngleis; ein Haus am Waldrand in Serbien. »Da waren wir zu Fuß unterwegs, zehn Leute, und wir wurden zum Essen eingeladen.« Istanbul, Blaue Moschee: »Ich hab mir alles angeschaut, wie ein Tourist.«

Zum Frühstück gibt es Semmeln mit Käse, Croissants mit Nutella, und keinen Kaffee – damit wir die nächsten sechs Stunden nicht rausfahren müssen. Hasib zeigt uns die vergangenen zweieinhalb Monate bei Google Maps: Kabul – Masar-e Scharif – Teheran – Maku – Dogubayazit (Türkei) – Istanbul. Von Içmeler mit dem Schiff nach Griechenland. »Der Kapitän hat behauptet, es würde zwei Stunden dauern, aber wir waren 23 Stunden unterwegs«, sagt er. 31 Afghanen, 19 Somalier, auf einem Fischerboot. »Der eine Kapitän kam aus Russland, der andere aus der Ukraine. Sie wollten den Polizeifunk abhören, konnten aber kein Englisch, also haben sie mich gefragt. Ich hab sofort gemerkt, dass die im Funk Griechisch sprechen, aber ich habe dann einfach was erfunden.« Als Lohn durfte er auf dem Oberdeck sitzen, bekam Saft und Kekse – als einziger der 50 Passagiere. »Am Ende haben sie uns auf einer Insel ausgesetzt und gesagt, wir sollen ins nächste Dorf laufen. In Wirklichkeit war das ein Felsen, völlig unbewohnt. Einer von uns hatte genug Empfang, um die Küstenwache zu rufen. Sonst wären wir wahrscheinlich verhungert.« Von Volos in Griechenland nach Mazedonien mit Güterzügen, von dort über Serbien nach Ungarn, mit Bussen und zu Fuß. Und jetzt der einsame Hof in Österreich.

Ronja: »Wohin als Nächstes?«, fragt Hasib. Ich tippe Heidelberg ein, 800 Kilometer. »Wann fahren wir los?«, fragt er. Und die Anspannung ist zurück. Wir tanken im letzten Dorf vor der Autobahn. Ab jetzt gilt: kein Parkplatz, keine Raststätte, kein Klo. Wir wollen schnell über die Grenze, aber ich fahre trotzdem langsam. Wenn wir einen Unfall bauen, müssen wir die Polizei rufen, oder noch schlimmer: Hasib würde etwas passieren. Außerdem reicht der Sprit so länger.

Die Grenze nach Deutschland könnte unspektakulärer nicht sein: Kein Polizist, keine Kontrolleure, ich fahre einfach durch. Vor der Grenze hatte ich so viel Angst, dass ich es fast nicht ausgehalten habe. Kaum sind wir drüber, kann ich nicht glauben, dass wir jemals dachten, wir hätten es nicht schaffen können.

Niklas: »Zwick mich mal!«, sagt Hasib unter seiner Decke. »Seit ich acht bin, wollte ich nach Deutschland, und jetzt bin ich da.« Ich zwicke ihn. Er sagt: »Au.«

Ronja: Hasib sieht nun zum ersten Mal Deutschland, endlich können wir schneller fahren. Atomkraftwerk, Fabriken, Hochhäuser. Er sagt: »Es ist wunderschön hier!« – »Wart mal, bis du die bayerischen Alpen siehst«, sage ich. Kurz nach der Grenze zwischen Bayern und Baden-Württemberg halten wir an einem Parkplatz und packen die Decke in den Kofferraum.

Niklas: Wir sehen die Heilbronner Weinberge und das Hoffenheimer Fußballstadion, und auf einmal will ich ihm alles erklären: Schau, ein Autobahnkreuz! So funktioniert ein Windrad! Stell dir vor, die Schwaben machen Kehrwoche! Ich bringe ihm bei, »Schaffe, schaffe, Häusle baue« zu sagen, und erkläre ihm, dass ich das spießig finde. Hasib gefällt es sofort.

Zwischenstopp bei meiner Oma, in der Nähe von Heidelberg. Sie ist überrascht, aber hocherfreut. Flüchtlinge kennt sie noch aus einem anderen Krieg. Sie zeigt Hasib ihr überwuchertes Gartenhäuschen und erzählt von Vertriebenen aus Pommern, die dort jahrelang wohnten. Sie bringt Erdbeeren mit Eischnee und Zucker, und Hasib fragt mich, was »Bibi« auf Deutsch heißt. »Oma«, sage ich. Und er: »Danke, liebe Oma.« Er hat ein Herz im Sturm erobert.

Ronja: Nach dem Essen ruft Hasib seine Familie an. Sie sagen minutenlang nichts, außer: »Wirklich? Bist du wirklich da?« Hasib schweigt, lacht und sagt immer wieder: Doch, ich bin in Deutschland, bei Nik und seiner Oma, ich kann dir ein Foto schicken, dann siehst du, dass es stimmt. Irgendwann hat er Tränen in den Augen und drückt mir das Handy in die Hand. »Ronja, sag du mal was!«

Niklas: Nebenan tobt der deutsche Sommer: Freibad, Rutsche, nackte Haut. Das kann lustig werden. In Kabul trägt man in der Öffentlichkeit lange Hosen und lange Hemden. Frauen dürfen nicht ins Schwimmbad. Jetzt sehe ich überall Bikinis. Hasib sagt: »Ganz schön viele Dicke bei euch.« Ich springe vom Startblock. Er springt hinterher. Und taucht nicht wieder auf. »Scheiße«, denke ich, als ich den panisch strampelnden Hasib aus dem Wasser ziehe, »da hätte ich drauf kommen können.« Ich nehme mir vor, einen Schwimmkurs zu organisieren, und versuche nicht daran zu denken, dass er 23 Stunden auf einem klapprigen Boot unterwegs war.

Ronja: Was ein Tag zuvor eine Flucht war, fühlt sich auf dem Weg nach Hamburg wie ein Ausflug an. Wir üben Deutsch. »Welche Farbe hat dieses Auto?« – »Grün!« – »Und dieses hier?« – »Schwabs«. Wir googeln den Text für Ein Freund, ein guter Freund, und kurz vor Hannover singen wir alle zusammen: »Sonniger Tag, wonniger Tag, klopfendes Herz und der Motor ein Schlag. Rom und Madrid nehmen wir mit. So ging das Leben im Taumel zu dritt! Über das Meer, über das Land, haben wir eines erkannt: Ein Freund …« Wir singen nicht, wir schreien. Wir wollen jetzt bitte schön laut sein.

Niklas: Abends Katerstimmung. Sobald ich Zeit habe nachzudenken, merke ich, dass die Flucht nur das erste von vielen Problemen war. Vier von zehn Jugendlichen, die in Hamburg nach Asyl fragen, werden weggeschickt, weil man ihnen nicht glaubt, dass sie unter 18 sind. Wurden ihre Fingerabdrücke in einem EU-Land registriert, werden sie dorthin zurückgeschickt. In Hasibs Fall: nach Ungarn. Und selbst wenn sie ihm glauben, wird es Monate dauern, wenn nicht Jahre, bis Hasib das Leben hat, für das er nach Deutschland gekommen ist: Er will bei einer Pflegefamilie leben, zur Schule gehen, studieren, ein Geschäft aufziehen, Steuern zahlen. Bevor er sich meldet, beschließen wir, soll er erst mal ein paar Tage bei uns bleiben. Durchatmen. Ausschlafen. Ankommen.

Wir gehen grillen in einem Park, der früher mal ein Friedhof war (»Eure Gräber sehen genauso aus wie bei uns«), spazieren am Elbstrand (»Siehst du, auf so einem Schiff sind wir nach Griechenland gefahren!«) und verteilen kleine gelbe Zettel in der Wohnung: der Mülleimer, die Dusche, das Klopapier. Jedes Mal, wenn wir an eine rote Ampel kommen, ruft Hasib: »Stoooooop. Die Ampel ist rot.« Als ich einmal sage: »Wer sein Fahrrad liebt, der schiebt«, überlegt Hasib kurz und sagt dann: »Ronja … liebt … Nik.«

Ronja: Erst nach und nach verstehe ich, wie viel Scheiß Hasib auf seiner Reise erlebt hat. Er lief tagelang mit einem verstauchten Fuß durchs türkisch-iranische Grenzgebirge, getrieben von einem Schmuggler, der sagte: »Wenn die Grenzer euch sehen, schießen sie sofort.« Kurz danach erfroren an derselben Stelle 16 Menschen, die auf der Flucht von Hagel überrascht wurden. Hasib erfuhr davon in Istanbul, weil ein Überlebender in derselben Wohnung schlief wie er. In Athen sah er, wie sich 16-Jährige in einem Park in Athen an Freier verkauften, um ihre Weiterfahrt zu finanzieren. Aber Hasib erzählt von seiner Flucht auch wie von einem Abenteuer: Wie er in Athen mitten in der Nacht Bargeld aus Kabul organisieren musste. Wie er eines Nachts Unterschlupf in einem Holzverschlag suchte und auf einmal merkte, dass direkt vor ihm ein Pferd stand. Wie ein amerikanischer Tourist und seine Frau, die er beim Stadtbummel kennengelernt hatte, mit einem Dolmetscher zurückkamen, um mehr von seiner Geschichte zu erfahren. Als in Serbien sein Schmuggler verhaftet wurde, kaufte Hasib sich ein Handy mit GPS und lief zwei Tage durch den Wald, um einen Weg nach Ungarn zu finden. Wir hören stundenlang zu – nicht ihm zuliebe, sondern weil es spannend ist.

Niklas: So geht es auch unseren Freunden. Einer will von Hasib wissen, woran man denkt, wenn man zwölf Stunden zu Fuß geht. Ein anderer interessiert sich für Ökonomie und fragt ihn darüber aus, wie man unterwegs Geld verschickt. Ein Achtjähriger sagt: »Von Afghanistan bis nach Deutschland? Der ist ja wie Marco Polo!« Ich denke an meine eigenen Reisen und wie verändert ich mich jedes Mal fühlte, wenn ich nach Hause kam.

Die meiste Zeit in dieser Woche treffen wir die Entscheidungen: Was wir essen und wann, wo wir hingehen und wie. Hasib ist unterwegs im Schnellverfahren erwachsen geworden – jetzt soll er wieder Kind sein. Und wir sind plötzlich Eltern.

Ronja: Nach ein paar Tagen wirkt Hasib wieder drei, vier Jahre jünger als in Budapest. Nach einer Woche sieht er so jung aus, wie er ist: 16. Die Woche bei uns war eine Verjüngungskur, die sich die meisten Jugendlichen, die hier ankommen, nicht gönnen können.

Niklas: Anfang Juli 2015, Montag, 8.30 Uhr, Erstaufnahmestelle Feuerbergstraße, Rotklinker, sortierte Vorgärten. Wir warten auf zwei Sozialarbeiter, die in einem Gespräch Hasibs Alter festsetzen – sie können ihn über 18 schätzen und wegschicken, oder unter 18 und aufnehmen. Oder sie melden Zweifel an, dann entscheidet ein Arzt, indem er Wachstumsfugen vermisst und Geschlechtsteile abtastet. Wir wollen Hasib das ersparen. Ich erwähne beiläufig, dass wir Journalisten sind und Hasib aus Kabul kennen.

Ronja: Uns gegenüber setzen sich drei Brüder. Der jüngste hat die Pubertät noch vor sich, eindeutig. Hasib, eben noch angespannt, richtet sich plötzlich auf. »Erinnert ihr euch nicht?«, fragt er, »ich hab euch das Taxi besorgt, in Subotica.« Alle vier lachen. Uns kann er von seiner Reise erzählen, aber hier sind Jungs, die das Gleiche durchgemacht haben wie er.

Zum Gespräch dürfen wir nicht mit, ich empöre mich, als wäre ich tatsächlich Hasibs Mutter. Dann warten wir vor der Tür.

Niklas: Bei uns steht ein Sicherheitsmann, auch Afghane. Er lebt seit 28 Jahren in Deutschland und spricht die Jungs respektvoll mit »Hadschi« an. Als ich frage, warum, sagt er: »Die waren vielleicht nicht in Mekka, aber sie haben doch eine verdammt lange Reise hinter sich.«

Nach einer Stunde kommt Hasib aus dem Raum. Er zwinkert mir zu, sagt erst: »Kein Problem« und dann »kabul shudum«, ich wurde akzeptiert. Mir schießen Tränen in die Augen. Hasib legt den Kopf schief und grinst. »Nik, schon wieder?!«

Ronja: Draußen sagt Hasib: »Ich hab einen guten Witz gemacht in dem Gespräch. Als sie mich nach dem Tod meines Vaters gefragt haben, musste ich weinen. Die Frau wollte mich ablenken und hat gefragt: Was erhoffst du dir in Deutschland? Da hab ich mich zum Übersetzer umgedreht und gefragt, ob ich auch auf Deutsch antworten kann. Er hat genickt, und dann hab ich gesagt: Schaffe, schaffe, Häusle bauen.«

Niklas: Hasib bekommt ein Zweierzimmer in einem Container und einen Rucksack mit Handtuch, Zahnbürste, Duschgel, Schlappen. Ein Betreuer nimmt ihn mit zum Mittagessen. Auf dem Heimweg fühle ich mich erleichtert, glücklich – und irgendwie leer. Wir trinken eine Flasche Sekt.

Ronja: Nach zwei Stunden nehme ich mein Handy, ich will Hasib anrufen. Ich denke an meine Schwägerin, die weinte, als ihr Sohn zum ersten Mal ins Schullandheim fuhr, und lege das Handy wieder weg. Alles vor heute Abend, sage ich mir, ist echt übertrieben.

Als wir dann später sprechen, erzählt Hasib, dass er der einzige von mehr als 30 Jungs war, der an dem Tag als minderjährig akzeptiert wurde.

Niklas: Tagsüber kommt Hasib zu uns, abends muss er zurück in die Unterkunft. Im Camp hat man ihm gesagt, dass er in zwei Wochen einen Deutschkurs bekomme. Wir hören schon mal Absolute Beginner und Cro. Baby, bitte mach dir nie mehr Sorgen um Geld. Hasib lernt schnell, und wir gewöhnen uns langsam daran, was es heißt, eine Familie zu sein. Abends erzählen wir uns die schönsten Szenen des Tages, und wir warten nur noch auf den Moment, in dem unsere Freunde sich beschweren, dass wir über nichts anderes mehr reden als über unseren neuen Sohn. Aber alles andere ist eben so unwichtig geworden.

Ronja: Wir versuchen, vor Hasib nicht zu streiten. Als es zum ersten Mal nicht klappt, schreie ich Nik an: »Muss das jetzt hier sein?« Ich wollte immer taktvoller sein als meine Eltern früher. Jetzt merke ich, wie schwer das ist. Hasib sagt: »Wenn meine Eltern sich gestritten haben, haben wir meine Mutter zu meinem Vater getragen und beide festgehalten, bis einer lachen musste. Das hat immer geklappt.« Bei unserem nächsten Streit sagt Hasib: »Ich finde, dreißig Sekunden pro Monat, das reicht.«

Niklas: Nach zwei Wochen wird Hasib in einer ehemaligen Schule untergebracht, mit 150 anderen Jugendlichen. Zehn Jungs pro Klassenzimmer; die Fenster sind verriegelt und alarmgesichert, man kann sie nur kippen. Damit frische Luft ins Zimmer kommt, lassen sie nachts die Tür auf, sie schlafen nie vor drei. »Es ist wie ein Gefängnis«, sagt Hasib, »nur dass ich kommen und gehen kann, wie ich will.« Wir dürfen sein Zimmer nicht sehen, Hasib macht heimlich Fotos. Er erzählt mir, wie sich zwei Jungs ums Essen prügelten und die Polizei mit Mannschaftswagen anrückte; wie sich ein paar der Jungs im Park mit Wodka betrinken und andere auf den Kiez gehen, Sex für zwanzig Euro. »Ihr Leben verschlechtert sich jeden Tag«, sagt Hasib. »Ich hab Angst, dass man hier drin einfach so wird.«

Ronja: Hasib sieht jetzt wieder älter aus. Wir versuchen, dass er wenigstens an den Wochenenden bei uns schlafen kann – und blitzen ab. »Wie sollen wir denn sicherstellen, dass er bei Ihnen gut betreut wird?«, fragt die Leiterin der Unterkunft.

Niklas: Der Deutschkurs beginnt nicht nach zwei Wochen. Auch nicht nach vier. Und nicht nach sechs. Ich rufe den Fachdienst für Flüchtlinge an. »Bevor er nicht bei der Ausländerbehörde registriert ist, passiert hier gar nichts!«, schreit der Mitarbeiter ins Telefon. Erst mal müsse sichergestellt werden, »dass diese Person so überhaupt existiert«. Er sagt, dass er vor sich eine Excel-Liste mit Jugendlichen sieht. »Von denen, die im Mai angekommen sind, hat keiner einen Deutschkurs, und Papiere von der Ausländerbehörde auch nicht«, sagt er. Es ist Anfang August. »Ach halt, hier ist einer, der hat schon Dokumente«, korrigiert er sich. Ich kann nicht mehr. »Das ist eine Katastrophe«, sage ich. »Natürlich ist es eine Katastrophe!«, schreit der Mann zurück, und man müsste das Zitat eigentlich in Großbuchstaben setzen.

Ich brauche einen anderen Weg, auf dem ich Hasib Hoffnung machen kann – und Deutsch beibringen.

Ronja: Inzwischen trifft sich ein halbes Dutzend unserer Freunde mit Hasib. Sie gehen einkaufen, spazieren, schwimmen, grillen – und sprechen Deutsch. Hasib fährt zum ersten Mal Inlineskates, er spielt Volleyball und »Mensch-ärgere-Dich-Nicht«. Er schickt Audio-Nachrichten bei Whatsapp:

»Hallo Lihrer, ich bin Hasib Azizi. Mein Kind ist heute krank und kann nicht in die Schule kommen.«
»Hallo Hasib, das heißt LEHRER.«
»Ich habe Spaß gemacht. Ich bin nicht krank. Ich komme achtzehn Uhr – einhalb.«

Niklas: Wenn Hasib bei uns ist und WLAN hat, wird er dauernd angerufen. Manchmal sind es Freunde, die gerade auf der Flucht sind, in der Türkei oder in Griechenland. Dann kann er die Routen runterrasseln, die Schmuggler, wem man vertrauen kann und wem nicht, über wen man Geld schickt und wo man falsche Papiere bekommt.

Manchmal sind es Jungs, die in Kabul seine Nachbarn waren: Kommt nicht nach Deutschland, sagt er dann, der Weg ist viel zu gefährlich, ihr werdet es schwer haben als Flüchtlinge, und wenn sie euch zurückschicken, sind die Ersparnisse eurer ganzen Familie futsch. Manchmal ist es seine Mutter. Ihr erzählt Hasib nur, wie schön es in Deutschland ist. Er sagt, er will nicht, dass sie sich Sorgen macht.

Ronja: Uns erzählt er jetzt immer kleine Geschichten, wenn wir uns sehen: Vom Sicherheitsmann im Camp, den er mit »Du bist hammerhammerhart« begrüßt hat. Von der Betreuerin, die an einem Abend feiern ging und der er sagte: »Du bist heute eine schicke Frau.« Von der Gruppe grölender Männer, die er anstiftete, mit ihm das einzige Lied zu singen, das er kennt: Ein Freeeeund, ein guter Freund …

Als ich Hasib sage, dass ich aus Bayern bin, schickt er mir eine Audionachricht: »Mia san mia. Weiß blau.«

Niklas: Vom Kinderschutzbund erfahren wir, dass jeder Jugendliche, der ohne seine Eltern in Deutschland ankommt, einen Vormund braucht: Er vertritt ihn vor Gericht, unterschreibt Verträge und muss medizinischen Eingriffen zustimmen. Findet sich kein privater Vormund, übernimmt ein Amtsvormund. Die betreuen in Hamburg inzwischen jeweils 50 Jugendliche zugleich, manche 70. Die Stellen sind so knapp bemessen, dass einige Jugendliche gar keinen Ansprechpartner mehr bekommen. Bei dringenden Entscheidungen unterschreibt irgendjemand aus der Abteilung. Ansonsten passiert nicht viel.

Ronja: Wir beschließen, die Vormundschaft für Hasib zu übernehmen. Ich beantrage ein Führungszeugnis, warte auf einen Termin beim Gericht, und ein paar Wochen später werde ich vereidigt. »Wenn Sie noch irgendjemanden kennen, der eine Vormundschaft übernehmen könnte«, sagt die Rechtspflegerin beim Verabschieden, »überreden Sie ihn bitte.«

Niklas: Jetzt kann Hasib am Wochenende bei uns bleiben. Er schläft jede Nacht dreizehn Stunden, er kocht für uns, was ihm schmeckt, und am Montag versucht er, zuversichtlich in seine Unterkunft zurückzufahren. Als er ankommt, schreibt er uns: »Gerade haben sie uns gesagt, wir sind bald 15 Jungs pro Zimmer.« Am zweiten Montag kommt es uns vor wie eine Strafe, ihn wieder zurückzuschicken. Am dritten ist uns klar, dass er genauso gut bei uns wohnen kann, bis das Jugendamt eine Pflegefamilie für ihn findet.

Ronja: Ich weiß, dass wir nicht die beste Lösung sind. Wir sind viel unterwegs, wir haben keine Kinder und erst recht keine Ahnung, wie man einen 16-Jährigen erzieht. Nik sagt: »Wir dürfen uns halt nicht mit richtigen Eltern vergleichen.« Und Hasib sagt: »Alles ist besser als das Camp.«

Niklas: Wir haben zwei Zimmer, Hasib schläft auf der Couch. Für seine Klamotten räume ich mit ihm ein Bücherregal leer. Als er das Buch Taliban sieht, von Ahmed Rashid, liest er den Klappentext. »Willst du es behalten?« frage ich. Er schüttelt den Kopf. »Ich weiß genug über die Taliban, ich hab doch andauernd ihre Anschläge erlebt. Jetzt ist mal Zeit für neue Bücher.« Er packt das Buch weg, und am nächsten Morgen liest er Das kleine Ich bin ich. Auf deutsch.

Ronja: Hätten wir vorher entscheiden müssen, dass Hasib nach seiner Flucht bei uns einzieht, wären wir wahrscheinlich nie nach Ungarn gefahren. Allein die Vorstellung hätte uns überfordert.

Niklas: Vor ein paar Jahren habe ich meinen Vater einmal gefragt, ob meine Eltern geplant hatten, mich zu bekommen. Er lachte damals und sagte dann: »Du warst auf jeden Fall – wie soll ich sagen – herzlich willkommen.«

Fotos: Ronja von Wurmb-Seibel, Niklas Schenck, Hasib Azizi, Gianni Occhipinti