Die Fressmaschine

Der schnellste Esser der Welt? Ist der Sternmull. Der zweitschnellste sitzt am Esstisch unseres Kollegen.

Das Baby, das sich meine Freundin und ich zugelegt haben, ist meist sehr süß. Seit neustem kann es mit seinen Patschehändchen zurückwinken, wenn man »Tschüss« sagt. Und wenn man es fragt: »Bist du ein kluges Kind?«, strahlt es mit seinen Kulleraugen und schüttelt den Kopf. Und weil dann alle lachen, lacht auch das Kind. Putzig, nicht?

Trotzdem habe ich Angst, dass das Baby nicht mehr lange niedlich sein wird. Mein Bangen bezieht sich nicht auf Trotzphasen oder Rotznasen, ich denke an erschreckende körperliche Veränderungen. Ich prüfe, ob dem Kind dicke braune Haare wachsen, die sich zu einem Pelz verdichten könnten. Ich betrachte kritisch die Finger seiner Patschehändchen. Werden sie lang und länger? Wachsen sich die jetzt schon kratzfähigen Fingernägel zu scharfen Krallen aus? Am häufigsten kontrolliere ich jedoch den Mund, um sicher zu gehen, dass aus den kleinen Schlauchbootlippen noch keine 22 wurmartigen Fortsätze herausgewachsen sind. Denn wäre klar: Mein Kind hat sich zu einem Sternmull entwickelt.

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(Ein Sternmull. Foto: dpa)

Dieses possierliche Tierchen habe ich im Wartezimmer meines Zahnarztes entdeckt. Nicht unter dem Sessel, in einer Zeitschrift. Es ist, da sind sich Forscher einig, der schnellste Esser der Welt. Mit den sternförmig angeordneten Wurmfortsätzen, die dem Tier den Namen geben, tastet es seine Umgebung ab. Und wenn ihm die als lecker und verdaulich erscheint - haps! - verspeist er sie in nicht einmal 120 Millisekunden.

Eigentlich gehört der Sternmull zur Familie der Maulwürfe, eigentlich lebt er in Nordamerika. Aber wenn das so weiter geht, gehört er bald zu meiner Familie und lebt in München. Denn wenn ich dem Kind morgens ein kleingeschnittenes Butterbrot auf ein Plastiktellerchen lege und mich kurz umdrehe, ist - haps! - der Teller leer. Wenn ich dem Baby seinen Brei einlöffeln will, bin ich um jeden Zentimeter froh, den der Stiel misst. Sonst wäre vielleicht - haps! - mein Finger weg. Und wenn das Baby herumkrabbelt, ist sowieso alles sofort in seinem Mund, was da herumliegt. Bisher zwar eher in Sekundenschnelle denn in Millisekunden, bisher auch ziemlich oft Unverdauliches wie ein iPhone oder eine Birkenstocksandale, aber es ist ja auch noch ein kleiner Sternmull, der noch lernen muss.

Ich fürchte, ich bin an dieser Entwicklung nicht ganz unschuldig. Wer schon einmal mit mir zu Tisch saß, weiß, dass ich ein Schnitzel einatmen kann und beim Ausatmen den Espresso entgegen der Luftströmungsrichtung inhaliere. Meine Freundin kann das auch, lässt den Espresso aber meistens weg, ist nicht gut für ihren Magen. Als wir diese Gemeinsamkeit entdeckten, wussten wir: das passt mit uns. Wir sind beide die Jüngsten von drei Kindern, anders hätten wir beim Verteilungskampf im Elternhaus wohl nicht überlebt.

Mit dem Baby fassten wir aber den festen Vorsatz: Ab jetzt wird wieder 32-mal gekaut, bevor geschluckt wird. Für jeden Zahn einmal, so, wie wir es eigentlich gelernt haben. Sonst wird das Kind gleich verdorben, Babys machen den Eltern ja alles nach. Wir strengten uns an. Und das Kind hielt sich tatsächlich an die Regel: Es kaute so oft, wie es Zähne hatte, also 0-mal, gar nicht - es schlang wie ein Sternmull.

Das eigentlich in Nordamerika beheimatete Tier wird übrigens immer öfter hier in Mitteleuropa gesichtet, etwa im Main-Taubergebiet. Unser Baby ist aber nicht ausgebüxt, ich habe eben nachgesehen. Und auch, wenn mir ein normal essendes Kind zunächst lieber gewesen wäre, tröste ich mich damit, dass Sternmulle nicht nur die schnellsten Esser, sondern auch in einer weiteren Kategorie die Nummer Eins sind: Sie sind so feinfühlig wie kein anderes Säugetier, in ihren Wurmfortsätzen bringen sie es auf 100.000 Nervenenden bei einem Hautstückchen mit einem Zentimeter Durchmesser. Feine Antennen sind in unserer Ellenbogengesellschaft zwar eher das Gegenteil einer Schlüsselqualifikation, aber ich ziehe lieber ein empfindsames Kind groß als ein rücksichtsloses.

Vielleicht muss ich mir aber doch keine Sorgen machen: Als ich eben das Kind suchte, habe ich auf dem Küchenboden eine interessante Entdeckung gemacht. Die scheinbar in Millisekundenschnelle verschlungenen Butterbrot-Stückchen lagen alle unter dem Esstisch.