Auf der Lauer

Unsere Autorin war immer schon tierlieb - ebenso zog es sie immer schon zur Jagd. Nun hat sie den Jagdschein gemacht, um endlich die Rituale, den Tod und sich selbst zu verstehen.

Warum wollten wir Jäger werden? Gleich am ersten Abend des Lehrgangs stellten sie uns diese dämliche Frage. Dämlich vor allem, weil: Glaubten die denn im Ernst, dass wir ehrlich antworten würden? Bedeutet die Frage doch nichts anderes als: »Warum willst du mit der Knarre in den Wald ziehen und die Rehlein erschießen?«

M. ist eine kurzbeinige norddeutsche Bauersfrau von Mitte sechzig, die selbst mit der Knarre auf Rehlein hält und überdies, als Leiterin des Lehrgangs, alles tut, andere ebenfalls dazu zu bringen. Und doch zittern einem plötzlich die Hände, wackeln die Knie. Man fischt nach Antworten. Prüft Erklärungen. Verwirft sie. Steht da und spürt, dass die einzig glaubhafte, weil ehrliche Antwort ist, dass man keine Antwort hat. Man erkennt das und misstraut sich selbst.

»Also«, sagte M., »Schießwütige kann die Jägerschaft nicht gebrauchen!« Darum alle 15 Bewerber mal bitte aufstehen, reihum, und bekennen, was sie zum Jagen treibt; der junge Mann zur Rechten von M. begann. »Mein Vater ist Jäger!« Das war okay. Der schwergewichtige Autoverkäufer murmelte, er liebe die Natur und wolle sie seinen Kindern erklären können. Im Winter auch mal mit ihnen Nistkästen bauen. »Töten allerdings will ich nie!« – »Das werden wir ändern«, schnarrte M. Der Zahnarzt fühlte sich der Natur verbunden und hatte, um seine Ehe nicht durch Abwesenheit zu gefährden, seine Frau »gleich mitgebracht«. »Besser gehts nicht!«, rief M. Und dann war ich dran. »Ich spaziere gern allein durch die Frühnebel und finde, dass sich das gut mit dem Jagen verträgt.« Es war nicht allein dieses Satzes wegen, dass M. mir von allen am schärfsten misstraute.

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Tatsächlich hatte ich nicht gelogen. Ich hatte nur nicht die ganze Wahrheit gesagt. Oder was ich eben seinerzeit dafür hielt. Tatsächlich war es der Tod, der mich in die Reihen der Jägerschaft trieb. Und mein Bedürfnis, ihn vielleicht doch noch irgendwie zu verstehen. Eine Freundin hatte sich ein halbes Jahr zuvor das Leben genommen. Sie war Försterin gewesen. War scheinbar aus heiterem Himmel in eine Depression gefallen. Deren Heftigkeit ließ sie mich erst erkennen, als sie, fast schon am Ende, in aller Beiläufigkeit am Telefon sagte: »Meine Gewehre habe ich vorsichtshalber zu den Nachbarn gebracht, ich traue mir selbst nicht mehr über den Weg.« Zwei Wochen später erhängte sie sich. Ihr Satz mit den Gewehren blieb in mir hängen. Ich dachte, indem ich den Jagdschein mache, könne ich ihr über den Tod hinaus näherkommen.

Sechs Ausbilder unterrichteten uns in sechs Fächern: Brauchtum, Jagdhunde, Niederwild, Hochwild, Gesetze und Waffen. »Die Jägerprüfung ist keine Spielerei. Wer hier sitzt und denkt: Ach, da mache ich nebenbei noch den Jagdschein – der fällt durch!« So viel machte M. uns gleich klar. Der deutsche Jäger nennt seinen Jagdschein »das grüne Abitur«. Ein Jagdausbilder aus Dänemark, der einen Unterrichtsabend bei uns besuchte, lachte und rief: »Du liebe Zeit. Ich will doch nur jagen gehen, nicht Tierarzt werden!« Der Däne verstand nicht: Ein deutscher Jäger, der seinerseits unter stetem Beschuss der nichtjagenden Öffentlichkeit steht, kann nicht, durch den Wald streifend und auf Wildtiere ballernd, einfach einem Hobby nachgehen. Er muss sich und sein Tun verklären, weil er beides nicht erklären kann. Er lernt hart, weiß mehr, ist besser. Er ist das ewig strampelnde, wenn schon nicht um Liebe, dann wenigstens um Anerkennung ringende Stiefkind der Gesellschaft, die sich durch schnelle Verurteilung des ihr Unerklärlichen gefällt. Mein Waffenlehrer und Jagdkollege nannte es »diese monströse Rechtschaffenheit«. Und ist sie nicht unter Jägern und Jagdgegnern gleichermaßen zu finden?

In den ersten Wochen lehrte M. uns Brauchtum. Welche Zweige wir wie herum legen müssen, um den Mitjägern etwas mitzuteilen. Nach welchen Regeln das getötete Wild zu ordnen ist. Das korrekte Benehmen auf der Treibjagd. Die Vokabeln der Jägersprache. Das männliche Schwein: Keiler. Das weibliche Stück: Bache. Ihre Kinder: Frischlinge. Die Augen: Lichter. Die Ohren: Teller. Der Nasenrücken: Gebrech. Der Penis: Brunftrute. Die Hoden: Klötze. Der Tag, an dem wir entspannt über Brunftruten und Klötze würden reden können, schien undenkbar.

Kür dieser Brauchtumsabende war das gemeinsame Absingen des dreifachen Horridos mit anschließendem Herunterstürzen von Kräuterschnäpsen. Wir stellten uns auf, das Gläschen in unserer linken Hand. Der Vorsinger: »Horrido!« Und die Gruppe antwortete: »Joho!« – »Horrido!« – »Joho!« – »Horrido!« – »Joho!« Und nun, gemeinsam: »Ein Horrido, ein Hooorriii-do, ein Waidmanns-heil, ein Horrido, ein Hor-rido-ho, ein Waiiid-maaanns-heil!« Die Stimme unseres eifrigen Zahnarztes übertönte operettenhaft uns alle. Legte der Autoverkäufer M. die Hand auf den Rücken und seufzte »Mutter«, glühte die Alte vor Glück. Und ich, die das alles zweifelhaft und in höchstem Maße lächerlich fand, die zwanzig Kilometer weiter doch Mann und Kinder auf sich warten hatte, wunderte mich, dass etwas in mir hier plötzlich zu Hause sein wollte.

Ich war mit einer mittelschichtgetreuen Aversion gegenüber diesem vermeintlichen Bessere-Leute-Vergnügen aufgewachsen. Für meinen Maurer-Stiefvater sind, seit ich denken kann, Jäger »Knallköppe«. Ich wuchs auf unter dem Einfluss eines Volksmundvertreters erster Güte.

Meine Jägerkarriere, wenn sie denn eine war, folgte einem jeder profanen Logik entbehrenden Zickzackverlauf. Ich war das tierverrückte Kind eines Paares, das sich, um seine Sofas und statischen Gemüter zu schützen, gegen jede Tierhaltung sträubte. Entsprechend verzehrte ich mich nach einem Hund. Meine Eltern gestatteten einen Wellensittich. Später großzügig einen Hamster. In meiner Verzweiflung baute ich zu allen Hunden der Nachbarschaft eine telepathische Verbindung auf, von der die Hunde möglicherweise nichts wussten. Meiner Vernarrtheit und speziellen Bindung ans Tierreich zum Trotz schlich ich regelmäßig in den Wald und verbrachte Stunden vor Kaninchenbauten auf der Lauer liegend. Mit selbst gebasteltem Bogen und Pfeilen im Anschlag. Hätte ich geschossen, hätte einer der Hasenartigen sich aus dem Loch gewagt? Und ob!

Als Teenager dann durchlebte ich eine Phase überschäumenden Christentums, ich trat auf als Friedensengel im Indienkleid und mit Wallehaar. Ich musste alle bekehren, alle erleuchten. Ich sagte Sätze wie: »Jesus ist unsere einzige Chance!« Was ich damit meinte, wusste ich damals schon nicht. Anschließend konvertierte ich, zwanzig Jahre zu spät, zu den Hippies. Im gleichen Kleid, mit dem gleichen Haar und den gleichen Sprüchen. Ich hörte Woodstock-Musik und rauchte schwarzen Tee als Ersatz für Marihuana, das in unserer Kleinstadt noch nicht zu bekommen war. Jäger? Waren für mich, wie für alle, die ich damals und später so kannte, das Synonym deutschen Spießertums. Deutete etwas in jenen Jahren darauf hin, dass ich einst im Großvaterloden in einer muffigen Beiz unter ihnen das Horrido singen würde? Ich meine: alles!

Als ich 16 war, schleppte mich einer das erste Mal mit auf die Jagd. Ich arbeitete als Küchenpraktikantin in einem Hotel im Solling, einer wald- und wildreichen Hügellandschaft in Mitteldeutschland. Der Hotelbesitzer und sein Koch gingen beide zur Jagd. Was aber nicht dasselbe war. Darauf bestand der Koch. Ich war umgehend wild darauf, mitgenommen zu werden. Keine Ahnung, warum. Von wem dieser beiden, war mir noch egal. Der Chef bot sich als Erster an. Ein Waidmann wie aus dem Buche, die Verkörperung deutschen Jagdwesens, außen wie innen, für seine Genossen und Gegner zugleich: grüner Loden, blanke Stiefel und, in der Mitte Deutschlands, ein Tirolerhut. Korrekt, zuverlässig, starr. Der Mann war Ende zwanzig, in seinem Loden-Tiroler-Outfit sah er aus wie fünfzig. Ich meinte: passend. In den Wald fuhren wir in seinem schweren, tadellosen Audi. Die Waffen transportierte er stets im Kofferraum, gegen unbefugte Benutzung gesichert. Das war alles ganz richtig. Es fühlte sich nur nicht so an. Für mich, die hier irgendwie auf der Suche war. Stundenlang saß ich schweigend mit ihm im Wald, und wir schossen nichts. Wäre der Koch nicht gewesen, ich hätte meine gerade erst keimende Jagdlust verloren.

Den Koch fürchteten sie alle. Auch und vor allem der Chef. Wenn ein Gast wagte, um kurz nach zehn Uhr abends, Küchenschluss, noch um eine warme Mahlzeit zu bitten, schlichen sie auf Zehenspitzen und mit zitternden Knien zu ihm. Kurz darauf hörte man aus der Küche Gebrüll. Und das Scheppern von Töpfen und Pfannen, die gegen Wände prallten. Erst dann kam er der Bitte nach. Erst brauchte er dieses Ritual. War aufbrausend, unberechenbar, schleppte einen diffusen Zorn mit sich herum, auf irgendwen, irgendwas oder auf jeden und alles. Der Jäger, wie ihn seine Gegner verstehen.

Der Koch sagte: »Das nächste Mal jagst du mit mir! Damit der dich nicht versaut.« Jagdmäßig, meinte er. Der Koch sagte: »Weil nämlich, dein Chef, das ist ein Jäger. Ich aber!« Er reckte sich und streckte den Brustkorb vor. »Ich bin Jager!« Weil ich wusste, er hatte irgendein Herz für mich, wagte ich zu fragen: »Was ist der Unterschied?« Der Koch schnaubte. »Ein Jäger, du, der kauft seinen lächerlichen Loden aus dem Versandkatalog.« Er aber! Trug einen Uralt-Pulli und ebensolche Hosen aus Bundeswehrbeständen. Springerstiefel. Eine Art verschlissenen Tropenhut auf dem Kopf. Rote Haare, roter Bart und wilder Blick. In den Wald schaukelten und klapperten wir in seine Suzuki-Geländekiste gezwängt. Für die Gewehre war eben noch Platz zwischen meinen Knien. Bevor er Hotelkoch wurde, war er Soldat gewesen, na klar. Das musste einem keiner groß sagen. Jetzt strich er mit der Knarre privat durch den Wald. Stundenlang saß ich schweigend mit ihm da, und wir schossen nichts. Und ich hing, noch ohne es zu wissen, am Haken. Von etwas, was sich gut, fast richtig anfühlte. Für mich. Weil es meinem Bild von der Jagd und mir entsprach.

Lehrte man uns im Jagdkurs das Töten? Mitnichten. Man lehrte uns, eine Waffe zu laden, zu halten, man lehrte uns, mit ihr zu zielen. Und, hoffentlich, zu treffen. Mehr nicht. Das Töten, den Willen und die Fähigkeit, auch die letzte Grenze zu überschreiten, brachten wir von allein mit. Töten konnten wir schon. Wir alle.

Bevor M. uns gestattete, unser Können unter Beweis zu stellen, lehrte sie uns zu nutzen, was wir erlegen würden. Tierleiber öffnen, Därme entnehmen, Häute abziehen, Körper in Stücke schneiden. Für uns hieß das: aufbrechen, ausräumen, aus der Decke schlagen, zerwirken. »Die Jägersprache ist eine so schöne Sprache«, schwärmte M. Blumig, blutleer, befriedet. Wörter, die losgelöst sind von dem Geschehen. In der Halle des Dachdeckers betteten wir die »Stücke« auf den Betonboden über Tannengrün. Ein Schwein, zwei Hasen, dreißig Wildkaninchen, eine Schnepfe. Wir »legten die Strecke«, brachten die Toten in Reih und Glied. Der Autoverkäufer sah jämmerlich aus. »Und jetzt nimmt sich jeder bitte ein Seil und ein Stück, die Kaninchen zuerst. Halt, nein, du nicht, komm her.« M. hielt den Jämmerlichen am Arm zurück. Er atmete leichtsinnig auf.

Wir schlangen Seile um Hinterläufe und hängten die Tiere kopfüber an Stahlträgern auf. »Öffnen!« Messerstich unters »Waidloch«, den Hinterausgang eines jeden Wildtiers. »Aufschärfen!« Zwei Finger in das frische Loch, unter die Bauchdecke schieben und zwischen den Fingern die Haut bis zum Brustbein durchtrennen. Der Kanincheninhalt quoll heraus. Rot, blau, braungrau. Es floss kaum Blut. Ich griff Därme, Magen, Schlund, Leber, Nieren, Herz, alles hing zusammen, alles musste in einem der Hülle entrissen werden. Was fühlte ich? Technisch kaltes Interesse. Der Körper, sein Inhalt, sie waren ihrer Funktionen beraubt. Jetzt, wo das Leben die Hülle verlassen hatte, fiel es schwer, es zurück hinein zu denken. Fast war es unmöglich. Mit jedem Leib, den ich auftrennte und aushöhlte, schien es, als verlöre das Leben mehr an Bedeutung. Und mit ihm der Tod. War es das, was mich hierhergelockt hatte?

Dem Autoverkäufer und Nistkastenbauer, sich kurz und blöde in Sicherheit glaubend, hatte M. das Schwein reserviert. Den größten Leichnam von allen. Sie kannte ganz offenbar ihre Kandidaten. Seine Gesichtsfarbe wechselte von rosig über blass zu gelbgrün. Er trat an die borstige, kopfüber hängende Leiche, hob das Messer und ließ es sinken. »Ich kann nicht«, flüsterte er. Sie, mit erhobenen Brauen und erhobener Stimme, ging in ihrer Rolle als Mutter auf. Wie sie die eben verstand. »Natürlich kannst du! Durchatmen! Messer ansetzen!« Sie sprach jetzt ausschließlich mit Ausrufezeichen, im Tonfall der Fremdenlegion. »Du willst doch mal einer von uns sein!« Der Autoverkäufer schien sich nicht länger sicher. Er setzte mit zitternder Hand die Klinge an, drehte das Gesicht halb zur Seite, er zog und schob die Klinge abwärts durch die Schwarte. Das Schwein klaffte auf, und sein Inhalt fiel heraus. Sein Gestank füllte binnen Sekunden die Halle. Der Autoverkäufer taumelte rückwärts und erbrach sich. Unsere so mühsam erwirkte Distanz zum Tod war nicht für jeden und unter allen Umständen zu schaffen.

Meine Erfahrung im Töten war dünn. Einmal, als wir noch Hühner hatten, schlug ich einem von ihnen den Kopf ab. Das Huhn war krank, hatte binnen weniger Tage nahezu all seine Federn verloren, sein Körper war auf die Hälfte seiner gesunden Größe geschrumpft. Ich verurteilte es, ohne einen Tierarzt zu fragen, als unheilbar. Kein Mensch ruft eines kranken Huhns wegen den Tierarzt. Hühner werden nicht eingeschläfert. Hühner werden geschlachtet. Nicht nur die todkranken.

Diesem kahlen, torkelnden Tier aus seinem erbärmlichen Rest Leben zu helfen, hätte ich mir und anderen leicht als reinen Gnadenakt verkaufen können. Tatsächlich fühlte ich neben ehrlichem Bedauern eine gewisse Neugier. Den Gedanken daran, das Tier auf den Holzblock zu legen und mit einem Axthieb seinen Hals zu durchtrennen, empfand ich als furchterregend. Und verlockend. Beides hielt sich die Waage. War das ein erstes Aufflackern meiner »Lust am Töten«? Oder war es der Widerschein meiner aus Todesangst geborenen, ewigen Faszination für den Tod?

Ein Phänomen, das der Jäger und Biogeograf Günter Kühnle in seiner 589-Seiten-Dissertation über die Psychologie der Jagd mit dem Begriff »Emotionales Jagdparadox« umschreibt: Von den Nichtjägern immer wieder der »Lust am Töten« bezichtigt, plädieren die Jäger auf einen atavistischen, also zwar veralteten, doch unvermittelt wieder auftretenden natürlichen Beutetrieb, der sich an der Kulturrevolution »vorbeigeschlichen« habe. Das Töten sei zwar für den von ihnen angestrebten emotionalen Kick Bedingung. Und doch bestehe dieser nicht im Töten selbst.

Tatsächlich gründe die Jagdlust in einem Streben nach Macht, schreibt Kühnle. Wenn auch anders, als die Jagdgegner glauben. Die vermeintliche »Lust am Töten« sei vielmehr Ausdruck des unbewussten Strebens, das Ungreifbare in den Griff zu bekommen. Des Menschen Not, die grandiose, unbeherrschbare, bedrohliche Natur doch zu bezwingen. Der Kick, den sich der Jäger mit dem Töten verschaffe, sei seine extreme Befriedigung darüber, dem Tod nicht ausgeliefert zu sein. Sondern ihm gebieten zu können. Des Jägers Glück, seine Freude, Zufriedenheit und Zerstreuung beruhten auf seiner unbewussten Überwindung der Todesangst. Auch wenn das alles selbstverständlich ein Trugschluss ist.

Das Töten erwies sich als schwieriger, als ich es mir vorgestellt hatte. Das Huhn auf dem Hauklotz wand sich, entzog sich. Ich holte zweimal aus und schlug zu, bis ich traf. Und dann schaffte ich es nicht, gleich mit dem ersten Treffer Kopf und Körper zu trennen. Offenbar hatte ich nicht beherzt genug zugeschlagen. Etwas in mir hatte gezögert, meine Hand mit der Axt gebremst. Was immer es war, ich zwang mich, es zu überwinden. Schlug ein drittes Mal zu, und das Huhn war tot. Ich war überrascht. Diesmal und später, angesichts jeden neuen Todes, wieder. Wie schnell, wie spielend sich dieser schwerwiegendste aller Übergänge vollzieht. Vom Leben zum Tod, in einem Wimpernschlag, einfach so. Irreversibel.

Nach einem Vierteljahr Horrido hatten wir ersten Waffenkontakt. M. trug die Lehrflinten in die Kneipe wie Schätze. Die Flinte: ist das Gewehr für den Schuss mit Schrot auf Kleinwild. Geeignet gegen Geflügel, Kaninchen, Hase und Fuchs. Die Büchse: ist das Gewehr für den Schuss mit der Kugel. Bringt Größeres zur Strecke. Die kombinierte Waffe: hat zwei Läufe, einen für Kugel, einen für Schrot. Taugt zum Töten von Groß und Klein.

Wir taten, als schössen wir. Luden nicht vorhandene Patronen in die Läufe, schlossen die Waffen, gingen in Stellung. Schaft auf der Hüfte, Lauf nach oben. »Anbacken!« Wir rissen uns den Schaft an die Wange. Und »Peng!«. Dreißig bis hundert Meter weit weg stürzte ein imaginäres Reh. Hatte das noch mit mir und meinen Händen auf Holz und Stahl zu tun? Wahr ist, die Waffe schafft eine irreale Distanz. Wahrscheinlich gingen, müssten sie ihre Beute erstechen, erschlagen, erwürgen, weniger Jäger auf die Jagd. Ich kenne Jäger, die ein entferntes Reh erschießen können. Aber keinem Huhn in ihren Händen den Kopf abschlagen. Macht sie das zu besseren, weil weniger skrupellosen Menschen? Macht es sie verlogen und darum schlimmer? Oder sind wir am Ende alle gleich? Wie auch der Thekenfleisch essende Jagdgegner vielleicht weder ein besserer Mensch noch verlogen ist. Sondern nur auf eigene, wacklige Art von seiner Todesangst besessen.

Ich erzähle mal, was geschah, als ich später erstmals mein Kind mit zum Jagen nahm. Ein Mädchen, damals neun Jahre alt, mit großem Herzen und einem klaren Blick auf die Welt. Als ich beschlossen hatte, den Jagdschein zu machen, hatte es seine Stirn in Falten gelegt. »Du willst Tiere töten? Das finde ich nicht gut.« Ich erwiderte nichts. An jenem Oktobermorgen begehrte es, mit in den Wald genommen zu werden. Schlich Seite an Seite mit mir durch den Regen. Die Stufen zum Ansitz hinauf. Oben lauschte das Kind ins Dunkle. Hob bei jedem Knacken die Brauen und sah mich an. Ich schüttelte den Kopf. Das Kind senkte das Kinn zurück in den aufgestellten Jackenkragen. So saßen wir und schwiegen.

In der aufsteigenden Sonne wechselte die Landschaft vor uns von Schwarz nach Grau. Das Kind spähte in den Regen. Da war es! Ein Reh. In dem verwaschenen Morgen kaum auszumachen. Das Kind stieß mich an. Ich konnte sein Knie, gegen mein Bein gepresst, zittern spüren. Ich hob das Gewehr. »Schschsch«, wisperte das Kind. Ich legte den Lauf auf die Brüstung. Presste den Schaft in die Schulter, legte die Wange ans Holz. Das Kind hielt das Fernglas an die Augen gedrückt. Stieß mich an. Ungehalten. Seine Stimme vibrierte. »Schieß! Jetzt schieß!« Ich schüttelte den Kopf. »Ich kann nicht gut genug sehen.« Als die Beute sich auflöste in dem Grau und ich endlich den Lauf von der Brüstung nahm, weinte das Kind vor Enttäuschung.

Wir saßen noch ein paarmal gemeinsam da, in den Frühnebeln oder im Regen. Wir warteten über Stunden und schwiegen. Ich schoss nichts. Nicht ein einziges Mal. Ich sage: Es ergab sich nicht die Gelegenheit. Aber vielleicht fürchtete ich ja auch nur zu sehr oder zu wenig den Tod.

Fotos: Maria Irl