Grenzerfahrung

An den Rändern Europas stehen sich Flüchtlinge und Polizisten gegenüber. Oft herrschen Unsicherheit und Furcht - auf beiden Seiten. Das brachte die Grenzschutzbehörde Frontex auf eine ungewöhnliche Idee: Sie bat einen ehemaligen Flüchtling, die Beamten zu beraten.

Seine Mutter backt Brot, wie jeden Samstag, als sich Zekarias Kebraeb in einer grünen Militärjacke aus dem Haus in Asmara schleicht, der Hauptstadt von Eritrea. Es ist der 2. März 2002, er ist 17 und will studieren, Gedichte schreiben, in Freiheit leben, statt in seinem Heimatland den zehn Jahre langen Militärdienst zu leisten, zu dem die Militärdiktatur alle jungen Einwohner zwingt. Zu Fuß flieht er über die Grenze in den Sudan, für 500 Dollar fährt ihn ein Schlepper auf einem Lastwagen durch die Wüste, wo ihn eine Infusion, die ihm ein anderer Flüchtling überlässt, vor dem Verdursten rettet. In Libyen zahlt Zekarias Kebraeb 1000 Dollar für die Fahrt übers Mittelmeer. Als das ausrangierte Fischerboot vor Sizilien in Seenot gerät, liest er den 150 Flüchtlingen an Bord aus der Bibel vor – Paulus’ Geschichte vom Schiffbruch vor Malta. Er hat Glück und erreicht das Paradies, wie er damals meint, lebt in Mailand auf der Straße und beschließt, sich nach Norwegen durchzuschlagen, wo sein großer Bruder lebt.

Achtung vor Grün! Mit der Regionalbahn fährt er von Zürich nach Genf, nach Brüssel, nach Oldenburg, Richtung Dänemark. Im Zug, beim Umsteigen an Bahnhöfen, immer ist er auf der Hut. Achtung vor Grün, aber da ist es schon zu spät. Zwei deutsche Grenzpolizisten stehen hinter ihm. »Hello, Mister, Personenkontrolle, your passport please.« Kebraeb steht auf, über 1,90 Meter groß, dünn, hohe Wangenknochen, schmale Augen, ein silbernes Medaillon um den Hals, die Muttergottes ist darauf. »Eritrea – refugee – no papers.« Am 18. November 2004 ist Zekarias Kebraebs Flucht zu Ende, auf der Bahnstrecke zwischen Hamburg und Kiel, irgendwo bei Lübeck.

Mehr als zehn Jahre später, im Sommer 2015, steht er wieder vor Grenzpolizisten in Lübeck. Sankt-Hubertus-Kaserne, 14 Männer und zwei Frauen sitzen ihm in einem Seminarraum der Polizeiakademie gegenüber, vor sich kleine Fähnchen für die Länder, aus denen sie kommen: Rumänien, Frankreich, Norwegen, Griechenland, Spanien, Estland, Litauen, Polen, Deutschland, Österreich, Belgien, Bulgarien, Portugal, Kroatien, Island, Finnland, ein Querschnitt durch die Europäische Union. Sie bereiten sich alle auf ihren Einsatz bei Frontex vor, jener Behörde, in deren Auftrag Bundespolizisten der europäischen Länder die europäischen Außengrenzen bewachen; der »Mid-Level-Border-Guar-ding«-Kurs, der heute stattfindet, ist ein Teil ihrer Ausbildung. Ob am Grenzzaun von Melilla oder im Mittelmeer, an Europas Rändern stehen sich Grenzschützer und Flüchtling als Gegner gegenüber. Jetzt wurde Kebraeb, ein Flüchtling, zum Unterricht eingeladen, um seine Geschichte zu erzählen. »Für mich ist es schwer zu sprechen«, sagt er, »und Ihnen ins Gesicht zu sehen. Sie sind die Menschen, die unsere Träume zerstören.«

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Für seinen Vortrag hat er sich schick gemacht, rosa Hemd, feine Cordhose. Die Grenzschützer tragen blaue, graue und weiße Hemden, an denen Namensschilder mit Frontex-Logo stecken; auf ihren Rücken prangt in großen Lettern: Police, Policja, Polizei. Sie haben die Arme verschränkt, den Kopf in Daumen, Zeigefinger und Mittelfinger gestützt, sich vorgebeugt oder zurückgelehnt. Was sie von Kebraeb halten, ist schwer zu erraten. Aber sie hören ihm zu. »Flüchtlinge müssen für ihre Freiheit rennen«, sagt Kebraeb. Und Grenzschützer müssen Flüchtlinge stoppen. Das macht sie zu Gegnern. Kebraeb schildert seine Flucht nach Europa. »Schlimm«, sagt er, aber »ein Kindergarten« im Vergleich zu dem, was Flüchtlinge heute erleben würden, die in der Türkei, Ungarn, in Israel, in Libyen oder in Marokko an den Grenzen stehen und weiter nach Mittel- oder Nordeuropa wollen. Folter in Libyen, Organhandel und Erpressung auf dem Sinai, Tod im Mittelmeer, überall Prostitution.

Mit diesen traumatischen Erfahrungen im Gepäck treffen sie auf die Grenzschützer. »Haben Flüchtlinge Angst vor Grenzschützern?«, fragt Henrik Wärnhjelm, Chef-Ausbilder bei Frontex. »Vor Sizilien haben Borderguards mich aus dem sinkenden Boot gerettet, vor Lebensrettern hat man keine Angst«, sagt Kebraeb, drückt seine Schultern nach hinten, aufrecht und stolz. »Aber warum«, fragt er zurück, »tragen Grenzschützer Masken und Schutzanzüge?« – »Haben Flüchtlinge davor Angst?« – »Ja, weil es ihre Würde verletzt. Sie sind kein Ungeziefer, sie wollen wie normale Menschen behandelt werden.« – »Und der Fingerabdruck?« – »Auch davor haben sie Angst, sie wollen nicht in Italien bleiben und dort auf der Straße leben.«

Es wird offen gesprochen, obwohl eine Reporterin dabei ist, das ist erstaunlich für eine Behörde, die nicht nur Flüchtlingsströme kontrolliert, sondern auch jedes Wort, das nach außen dringt. Die Übereinkunft: Keine Fragen zu Aktionen an den Außengrenzen, also spricht man über: Gebrochene Arme beim Abnehmen von Fingerabdrücken? – Darf nicht sein. – Knebel, Handschellen und Tote bei gewaltsamen Abschiebungen auf europäischen Flughäfen? – Schlimm. – Stiefel im Nacken bei der Räumung von Flüchtlingslagern? – Furchtbar. – In Libyen werden Flüchtlinge von Grenzbeamten gefoltert? – Weiß man. – Flüchtlinge in griechischen Kuhställen ohne Licht und ohne Handy, die durch Gitterstäbe um Hilfe rufen? – Schockierend. – Hunderte von Leichen im Mittelmeer? – Traumatisch für Flüchtlinge, für Grenzschützer aber auch. – Und die Schlepper? – Manchmal gut, manchmal böse.

Die Idee, den ehemaligen Flüchtling einzuladen, hatte der Trainingsprojekt-Koordinator Fritz Scheuermann, 52 Jahre alt. Anlass war ein Buch, das Zekarias Kebraeb über seine Flucht verfasst hat (Hoffnung im Herzen, Freiheit im Sinn, Lübbe-Verlag). Scheuermann ist seit sechs Jahren bei Frontex und zuständig für die Ausbildung von Grenzschützern. Sollten diese solche Fluchtgeschichten nicht kennen? Damit sie besser verstehen, mit wem sie es an den europäischen Grenzen zu tun haben? Scheuermann hat Kebraebs Geschichte zu Lehrzwecken für Frontex-Grenzschützer ins Englische übersetzen lassen, das Buch in der Behörde verteilt und Kebraeb zuerst nach Warschau, dann nach Lübeck eingeladen. »Grenzschützer müssen in Stresssituationen schnell handeln«, erklärt er, »und Fehler können schnell passieren, wenn diese vorher nicht im Rahmen eines Trainings durchgespielt wurden.« Und wenn Grenzpolizisten an Grenzzäunen kontrollieren oder Fingerabdrücke nehmen, dann möglichst nicht mit gezückten Schlagstöcken. Psychologen sprechen von »Kontaktaufbau«: Wer sich in die Lage seines Gegenübers zu versetzen vermag, begegnet ihm mit mehr Achtung.

Kebraeb hat allerdings gezögert, als er zum ersten Mal vor der verspiegelten Fassade des Frontex-Hauptquartiers in Warschau stand. War er ein Verräter, wenn er da hineinging? In diesen gigantischen Überwachungsapparat, der die europäischen Grenzen mit Drohnen, Radaranlagen, Satelliten, Nachtsichtgeräten und Hubschraubern nach Flüchtlingen absucht? Er ging hinein, doch in der Frontex-Kommandozentrale sah er die grünen Punkte der per Satellit überwachten Flüchtlingsboote auf den Bildschirmen, das gab ihm einen Stich. »Viele Flüchtlinge glauben, du musst gegen Frontex kämpfen. Ich habe das auch geglaubt – auch dann noch, als ich längst über der Grenze und in Europa war. Heute weiß ich, gegeneinander kämpfen ist nicht gut. Besser ist es, miteinander zu sprechen.«

Auch die Grenzschützer sprechen. Dass Kebraeb seine Geschichte so offen erzählt, ermutigt sie. Es sei nicht immer einfach, erzählen sie. Ob Flüchtlinge vor Krieg, Hunger, Folter und Diktatur flüchten, ob sie Drogen schmuggeln, ob sie Kriegsverbrecher sind, Dschiha-disten oder Terroristen, oder ob sie verbotenerweise über innereuropäische Grenzen reisen: »Mein Job ist es, zu checken«, sagt der französische Grenzschützer Damien Bottelli. Er war bei Einsätzen in Libyen und bei der Räumung des großen Flüchtlingscamps an der italienisch-französischen Grenze. »Wenn ich junge Menschen kontrolliere, klagen die: Always young people. Wenn ich Araber kontrolliere, klagen die: Always Arabic people. Wenn ich Schwarze kontrolliere, klagen die: Always black people«, erzählt Bottelli. »Aber ich muss checken, sechs Sekunden pro Person.«

Viele Flüchtlinge, darunter auch Landsleute von Kebraeb, hat Damien Bottelli heulen, schreien und rennen sehen, als sie in Ventimiglia von französischen Grenzschützern zurückgedrängt und von Italienern abtransportiert wurden – um sie von der »irregulären Einreise«, Frontex-Sprache, nach Frankreich abzuhalten, weil sie laut Dublin-Verordnung in Italien bleiben müssen, dem Land, in dem sie zuerst europäischen Boden betreten hatten. »Ich mag meinen Job«, sagt Bottelli, »aber diese Mission … Non!« Er darf nicht sagen, was er davon hält, Flüchtlinge über innereuropäische Grenzen zurückzuschieben, wie es das Dublin-Abkommen verordnet. Seine Aufgabe ist es, darauf zu achten, das Gesetze eingehalten werden. Er kann sie nicht verändern, aber sein Verhalten. Deshalb stellt er dem ehemaligen Flüchtling eine einfache Frage: »Wie soll ich’s machen?«

»Den Flüchtlingen in die Augen schauen!«, sagt Kebraeb. »Nicht mit Angst, sondern mit Liebe!« Er hält seine offene Hand vors Gesicht, dann vor die Brust, macht mit dem linken Arm eine ausladende Bewegung nach außen. Eine Geste, die Demut und Verständnis demonstrieren soll. Und Kebraeb spricht es aus, auch wenn er weiß, dass er damit bei den Grenzschützern an der falschen Adresse ist: Es sei höchste Zeit, Dublin III abzuschaffen. Damit Flüchtlinge frei sind und nicht wie Verbrecher behandelt werden, wenn sie über Italien oder Griechenland zu Verwandten nach Deutschland oder Schweden reisen wollen.

»In die Augen gucken mit Respekt«, wiederholt Kebraeb immer wieder. Und die Grenzschützer in Lübeck lassen ihn tatsächlich nicht aus den Augen. Sie sind gefesselt von seiner Geschichte, aber den Vorwurf, dass sie die Träume zerstören, wollen sie nicht auf sich sitzen lassen. Es gebe auch andere Beispiele: In Aachen habe die Grenzschutzpolizei mit Migrationsforen einen »runden Tisch der Menschlichkeit« ins Leben gerufen, erzählt der Aachener Polizist. Und die vor der griechischen Insel Rhodos aus dem Wasser gerettete Eritreerin, die ihr neugeborenes Baby Antonios genannt hat! »Haben Sie davon gehört?«, fragt der griechische Kollege. Antonios, wie der griechische Lebensretter.

Damals im Zug, die beiden Grenzschützer, die ihn gestoppt haben, erzählt Kebraeb, seien höflich gewesen. »Sorry«, hätten sie gesagt, als sie ihn aus dem Zug holten. Sie hätten auch »Sorry« gesagt, als sie Kebraeb nach einer Gerichtsverhandlung in Oldenburg nach Lübeck fuhren. Ausgerechnet Lübeck: Am 19. November 2004, Kebraeb war 19 Jahre alt, seit zwei Jahren in Europa, seit anderthalb Tagen in Deutschland, hatte ein Amtsrichter entschieden: »In der Freiheitsentziehungssache: Der eritreische Staatsangehörige, Zekarias Kebraeb, geboren am 14. Mai 1985 in Asmara, ist längstens bis zum 19. Februar 2005, 24 Uhr, in Abschiebehaft zu nehmen. Es wird die sofortige Wirksamkeit dieser Entscheidung angeordnet, Paragraf 8 Absatz 1, Satz 2 des Bundesfreiheitsentziehungsgesetzes. Diese Entscheidung wird von der Bundesgrenzschutzinspektion Lübeck – Einsatzabschnitt Puttgarden – vollzogen …« Drei Monate Abschiebehaft wegen unerlaubter Einreise.

Eigentlich hat Kebraeb nach diesem aufwühlenden Tag in der Sankt-Hubertus-Kaserne keine Lust mehr. Aber dann fährt er doch noch zum Gefängnis, in dem er damals einsaß: Um über den Zaun zu schauen und sich daran zu erinnern, wie es war, als ihn in der Zelle die wahnsinnigen Schreie eines jungen irakischen Flüchtlings nebenan verzweifeln und Michael Jacksons »We Are The World« hoffen ließen. Und als er nach einem Hungerstreik entlassen wurde und an der Gefängnispforte sein Muttergottes-Medaillon wieder in Empfang nahm. Ein spanischer Priester aus Eritrea hatte es ihm zur Flucht geschenkt. Inzwischen ist er Deutscher und studiert Politik. Träume hat er immer noch.

Fotos: Matej Divizna/Gettyimages, Henning Bode