»Der Holocaust war in der Familie nie Thema«

Wie entwickelt sich eine Familie, wenn die Vergangenheit verschwiegen wird? Erst recht wenn es um die Jahre im KZ geht? Ein Interview mit drei Generationen der Musikerfamilie Wallfisch.

Von alt nach jung: Anita (vorne), Maya, Simon und, auf seinen Armen, Alma Wallfisch.

Ein altes Reihenhaus im Nordwesten von London, hier wohnt die neunzigjährige Anita Lasker-Wallfisch. Ihr Haus steckt voller Erinnerungen: An den Wänden hängen Preisurkunden von Klavierwettbewerben, die ihr verstorbener Mann Peter Wallfisch einst gewann. Irgendwie passte auch noch der alte Flügel ins Zimmer, auf dem Fotos aus Anitas Kindheit stehen: Anita in den Dreißigerjahren in ihrer Geburtsstadt Breslau, Anita mit einem Cello zwischen den Knien. Die Regale biegen sich unter der Last von Notenblättern, fünf Cellokästen liegen verstreut. Fast jeder in dieser musikalischen Familie spielt Cello: Auch Anitas Sohn Raphael und ihr Enkel Simon sind Berufsmusiker.

Es ist, als kommuniziere die ganze Familie über das Cellospiel. Nur Anitas Tochter Maya nicht. Sie ist Psychoanalytikerin und hat sich darauf spezialisiert, wie Traumata durch mehrere Generationen einer Familie wirken können – ein Thema, das sie auch privat betrifft: Jahrzehntelang sprach die Mutter nicht über den Holocaust. Anita Wallfisch und ihre Schwester Renate waren in Auschwitz. Dort musste Anita Wallfisch im Häftlingsorchester für SS-Offiziere wie den KZ-Arzt Josef Mengele musizieren, der oft Schumanns »Träumerei« hören wollte. Die Schwestern überlebten das Grauen, sie wurden 1945 in Bergen-Belsen befreit.

Erst Anfang der Neunzigerjahre brach Anita Wallfisch ihr Schweigen und schrieb ihre Erinnerungen unter dem Titel »Ihr sollt die Wahrheit erben«. Das Buch war ein Welterfolg, aber in der Familie blieb vieles unausgesprochen.

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Anita Lasker-Wallfisch bekam, nachdem sie den Holocaust überlebt hatte, zwei Kinder. Eines davon ist Maya.

SZ-Magazin: Feiern die Wallfischs Weihnachten?
Simon Wallfisch: Wir versuchen es.
Anita Lasker-Wallfisch: Das größte Problem in dieser Familie ist, sie alle gleichzeitig an einem Ort zu versammeln.
Maya Jacobs-Wallfisch: Bis vor ein paar Jahren haben wir immer Weihnachten in der Familie gefeiert. Es war der einzige Tag im Jahr, an dem es Überfluss gab. Jede Menge Essen. Es war gute Stimmung, es war ein guter Tag. Ein Tag voll Großzügigkeit und Spaß – und davon gab’s sonst nicht viel. Ich vermisse Weihnachten. Und weil ich die Einzige bin, die das sagt, will man mich mundtot machen. Ich bin das schlechte Gewissen in dieser Familie. Selbst der Weihnachtsbaum ist jedes Jahr kleiner geworden!

Feiern Sie jüdische Feste in der Familie?
Anita: Ich bedauere sehr, dass ich an meine Kinder keine jüdischen Traditionen weitergereicht habe, aber ich bin so unjüdisch aufgewachsen. Außer Pessach bei Tante Cäcilie haben wir nie irgendwelche jüdischen Feste begangen, und dann kam der Holocaust, und ... Wo soll ich anfangen?
Maya: Deshalb habe ich damit angefangen!
Anita: Ja, Maya hat in die Familie eines Rabbis eingeheiratet. Sie war sehr stolz darauf, weil sie dachte, sie könnte uns in eine Tradition zurückführen, in der wir verankert sind. Aber die Ehe ist längst kaputt.
Maya: Später schenkte uns Mutter zu Weihnachten ihre Aufzeichnungen mit dem Titel Ihr sollt die Wahrheit erben. Die waren wunderschön gebunden, aber da standen keine Märchen drin, sondern eine Horrorstory. Ich wusste nicht, was ich damit anfangen sollte.

An einer Stelle in diesem Buch beschreiben Sie einen Mann in Bergen-Belsen, der auf dem Boden kniet und ein Ohr im Mund hat.
Anita: Ja, am Ende gab es dort Kannibalismus. Aber ich habe die Grausamkeiten dort und in Auschwitz nicht ausführlich beschrieben. Wozu auch? Warum soll ich meine Zeit damit verschwenden, all die entsetzlichen Dinge noch einmal zu erzählen, die ich durchgemacht habe? Ich lasse mich doch nicht für den Rest meines Lebens vom Holocaust verfolgen! Dieses Leben war 1945 endgültig vorbei, und wir sind jetzt normale Menschen.
Maya: Sind wir nicht! Als Kind will man so sein wie die anderen Kinder und dazugehören. Aber ich habe immer gespürt, dass wir anders sind und die anderen uns als Familie merkwürdig finden. Weil ich eine Mutter hatte, die eine Tätowierung trug, bevor das in Mode kam. Die Leute haben gefragt: Warum hat deine Mutter ihre Telefonnummer auf dem Arm? Ich konnte es auch nicht sagen, weil man mir nie etwas erklärt hat.
Anita: Vielleicht fühle ich, dass meine Holocaust-Erfahrung mir gehört. Ich will sie mit niemandem teilen, schon gar nicht mit meinen Kindern. Diese Welt gehört nur mir, und niemand soll sie betreten, warum sollte ich meine Tochter in eine Welt des Schreckens lassen? Es ist meine Welt, und sie geht nur mich etwas an.

Würde es nicht helfen, darüber zu sprechen?
Anita: Nein, absolut nicht. Der Holocaust war bei uns in der Familie nie Gesprächsthema. Ich brauche kein Verständnis und erst recht niemanden, der sich einfühlt. Verständnis erwarte ich höchstens dafür, dass ich es für vollkommen unnötig halte, wenn jemand 15 Paar Schuhe besitzt.

Maya Jacobs-Wallfisch, 57, hatte früher Suchtprobleme. Auch dies führt sie auf das Erbe der mütterlichen Traumata zurück.

Maya, haben Sie Ihre Mutter nie nach der Tätowierung auf ihrem Arm gefragt?
Maya: Doch, und ich bekam zur Antwort: Das sag ich dir, wenn du älter bist. Immer wieder wurde mir bedeutet: Stell keine Fragen! Irgendwann fragt man nicht mehr und richtet sich im Schweigen ein. Aber ich habe Dinge gefunden bei uns im Haus. Als ich elf Jahre alt war und Zigaretten suchte, fand ich ein paar Fotos, grauenhafte Fotos, ich wusste erst nicht, was das war. Es waren Fotos vom Holocaust. Es war, als ob du die Pornosammlung deines Vaters findest. Du weißt nicht, was du damit anfangen sollst. Also habe ich die Fotos weggelegt und das nie angesprochen.

Simon, wie gehen Sie mit den Erfahrungen Ihrer Großmutter um?
Simon: Ich gebe Workshops in Londoner Schulen, wo ich die Kinder in Gruppen einteile. Jeder, dessen Name mit A, B oder C beginnt, bekommt einen Aufkleber und muss sich in die Ecke stellen, während die anderen singen und tanzen. Es dauert zehn, 15 Minuten, und dann ist es kein Spiel mehr – wie in dem Film Die Welle. In der Holocaust-Aufklärung geht es darum, solche Erfahrungen von Ausgrenzung zu vermitteln. Wenn Sie Kindern von den Gaskammern und sechs Millionen getöteten Juden erzählen, verändern Sie gar nichts.
Anita: Völlig sinnlos!
Simon: Es ist doch egal, ob du Jude bist, Engländer, Franzose oder Deutscher. Holocaust-Aufklärung sollte sich mit dem Wesen des Menschen befassen. Es geht viel mehr um Psychologie als um Geschichte, und es geht darum, heute die unterschwelligen Botschaften in unserer Gesellschaft erkennen zu können: die Schlagzeilen über »Flüchtlingsströme« die Suche nach Sündenböcken.

Maya, warum haben Sie sich als Psychoanalytikerin auf traumatisierte Familien und die zweite Generation von Holocaust-Überlebenden spezialisiert?
Maya: Auch weil ich eine eigene Identität suche. Ich bin die Einzige, die keine Musikerin ist, und komme immer nur am Rande vor. Ich bin unsichtbar in dieser Familie!

Wie kann man verhindern, dass Traumata vererbt werden?
Maya: Das Wichtigste ist, miteinander zu sprechen. Als ich aufwuchs, standen überall Fotos von meinen Großeltern. Aber ich kannte nicht einmal ihre Namen! Sie wurden für mich nie zum Leben erweckt. Man hat uns nicht nur die Horrorgeschichten vorenthalten, sondern auch die schönen. Es war, als ob es vor dem Holocaust kein Leben gegeben hätte. Die Vergangenheit war wie ein verbotenes Land, und Deutsch war die verbotene Sprache.

Warum war Deutsch verboten?
Anita: Die Briten wollten uns nach Hause schicken, wie sie es nannten, und ich musste ihnen erklären, dass ich zwar in Deutschland geboren, aber keine Deutsche bin. Deutschsein war in jenen Tagen ohnehin wie eine ansteckende Krankheit. Ich war kein Nazi, sondern eine Jüdin, aber wir stellen bald fest, dass auch das nicht sonderlich beliebt war. Wir haben uns gefragt: Was zum Teufel sind wir nun? Also beschlossen wir, von da an kein Wort Deutsch mehr zu sprechen.
Maya: Aber ihr habt Deutsch gesprochen, Vater und du! Uns war Deutsch verboten, aber für euch war es die Sprache der Intimität.
Anita: Ich erinnere mich nicht, aber wenn du das sagst. Die meiste Zeit habe ich eh keine Ahnung, welche Sprache ich gerade spreche.

Glauben Sie, dass es auch Nachkommen der Täter in Deutschland gibt, die durch die Verbrechen ihrer Vorfahren traumatisiert sind?
Anita: Bestimmt. Ich glaube, die Deutschen sind sogar noch viel mehr traumatisiert als wir Überlebende. Schließlich wissen sie nicht, was ihre Großeltern getan haben. Sie müssen sich fragen: War mein Großvater ein Massenmörder? Er war doch so ein netter Mensch!
Maya: Das ist auch eine Art der Bindungslosigkeit. Man will nicht dazugehören.
Anita: Zu seinen mordenden Vorfahren!

Simon Wallfisch, 33, Cellist und Bariton in London, ist der Enkel von Anita und der Neffe von Maya Jacobs-Wallfisch. Seine Tochter Alma ist anderhalb.

Nach der Befreiung aus Bergen-Belsen schrieben Sie: »Ich war 19 Jahre alt und fühlte mich wie neunzig.« Wie fühlen Sie sich heute?
Anita: Jetzt bin ich neunzig, aber ich fühle mich bestimmt nicht wie 19. Damals hatte ich das Gefühl, alt und voller Weisheit zu sein.

Sie schrieben damals Ihrer Schwester: »Schick mir keine Kleider, nur Noten für das Cello«.
Anita: So bin ich immer noch. Ich werde sauer, wenn man mir Kleider schenkt. Ich brauche immer noch nichts im Leben. Was ich jetzt habe, reicht, bis ich 120 Jahre alt bin, wovor mich Gott bewahre! Aber Maya wollte ohnehin immer eine andere Mutter, die kultivierter ist als ich.
Maya: Vielleicht wolltest du eine andere Tochter?
Anita: Ja, vielleicht. In jedem Fall kann ich wohl ehrlichen Gewissens sagen, dass ich nicht die ideale Mutter bin.

Liegt das an Ihren Erfahrungen im Holocaust?
Anita: Ja, mein Mangel an Kultiviertheit kommt von meinen Erlebnissen damals. Seitdem habe ich überhaupt kein Verständnis für Menschen, die allen möglichen Luxus brauchen.
Maya: Meine Mutter hat keine Ahnung davon, was normale Bedürfnisse sind. Wenn ich eine andere Mutter gehabt hätte, die femininer und an schönen Dingen interessiert gewesen wäre und auch mal Make-up aufgelegt hätte, dann hätte ich ein weibliches Vorbild gehabt. Aber du warst immer so ein Alpha-Typ.

War Ihre Mutter sehr streng?
Maya: Sehr dominant.
Anita: Das bin ich immer noch!
Maya: Bestimmte Dinge waren ihr ein Gräuel. Du brauchst dies nicht, du brauchst das nicht … Es gab jede Menge Regeln. Wenn ich ein Brot wollte, hieß es: Du brauchst das nicht!
Anita: Du darfst nicht vergessen, dass wir überhaupt kein Geld hatten. Und was wir uns nicht leisten können, brauchen wir auch nicht. Ich weiß, wie wenig man braucht als Mensch. Ich war keine einfache Mutter.

Anita, in Ihrem Buch schreiben Sie: »Wir Überlebenden sind eine Rasse für sich.« Trennt Sie diese Erfahrung auch von Ihren eigenen Kindern?
Anita: Wenn ich mich mit anderen Überlebenden treffe, sprechen wir nie über unsere Erlebnisse. Wir kennen sie ja. Wir sind an einem Ort gewesen, wo außer uns niemand sonst je war. (Rezitiert auf Deutsch:) »Der Mensch begehre niemals zu schauen, was die Götter verdecken mit Nacht und Grauen.« Das ist von Schiller. Wir sind in einer Welt gewesen, die Außenstehenden vollkommen fremd ist. Das unterscheidet uns von normalen Menschen und es unterscheidet uns auch von unseren eigenen Kindern. Es ist kein großes Problem, wissen Sie, es ist nur … eine Tatsache.
Maya: Doch, es ist ein großes Problem. Ich habe mich immer gefühlt, als ob ich nicht zu meinen Eltern gehöre, als ob ich nirgendwohin gehöre. Es gab Menschen, aber keine Mitte.
Anita: Was Maya beschreibt, ist typisch für Flüchtlinge und ihre Familien. Wir gehören nirgendwohin. Wir haben britische Pässe und sind Engländer, aber dann auch wieder nicht. 1945 gab es viele von uns, die keine Heimat mehr hatten, und wo sind sie gelandet? Wo ich auch gelandet wäre, wenn ich nicht Verwandte in England gehabt hätte: in Israel. Da säße ich jetzt, und ihr wärt vermutlich alle Soldaten oder schon tot.

In Auschwitz trieb Sie die Kapellmeisterin Alma Rosé mit unerbittlicher Strenge zum täglichen Proben an. Sie haben später gesagt, dass sie Ihnen damit vermutlich das Leben gerettet hat.
Anita: Wir hatten mehr Angst vor Alma Rosé als vor den Gaskammern. Das hat uns auf andere Gedanken gebracht, sonst hätten wir nach draußen geschaut und den Rauch der Krematorien gesehen. So dachten wir nur an die Musik und hatten eine Höllenangst vor Alma. Wir mochten sie nicht.
Maya: Hast du dort gelernt, wie man anderen Angst einjagt?

Ist Ihre Mutter für Sie eine furchteinflößende Person?
Maya: Und wie! Ich hatte Angst vor ihr, bis ich fünfzig Jahre alt war.
Anita: Aber du bist nicht die Einzige, die Angst vor mir hat. Das ist gut, sollen sie ruhig alle vor mir Angst haben. Ich verstehe nur nicht, warum. Nur weil ich ein sehr sachlicher Mensch bin?
Maya: Weil du unnahbar sein kannst.
Anita: Das ist … (auf Deutsch) mein gutes Recht! – Du musst mich nehmen, wie ich bin. Aber ich war immer da, wenn ihr mich gebraucht habt.
Maya: Meine Mutter ist wie ein Kriseneinsatzkommando im Krieg. Als ich im neunten Monat schwanger war, fuhren wir mit dem Auto durch London. Als wir anhielten, griff ein Mann durch das Fenster und versuchte, mir meine Uhr vom Handgelenk zu reißen. Sofort fing meine Mutter an, mit ihm zu kämpfen.
Anita: Natürlich habe ich gekämpft. Ich lasse mir von niemandem irgendeinen Scheiß gefallen!
Maya: Und während meine Mutter mit dem Dieb rang, setzten bei mir schon die Wehen ein, und ich schrie immer nur: Das sind nicht die Nazis, verdammt noch mal, fahr einfach los! Sie hat gekämpft, als ob es um ihr Leben ginge. Das war nicht normal.
Anita: Nicht normal? Sich zu wehren, wenn man im Krieg ist?

Anita, in Ihren Erinnerungen schreiben Sie: »Vor allem haben wir im KZ eins gelernt: Menschenkenntnis. Wir haben feststellen müssen, dass fast alle Menschen in der Stunde, wo sie sich bewähren müssen und zeigen, dass sie Menschen sind, zu Tieren werden.« Hat die Welt aus der Erfahrung des Holocaust gelernt?
Anita: Nein. Schauen Sie sich die Welt doch an!
Simon: Die Grenze zwischen Zivilisation und Chaos ist sehr schmal, das kann man heute in jeder großen Stadt beobachten. Wenn Sie um 17.30 Uhr über die London Bridge gehen und die Massen beobachten: Niemand beachtet den anderen, Ellbogen überall, ein einziges Getümmel. Natürlich kann man die Rushhour nicht mit Auschwitz vergleichen, aber im Verkehr der Großstadt kann man beobachten, wie der einzelne Mensch in der Masse verschwindet und keine Verantwortung mehr gegenüber seinen Mitmenschen fühlt.

Fotos: Spencer Murphy