»Wenn es Frühling wurde, überkam uns das Fernweh«

17 Jahre lang ging der Kinderbuchautor Ali Mitgutsch mit seinem besten Freund Wolfgang de Haen auf Abenteuerreise. Ein Interview über Reden und Schweigen, die Toleranz der Ehefrauen und strenge Regeln beim Packen.

Foto: Julian Baumann


SZ-Magazin: Die Art, wie Sie zusammen unterwegs waren, nennt man heute Rucksackreisen. Gab es so etwas vor sechzig Jahren überhaupt schon?

Wolfgang de Haen: Wir gehörten in Deutschland damit, glaube ich, schon zu den Ersten.

Sie kennen sich seit mehr als sechzig Jahren. Wie wurden Sie Freunde?
De Haen: Eines Tages, 1951 müsste das gewesen sein, kam der Ali in das Schwabinger Grafikbüro, in dem ich zu der Zeit schon fest gearbeitet habe, und fragte, ob er freie Mitarbeit machen könnte. Er hat noch studiert zu der Zeit. Er war 18 und ich 21.
Ali Mitgutsch: Wolfgang hat dann gleich gesagt: »Naaa, wir brauchen niemanden«, bevor der Chef antworten konnte. Ich hätte ihm in den Arsch treten können! Aber der Chef hatte schon eine kleine Aufgabe für mich.

Wie kam es zu Ihrer ersten Reise?
Mitgutsch: Ganz unerhofft ging das. Der Wolfgang hatte viele Freundinnen zu der Zeit …
De Haen: Damals …
Mitgutsch: Die waren wie die Fliegen um ihn herum. Ich war der Stillere im Hintergrund. Eine von diesen Freundinnen wollte als Au-pair nach Paris. Dieses Mädchen kam aber zu spät zum Bus, mit dem Wolfgang und sie fahren wollten. Sie hat ganz furchtbar geweint. Dann sagte unser Chef: Warum bringen wir die beiden nicht zu viert hin?
De Haen: Es war vorher nie die Rede davon, dass er und der Ali mitfahren würden. Aber so haben wir es dann gemacht. Der Chef hatte ein großes Auto. Ali und ich saßen hinten drin und stellten zum ersten Mal fest, dass wir über dasselbe lachen und uns über dasselbe ärgern konnten.

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Das Wesen einer Freundschaft.
Mitgutsch: Dieses Mädchen zum Beispiel war eine dumme Ziege. »Hach, schaut mal raus!«, flötete sie immer. »Hier sieht jeder Kutscher aus wie ein Graf, und bei uns sieht jeder Graf aus wie ein Kutscher!« – das war so albern. Wir mussten uns einfach über sie lustig machen.

Und da haben Sie beschlossen, das nächste Mal zu zweit zu fahren. Es folgten Reisen nach Spanien, Griechenland, Jugoslawien, Lappland, Irland, Marokko, Arabien, Russland, USA, Mexiko …

Mitgutsch: Jedes Jahr waren wir zwei bis drei Monate unterwegs. 17 Jahre lang.

Woher kam dieses Fernweh?
Mitgutsch: Wir waren den ganzen Krieg über eingesperrt gewesen.
De Haen: Diese Enge im Bombenkeller. Nach Starnberg rauszufahren, war schon ein Abenteuer. Der Krieg hatte uns unfrei gemacht.
Mitgutsch: Als wir auf der Paris-Reise einen Stopp in Frankfurt machten, war da alles noch zerstört. Auch in München sah man die Spuren des Kriegs noch. Wir wollten einfach raus. Eines Tages war ein Fotograf bei uns im Büro zu Besuch, der hat uns von Mallorca erzählt. Der meinte: Da müsst ihr hin. Wir haben uns angeschaut und genickt.
De Haen: Ich hatte eine Vespa. Unser Plan war, mit der bis Barcelona zu fahren und dann mit dem Schiff nach Mallorca überzusetzen.

Einen regelmäßigen Flugverkehr auf die Insel gab es noch nicht.
Mitgutsch: Nein, die einzigen Touristen, die wir getroffen haben, war eine Klasse von der Kunsthochschule. Die waren da, um »Das Problem Weiß« zu studieren, weil Weiß zu malen ja so schwierig ist.
De Haen: Was du alles noch weißt, Ali! Es gab dann diese Nacht bei einer alten Frau auf dem Boden, bei der wir uns mit Messern gegen Eindringlinge verteidigen mussten. Genauer weiß ich das aber nicht mehr. Danach haben wir im Freien geschlafen, am Strand, so wie später auf den meisten unserer Reisen. Die Strände waren menschenleer, Badetourismus gab es praktisch noch nicht.

Hatten Sie keine Angst?
De Haen: Wir sahen wild aus – die Leute hatten mehr Angst vor uns als wir vor ihnen.
Mitgutsch: Wir hatten ein Zelt dabei, aber nur so ein ganz einfaches. Es hatte keinen Boden. Und die Heringe waren aus gedrechseltem Holz.

Wie haben Sie die nächste Reise ausgewählt?
Mitgutsch: Wahrscheinlich war es wieder so: Irgendjemand hat uns von einem schönen Ort erzählt, und dann sind wir los.
De Haen: Lappland dürfte die nächste Reise gewesen sein. Da sind wir mit der Isetta hingefahren.
Mitgutsch: Auf dieser Reise hat es manchmal zwei Tage und Nächte lang durchgeregnet. Und wenn wir in der Früh eingestiegen sind, ist die Isetta nach ein, zwei Metern bis auf die Karosserie eingesunken. Dann mussten wir sie da halt rausschaukeln, immer hin und her, hin und her, das war ganz schön mühsam.

Eine Isetta ist winzig. Wie haben Sie gepackt?
Mitgutsch: Nach der Spanien-Reise mit der Vespa wussten wir schon ganz gut, worauf wir achten mussten. Wir hatten ein ausgeklügeltes System: Erlaubt waren zum Beispiel nur eine Unterhose und eine Badehose – wenn die Unterhose gerade mit Seife ausgewaschen wurde, musste man die Badehose anziehen. Wir haben auf unseren Reisen auch gezeichnet. Für die Malsachen war immer Platz.
De Haen: Ich hatte anfangs noch meine Kamera dabei, eine Agfa Clack.

Was wussten Sie von Lappland? Einen Reiseführer hatten Sie ja wahrscheinlich nicht, oder?
Mitgutsch: So ganz rudimentäre Karten hatten wir.
De Haen: Die Nächte waren saukalt.
Mitgutsch: Und Mücken gabs da! Wir hatten vor Ort Insektenmittel gekauft, aber die wirkten längst nicht so gut wie die Mittel heute. Nach zwei Stunden in der Nacht ließ der Schutz nach. Einmal bin ich aufgewacht und konnte nicht mehr aus den Augen blicken, weil mein ganzes Gesicht zerstochen und geschwollen war.
De Haen: Wir waren in Lakselv, hoch im Norden von Norwegen. Ali wollte noch weiter zum Nordkap, ich war eher skeptisch. Da waren kleine Häuschen in der Steppe, so Unterstände aus Gras. Da haben wir uns aufgewärmt.
Mitgutsch: Plötzlich war da dieser andere Alleinreisende, ein Finne, der war auch jedes Jahr zwei, drei Monate unterwegs. Mit Englisch kamen wir bei dem Mann nicht weiter.
De Haen: Aber er war zufällig auch Grafiker.

Mitgutsch: Er malte drei kleine Kästchen. Ins erste malte er viele Schneeflocken, ins zweite einen Teil der Landschaft und ins dritte zwei kleine Hügel mit Kreuzen drauf – Gräber. Auf die zeigte er und sagte immer wieder: »Kaksi saksalaista«. Das verstanden wir: Es heißt »zwei Deutsche«.
De Haen: Da wussten wir dann, dass wir besser nicht zum Nordkap hochgehen.

Wann haben Sie sich zum ersten Mal derart gestritten, dass einer heimfahren wollte?
Mitgutsch: Nie.
De Haen: Nie. Das ist das Erstaunliche. Jeder andere wäre einem bei so langer Zeit auf die Nerven gegangen. Ich bin immer gefahren, Ali hat immer den Weg rausgesucht – es gab nie Streit.

Aber bei gemeinsamen Reisen gilt es ständig, Entscheidungen zu treffen: Hierbleiben oder weiterfahren? Gasthaus oder am Strand schlafen? Die kennengelernten Mädchen mitnehmen oder stehen lassen?
Mitgutsch: Wir sind uns immer einig geworden. Auch wenn wir auf Reisen andere kennengelernt haben.
De Haen: Wir wussten es, ohne miteinander zu sprechen: Auf den haben wir Lust und auf den eher nicht so.

Soweit die Vespa trägt: Mitgutsch (links) und de Haen während ihrer dreimonatigen Spanienreise vor rund sechzig Jahren, ausgestattet mit Espadrilles, einem Messer und Federballschlägern.

Foto: privat

Was haben Sie eigentlich den ganzen Tag gemacht?
Mitgutsch: Gezeichnet haben wir. Ab und zu haben wir uns auch etwas dazuverdient. Wir hatten ja nie Geld. In Jugoslawien haben wir die Schrift auf Grabsteinen vergoldet. Und manchmal haben wir uns auch gesonnt.

Sind Sie Freunde, die besser miteinander reden oder besser miteinander schweigen können?
De Haen: Reden.
Mitgutsch: Die Themen gingen uns nie aus. Manchmal mussten wir auch reden. In Lappland zum Beispiel wars so still, da hat man ein Bächlein über drei, vier Kilometer hinweg plätschern gehört, das war das einzige Geräusch.
De Haen: Wenn wir nicht geredet hätten, wären wir verrückt geworden.

Wie waren die Monate zu Hause? Wie nah waren Sie sich dort?
De Haen: Der Kontakt riss nie ab.
Mitgutsch: Später dann, als wir Frauen und Familien hatten: Da wurd’s a bisserl problematisch.
De Haen: Na ja, problematisch. Jeder hat dann halt seine Sachen gemacht.

Waren Ihre Frauen eifersüchtig auf das, was Sie miteinander teilten?
De Haen: Ja, meine schon.
Mitgutsch: Meine auch. Wir haben ausprobiert, mal mit den Frauen zu fahren. Aber es ging nicht, und wir verstanden das auch: Sie erwarteten vom Leben mehr als ein Zelt ohne Boden und einen aufgewärmten Kaffee.
De Haen: Es war einfach nicht dasselbe mit den Frauen.
Mitgutsch: Wir haben uns ja über Wochen von Paketen von Knäckebrot ernährt, die wir auf den Rucksack geschnallt hatten.
De Haen: Susi, meine Frau, sagte immer, gehst du schon wieder zum Ali? Sie warf mir vor, mir ein schönes Leben zu machen und mich nicht genug zu kümmern.
Mitgutsch: Ich muss schon sagen, Wolfgang: Wir waren für unsere Frauen nicht die angenehmsten Männer.

Wussten Ihre Familien, wann Sie zurückkommen?
Mitgutsch: Nur ungefähr.
De Haen: Manchmal haben wir doch auch angerufen, oder?
Mitgutsch: Ja, aber das war halt auch sehr teuer. Wir haben uns wenig gemeldet.

Herr Mitgutsch, Sie haben 1960 geheiratet und im selben Jahr Ihr erstes Kind Oliver bekommen. Sie, Herr de Haen, wurden etwas später Vater. Dann haben Sie noch fast zehn Jahre lang diese Touren gemacht.
Mitgutsch: Ja.

Sie hatten nicht mehr nur Verantwortung für sich selbst.
De Haen: Ja, aber es hat in mir drin nichts verändert.
Mitgutsch: Karin, meine Frau, wusste einfach, dass es mich nur in dieser Ausführung gibt. Sie war da vielleicht liberaler.
De Haen: Sie hatte einen eigenen Freundeskreis, das hat ihr Alis Abwesenheit vielleicht auch erleichtert.
Mitgutsch: Aber wir haben auch über die Kinder geredet auf den Reisen. Wir waren keine gefühllosen Machos oder so. Ich hab manchmal gelitten wie eine Sau ohne meine Karin.

Das Heimweh war die Antwort auf das Fernweh?
Mitgutsch: Absolut.

Hatten Sie das Gefühl, dass dieses Fernweh irgendwann gestillt sein würde?
Mitgutsch: Ich hatte die Hoffnung, ja.
De Haen: Aber das hat schon lange gedauert. Wir waren ja dann noch in Amerika, Japan, Arabien. Erinnerst du dich, wie wir die Francis kennengelernt haben, Ali?
Mitgutsch: Natürlich. In Griechenland haben wir am Strand geschlafen, in der Früh sind wir dann einen Felsen raufgeklettert zu einem feinen Restaurant, um einen Kaffee zu trinken. Da saßen zwei Frauen, Amerikanerinnen, die haben sehnsüchtig zu uns rübergeschaut. Ich habe sie gefragt, ob sie sich nicht zu uns setzen wollten. Eine davon war die Francis, sie hat uns wenig später nach Amerika eingeladen. Und im Jahr darauf sind wir mit dem Schiff von Wilhelmshaven nach New York gefahren. Wir hatten das ganze Jahr gespart.
Die Francis war eine sehr reiche Frau, die hat uns von Colorado aus, wo sie wohnte, jemanden zum Schiff bestellt, der uns abholte und die Stadt zeigte. Dann sind wir mit dem Greyhound quer durch Amerika gefahren und haben Francis am Grand Canyon getroffen.
De Haen: Sie schenkte uns ein Auto, einen Chevy, mit dem sind wir bis nach Mexiko gefahren.

Dort sind Sie dann schwer krank geworden, Herr Mitgutsch.
De Haen: Das war ganz schrecklich.
Mitgutsch: Ich hatte fürchterliche Bauchschmerzen, wir dachten, es käme vom verdreckten Wasser, aber in Wahrheit war es eine Blinddarmentzündung.
De Haen: Ich habe ihn in eine Station vom Roten Kreuz gebracht, irgendwo im Urwald. Ali hatte inzwischen einen Durchbruch und wurde sofort operiert. Ich schlief in einem Bett neben ihm. Mit uns im Raum war ein Mann, der im Delirium furchtbar stöhnte und in dieser Nacht starb.

Erinnern Sie sich an die Angst, allein heimfahren zu müssen?
De Haen: Ja, diese Verzweiflung. Wir hatten ja auch vereinbart, dass wir in einem solchem Fall nicht daheim anrufen oder Karten schreiben würden, weil das für die Familien alles nur noch viel schlimmer macht. Ich dachte: Was mach ich denn jetzt, wenn der Ali stirbt? Ich war so ohnmächtig, ich konnte ja auch nichts machen, aber ich wollte ihm was Gutes tun, und so bin ich los in irgendein Städtchen und habe Eier besorgt.
Mitgutsch: Dann hast du Feuer im Urwald gemacht und in einer Konservendose die Eier gekocht. Aber die waren trotzdem noch innen roh.
De Haen: Karin, Alis Frau, hat mir später Vorwürfe gemacht. Man ist schon auch für den anderen verantwortlich.

Hat sich Ihre Freundschaft über die Jahre verändert?
Mitgutsch: Sie war immer gleich stark.
De Haen: Wir haben uns nie gestritten. Alle wussten, dass wir zwei unzertrennlich sind. Wir sind ja auch in München viel ausgegangen.
Mitgutsch: Wir haben so intensiv gelebt. Die Neugierde war unsere stärkste Triebfeder, dieser Erfahrungshunger.

»Wir waren Kerzen, die von beiden Enden brannten«, haben Sie, Herr Mitgutsch, mal über sich und Herrn de Haen gesagt.
Mitgutsch: Immer wenn es Frühling wurde, wenn die Tage wärmer wurden, überkam es uns. Und wenn wir dann noch einen Menschen mit Gepäck sahen, gab es kein Halten mehr.

Ende der Sechzigerjahre haben Sie aufgehört.
Mitgutsch: Wir waren satt. Diese Sehnsucht in die Ferne war weg.
De Haen: Japan war unsere letzte Reise, 1968/69, und es passierte ja in diesen Jahren dann auch in München und Deutschland so viel.

Wie waren die Reisen nach Ihren gemeinsamen Reisen?
Mitgutsch: Ganz anders.
De Haen: Ich habe mich nie an Hotels gewöhnt.

Sie beide sind Kreative: Hatten Sie das Gefühl, dass Sie jetzt genug erlebt hatten, um Ihre Erlebnisse in Werke umzusetzen?
De Haen: Nein, das hat sich bei mir kaum in der Arbeit niedergeschlagen.
Mitgutsch: Mein erstes Buch, Pepes Hut, ist aus der Mexiko-Reise heraus entstanden, aber die Wimmelbücher haben mehr mit meiner Kindheit und meinen Beobachtungen in München zu tun.

Haben Sie Ihre Kinder mit Ihrem Faible fürs Reisen angesteckt?
De Haen: Nein, gar nicht. Ich bedaure das sehr.
Mitgutsch: Auch meine Kinder haben das eigentlich nie aufgegriffen. Wahrscheinlich, weil Kinder immer anders sein wollen als ihre Eltern. Aber ich habe auch mit meinen Büchern immer den Eltern vermitteln wollen: Lasst eure Kinder raus, schickt sie auf Reisen – auch wenn ihr Angst um sie habt.

Wie oft sehen Sie sich zurzeit?
De Haen: Regelmäßig. Ich komme öfter mal mit dem Fahrrad aus Schwabing zum Ali in die Maxvorstadt geradelt.
Mitgutsch: Es gab immer Menschen, Frauen und Freunde, die mit uns lebten und uns eine Zeitlang in unserem Leben begleitet haben. Aber so intensiv wie diese Freundschaft war nichts.