Ende mit Wende

Auch große Romane hätten manchmal einen anderen Schluss verdient. Wir haben Schriftstellerinnen und Schriftsteller gefragt, wie sie ihre Lieblingsbücher umschreiben würden.

Rita Falk
über
Winnetou

»Als Kind habe ich Winnetou geliebt – als er erschossen wurde, weinte ich eine halbe Nacht lang. Sie hatten doch schon so viele gefährliche Situationen überlebt. Und dann das! Als Erwachsene finde ich Karl Mays Ende nachvollziehbarer. Aber ich wünsche mir immer noch, dass Winnetou doch überlebt und mit seinem besten Freund weitere Abenteuer erlebt. Vielleicht etwas weniger schweißtreibende als früher. Ich stelle mir immer vor, wie die beiden mit Eseln, weißen Haaren und Rauschebärten dem Sonnenuntergang entgegenreiten.«

Meistgelesen diese Woche:

Rita Falk, 51, schrieb bisher sechs Krimis über den Polizisten Franz Eberhofer, die Bände »Dampfnudelblues« und »Winterkartoffelknödel« wurden verfilmt.

Wladimir Kaminer
über
Schuld und Sühne

»Bei Schuld und Sühne hatte ich das Gefühl, Dostojewski wollte einfach mit dem Buch fertig werden. Ich meine: Hunderte Seiten lang quält sich der Jurastudent Rodion Romanowitsch Raskolnikow mit Gewissensbissen, ob es richtig war, die alte Pfandleiherin und ihre Schwester umzubringen. Und dann: Geständnis und Arbeitslager. Wie erwartbar! Das Leben schreibt die besseren Geschichten: In St. Petersburg gab es einen echten Mordfall, bei dem eine alte Frau ihren Untermieter, einen Studenten, mit der Axt erschlagen hat, weil er die Miete nicht gezahlt hat. So hätte Schuld und Sühne enden sollen: Eine eiskalte Seniorin bringt Raskolnikow um, um die alten Schwestern zu rächen.«

Wladimir Kaminer, 48, wurde mit seinem 2000 veröffentlichten Erzählband »Russendisko« bekannt. Zuletzt erschien von ihm 2015 »Das Leben ist (k)eine Kunst«.

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Dörte Hansen
über
Sand

»Ich stand unter Schock, als ich das Ende von Sand gelesen hatte. Carl, die Hauptfigur, kommt aus dieser Höhle, hat das Unmenschliche überlebt, sieht nach endlosen Qualen wieder das Tageslicht – und wird von dem verwirrten Goldgräber erschossen. Man soll den Autor nicht in seinen Büchern suchen, aber natürlich dachte ich bei diesem schrecklichen Ende an den Tod von Wolfgang Herrndorf. Er wusste beim Schreiben ja von seiner schweren Krankheit. Sand ist ein Roman voller Schmerz und Hoffnungslosigkeit. Ich habe mir damals beim Lesen ein tröstlicheres Ende gewünscht – heute denke ich, ein Carl, der überlebt, würde den Roman verwässern. Ich wünschte nur, es hätte ein Happy End für Wolfgang Herrndorf gegeben.«

Dörte Hansen, 51, hat 2015 ihren ersten, von Kritikern einhellig gefeierten Roman »Altes Land« veröffentlicht.

Nele Neuhaus
über
Harry Potter

»Mir gefällt das Ende von Harry Potter nicht. Es ist so düster, anders als die anderen Bücher. In der Schlacht gegen Voldemort streicht Rowling die liebgewonnen Charaktere, als würde sie eine To-do-Liste abhaken. Ich frage mich, warum sie ihre Figuren mit dieser Härte sterben ließ. Ob sie sich vor sich selbst schützen wollte, vor der Versuchung, weiterzuschreiben. Als Leser wurde einem klar, jetzt ist es endgültig vorbei. Es wird kein neues Buch mehr geben. Ich hätte mir gewünscht, dass Albus Dumbledore überlebt und gegen Voldemort mitkämpft. Er könnte der Mentor von Harry bleiben und ihm endlich richtig das Zaubern beibringen – bisher hatte Harry ja immer nur Glück und gute Freunde. Später könnte Harry dann der nächste Schulleiter werden.«

Nele Neuhaus, 48, wurde bekannt durch ihre bisher siebenbändige Krimi-Reihe um das Ermittler-Duo Kirchhoff und von Bodenstein. Sie hat zudem drei Romane und acht Jugendbücher geschrieben.

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T.C. Boyle
über
Anna Karenina

»So sehr ich Anna dafür applaudiere, dass sie versucht, von ihrem strengen, asexuellen Ehemann Alexej Karenin loszukommen, um mit dem hübschen Wronskij eine leidenschaftliche Affäre zu erleben – ihre finale Entscheidung kann ich nicht gutheißen. Sie wirft sich unter die Räder der Lokomotive, und Leo Tolstoi lässt sie das Schicksal jeder untreuen Figur des viktorianischen Zeitalters erleiden (hab unehelichen Sex, stirb). Ich hätte mir gewünscht, dass sie sich zusammenreißt, nach Hause geht und einen Kurs in Eisenbahn-Management belegt. Oder, besser noch, in Eisenbahn-Ingenieurwesen. Dann hätte sie den Zug selbst fahren und gelegentlich anhalten können, um ihren Sohn zu besuchen. Oder um Wronskij im Kriegsgebiet zu besuchen und überschwänglichen Sex mit ihm zu haben. Mir gefällt die Vorstellung, wie sie älter wird, mit einem Zug die Gleise entlangrattert und eine Tasse Tee in der Hand hält, während alle anderen suizidalen Ehebrechererinnen darum wetteifern, sich vor ihr auf die Gleise zu werfen.«

Der Amerikaner T.C. Boyle, 67, hat bis heute 15 Romane und mehr als sechzig Kurzgeschichten veröffentlicht. Bereits sein Debütroman »Wassermusik« wurde 1982 zu einem internationalen Erfolg. 2015 erschien »Hart auf hart«.

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François Lelord
über
Madame Bovary

»Auf der letzten Seite findet die acht Jahre alte Berthe, die immer noch wegen des Suizids ihrer Mutter Emma verzweifelt, ihren Vater tot auf einer Bank im Garten. Als auch noch die Großmutter stirbt, wird sie von einer armen Tante zum Arbeiten in die Spinnerei geschickt. Ich weiß, Gustave Flauberts Roman ist ein Meisterstück des Realismus, ein Paukenschlag gegen die Romantik. Aber das Schicksal der kleinen armen Berthe ist ein bisschen zu viel für mich. Berthes Mutter Emma findet in ihrer Hoffnung auf Liebe und ein besseres Leben nur egoistische Liebhaber und verschuldet die Familie. Ihr Selbstmord ist eine Niederlage einer romantischen Seele gegen die Realität (das kennen wir bis zu einem bestimmten Punkt doch alle). Ich hätte mir gewünscht, dass die kleine Berthe vom Apotheker Homais adoptiert wird. Seine gutmütige Frau hätte sich liebevoll um Berthe gekümmert, sie hätte eine gute Bildung bekommen, vielleicht einen Adeligen aus Paris geheiratet – und damit unbewusst den Traum ihrer Mutter gelebt.«

François Lelord, 62, Franzose, ist Psychiater und Autor. Nach mehreren Fachbüchern erschien sein weltweit erfolgreicher Roman »Hectors Reise oder Die Suche nach dem Glück«, dem weitere Bände folgten.

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Carlos Ruiz Zafón
über
Alice im Wunderland

»Ich hätte zu viel Respekt vor dem künstlerischen Werk eines Lewis Carroll, als dass ich ihm empfehlen würde, dass Alice am Ende nicht aufwacht, sondern im Wunderland bleibt. (Und realisiert, dass der Verrückte Hutmacher in Wahrheit der Teufel persönlich ist, sie hereingelegt wurde und den ersten Kreis der Hölle betreten hat.) Andernfalls müsste ich mir dann nämlich vorstellen, dass jemand es wagen würde, eines meiner Romanenden zu verbessern. (Mir ist bewusst, dass mancher Leser von Das Spiel des Engels das nur zu gerne machen würde.) Doch wenn jemand auch nur ein Komma an meinen Büchern ändern würde, dann, fürchte ich, würde ich mich in ein Krokodil verwandeln und ihm respektvoll den Kopf abbeißen. Was soll ich sagen: Ich verteidige eben mein Territorium.«

Carlos Ruiz Zafón, 51, ist einer der erfolgreichsten spanischen Autoren der Gegenwart. Sein Roman »Der Schatten des Windes« wurde in mehr als vierzig Sprachen übersetzt.

Feridun Zaimoglu
über
Romeo und Julia

»Als wir Romeo und Julia in der Schulklasse durchnahmen, war ich ein brennender Jüngling und dachte: Verdammt noch mal, da bangt man die ganze Zeit mit ihnen und freut sich, dass die Anschläge der Familie nicht glücken konnten, die beiden zueinander finden – und dann dieses dramatische Liebesaus. Da half es mir herzlich wenig, dass mir die gescheiten Mitschüler – vornehmlich Mädchen – gesagt haben: Ja, das ist große Liebe. Ich malte mir damals ein anderes Ende aus: Die verfeindeten Familien metzeln einander nieder, es bleibt keiner übrig, der etwas gegen die Liebe einwenden kann und Romeo und Julia kommen zusammen. Ein Jahr später sah ich, wie die Beziehungen meiner Mitschüler verglühten und langweilig wurden. Da wurde mir klar, dass Meister Shakespeare schon wusste, warum Romeo und Julia nicht zusammenkommen. Ich merkte, dass fiebrige Liebe ein Haltbarkeitsdatum von fünf oder sechs Monaten hat und dann Schluss ist. Das einzige alternative Ende, das ich mir heute für Romeo und Julia vorstellen kann, ist: Herzverrücktheit, Liebesglut, Liebesbrand und nach fünfeinhalb Monaten die Trennung. Keine Routine, das ist zum Gähnen langweilig, sondern eine Exekution der Liebe. Die beiden leben als Zombies weiter, Schluss.«

Feridun Zaimoglu, 51, Schriftsteller, Journalist und Dramatiker, wurde mit seinen Werken »Kanak Sprak«, »Abschaum« und »Leyla« zur literarischen Stimme türkischstämmiger Einwanderer in Deutschland.

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Cornelia Funke
über
Harry Potter

»Ich habe es J. K. Rowling wirklich übel genommen, dass Sirius Black am Ende des fünften Harry-Potter-Bandes stirbt. Er war eine meiner Lieblingsfiguren, das nimmt man nicht so leicht. Was mich aber noch mehr aufgebracht hat war, dass Sirius so sang- und klanglos ging. ›Wenn ich mal eine meine Lieblingsfiguren umbringen muss‹, habe ich zu meinem britischen Verleger gesagt, der übrigens Rowling als Erster verlegt hat, ›dann werden Blut und Tränen auf den Seiten sein. So eine Figur verdient einen dramatischen Abschied.‹ Ein paar Stunden später stieg ich ins Taxi nach Heathrow und sah plötzlich den Tod meiner Romanfigur Staubfinger vor mir. Ich habe mich den ganzen Heimflug lang gegen die Wendung gewehrt. Aber die Geschichte war sehr hartnäckig – und ich musste mein Versprechen wahr machen.«

Cornelia Funke, 56, ist die wohl bekannteste deutsche Kinderbuchautorin. Sie hat bisher mehr als fünfzig Bücher geschrieben, darunter die »Tintenwelt«-Triologie.

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Jeff Kinney
über
Herr der Ringe

»Als Elfjähriger hatte ich mit einem Freund gewettet, wer als Erster alle Bände von Der Herr der Ringe gelesen hat. Ich hatte erst die Hälfte des letzten Bandes geschafft, da verriet mein Freund: Frodo stirbt. Unmöglich, dachte ich. Lief nicht alles auf ein glückliches Ende hinaus? Was sollte das, J.R.R. Tolkien, Frodo stattdessen auf einem Schiff in einen Mittelerde-Abklatsch von Walhalla davonsegeln zu lassen? Als Erwachsener erkenne ich darin zwar die tiefere Bedeutung, dass Frodo als Kriegsheimkehrer nicht in sein altes Leben zurückkann, dass seine Wunden nicht heilen – gerade, wenn man bedenkt, in welcher Zeit die Bücher geschrieben wurden. Trotzdem finde ich diesen Schluss unsagbar traurig. Wie gerne hätte ich gelesen, dass es ihm wie Sam ergeht, dem Tolkien stellvertretend für Frodo im Auenland ein glückliches Leben gönnt.«

Die Comic-Roman-Reihe »Gregs Tagebuch« von Jeff Kinney, 44, stand in den USA mehr als 400 Wochen lang auf der Bestsellerliste, die Bücher haben sich über 160 Millionen Mal verkauft.

Fotos der Verlage: dtv, Bastei Lübbe, Radom House, Piper, Ullstein, Fischer Verlag, Kiepenheuer & Witsch