»Er sagte es ohne Hemmungen«

Wie ist es, sein Coming Out im Altersheim zu haben? Egon weiß es. Er musste all seinen Mut zum zweiten Mal im Leben zusammennehmen.

Der Sessel seines Zimmers im Kieler »Servicehaus« ist Egons Lieblingsplatz geworden«

Egon, der liebt die Aufmerksamkeit, sagt Alexander, ein Freund, 44 Jahre jünger als Egon. Wenn andere ihn nicht sehen, wenn er nicht so sein kann, wie er ist, dann fühlt er sich unwohl.

Egon, der sieht nicht so typisch aus, er ist nicht so auffällig, teilweise sehen sie ja schon affig aus, Egon aber, der kleidet sich eher bieder. Das sagt Gisela, 70, die Schwester von Egon. Egon ist 78.

Egon wurde einmal zusammengeschlagen, die Nase so blutig, so übel zugerichtet, dass seine Mutter schrie und der Vater mit ihm zur Polizei lief. Egon sagt, er fühlte sich schuldig nach der Schlägerei, weil er schwul war, er dachte: Bloß nichts sagen, lieber so tun, als wäre nichts gewesen. Sonst: Skandal. Ein Schwuler in der Kleinstadt! Dass er sich für Männer interessierte, hatte er niemandem verraten, die Schläger müssen gemerkt haben, dass er anders war, eine Idee zu nett vielleicht. Schwule Sau!, riefen sie, das sagte ja alles. Wann das war, nicht sicher, er überlegt, in den Siebzigern wahrscheinlich. Schwule Säue, die verdienen das eben, die machen ja was Verbotenes. Deutsches Strafgesetzbuch, Fassung von 1937: Ein Mann, der mit einem anderen Mann Unzucht treibt oder sich von ihm zur Unzucht mißbrauchen lässt, wird mit Gefängnis bestraft. Paragraf 175 StGB: endgültig aufgehoben am 10.3.1994.

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Egon lebt in einem Haus, in dem nur Alte wohnen. Er bekommt Medikamente, zwanzig Pillen am Tag. Er bekommt Essen, zum Mittag gab es Schnitzel mit Schwarzwurzeln, das schmeckte, wie meistens. Egon sagt, seine Beschwerden sind: Wasser in den Beinen, ständiger Harndrang, der Magen, Schwindel, Kopfschmerzen, vorhin ganz starke. Egons Adresse: Vaasastraße 2 in 24109 Kiel, ein Haus der Arbeiterwohlfahrt, die nennt es nicht Heim, sondern Servicehaus: Gepflegt wird, wer gepflegt werden muss, die anderen werden so betreut, wie sie Betreuung brauchen.

Egon braucht das seit einem Tag vor sieben Jahren, kalt war es, und einen Tag vor diesem Tag war er noch feiern gewesen, Egon mittendrin unter den ganzen Jungen, so liebte er es. In der Traumfabrik, bei Gays and Friends, jeden vierten Freitag im Monat. Und dann, am nächsten Tag in seiner Wohnung, lag er plötzlich auf dem Boden, auf dem Bauch, wohl ausgerutscht, vielleicht über den Teppich gestolpert, oder vielleicht, dachte er, war das Laminat zu glatt. Ein Freund, der über ihm wohnte, rief an, eigentlich nur um zu fragen, ob Egon Wäsche hätte. Egon lallte. Egon, was ist los? Getrunken? Egon hat doch nicht getrunken, nach so langer Zeit, ein Rückfall? Egon ist trocken, seit vielen Jahren. Getrunken hatte er nicht. Ich kann nicht aufstehen, sagte Egon. Der junge Mann hat Ihnen das Leben gerettet, Sie hatten einen Schlaganfall, sagte die Schwester im Krankenhaus. Ach, ich bin doch nur ausgerutscht, sagte Egon. Kurz nach diesem Tag zog er um, denn das Bad war zu klein für ihn und den Rollator, er brauchte Hilfe beim Duschen, im Haus war kein Fahrstuhl, er kam die Treppe nicht runter, er sagt: So ein bisschen war das die Vertreibung aus dem Paradies.

Egon: Nach meinem Schlaganfall haben wir uns das hier angeguckt, und so bin ich hier, ich hätte beinahe gesagt, gelandet. Aber ja, jetzt bin ich hier gelandet.

Frau Weber, die Leiterin vom Servicehaus: Er ist kontaktfreudig, kommunikativ, er fand schnell Zugang. Doch einmal im Fahrstuhl sagte eine ältere Dame zu ihm: Sie sind ja ein patenter junger Mann, Sie könnten noch eine Frau abkriegen. Er stand da und wusste nicht, wie er reagieren kann.

Egon: Beim Einzug habe ich Frau Weber erzählt, dass ich schwul bin, anderen nicht, das wollte ich nicht. Sie sagte damals: Wenn man Ihnen zu nahe tritt, Sie sich diskriminiert fühlen, dann greifen wir ein. Ich sagte zu ihr: Die Alten werden mit Homosexualität Probleme haben, einige werden das nicht verstehen, besser, wenn die das nicht wissen.

Frau Weber: Er sagte mir das wegen seiner Erfahrungen. Ich denke, er befürchtete, dass er abgelehnt wird. Er war vorsichtig, verhalten. Er ist der erste Bewohner, von dem ich weiß, dass er homosexuell ist. Wir haben viele Singlefrauen, ich würde sagen, da sind mit Sicherheit auch alt gewordene lesbische Frauen dabei, die nie im Leben darüber sprechen, weil es für diese Generation ein großes Tabu ist.

Habt ihr eigentlich Schwule und Lesben?, fragte einmal der Leiter eines Heimes seine Kollegen und bekam die Antwort: Nein, das Problem haben wir nicht. Das Problem!

Ist man alt, dann ist man hetero, sagt der Heimleiter: Schwulsein, das geht im Alter genauso wenig wie im Fußball, und bei einigen ging es auch im Leben nicht.

Die Geschichten, die man hört: Ein Mann lebt an seinem Leben vorbei, er ist mit einer Frau verheiratet, und dass er Männer liebt, erfährt die Familie erst, als er im Sterben liegt und sie die Wohnung ausräumt, Briefe entdeckt.

Ein Mann, ebenfalls verheiratet, bestellt sich ins Heim einen Mann zum Kuscheln, weil er sagt: Für Frauen bin ich zu alt, zu hässlich. Aber er beteuert, nein, schwul, das sei er nicht, um Gottes willen.

Angst, enttarnt zu werden. Angst, dass getuschelt wird. Und viele würden es nicht mal benennen: Angst. So war das ja, so ist es eben, gehört sich nicht, Verbot, ab ins Versteck.

Einer sagt: Das kann in zehn Jahren alles ganz anders sein, in den Zwanzigern gab es auch mal die Offenheit, dann kamen die Nazis, und alle waren wieder im Knast.

Angst, von jemandem abhängig zu sein, Angst, ausgeliefert zu sein.

Und dann gibt es noch diese Geschichte: Einer will nicht, dass die Pfleger erfahren, dass er schwul ist. Jemand notierte auf seiner Akte hinter Ansprechpartner »Schwulenberatung«. Nein, das geht nicht, streichen: Sofort! Wie behandeln ihn denn die Pfleger, wenn die das wissen? Besser, wenn die es nicht wissen, sagte Egon zu Frau Weber. Egon, der viele Jahre brauchte, um sein Schwulsein zu leben, wird alt unter Menschen, die aufwuchsen, als Schwulsein unter Strafe stand: Verpönt war das, sagen sie, diese Menschen gab es ja gar nicht, diese Menschen durften nicht leben, zur Nazizeit wurden die doch vergast, sie sind andersherum, verzaubert, Freundschaftsfrauen, warme Brüder.

Ein schlichter Flur führt zu Egons Zimmer, Raufasertapete, grauer Teppich, vor den Türen liegen Fußmatten: Ein Hund mit Schleife, ein Leuchtturm und »Moin«, an den Türen hängen Blumenkränze. Zehnte Tür rechts, Egons Zimmer, hier hängt nichts an der Tür, über seinem Bett hängt ein Cosmopolitan-Kalender, er zeigt den Monat Januar, immer, Egon blättert nie weiter, ihm gefällt der Januar: Ein junger Mann lehnt an der Mauer, muskulös ist er, der Oberkörper nackt. Ist Egon in seinem Zimmer, und das ist er oft, sitzt er viel im Sessel und schaut Fernsehen: Maybrit Illner, Anne Will, viel Phoenix. Er liest auch gern, im Bücherregal neben dem Fernseher. Gerhard Schröder: Entscheidungen, Helmut Schmidt: Außer Dienst, Richard Nixon: Memoiren, Andreas Lühr: Coming-out-Handbuch.

Alexander, einer von Egons Freunden: Man outet sich mit 16, 18, mit zwanzig, aber mit Mitte siebzig im betreuten Wohnen? Als ich Egon besuchte, dachte ich immer: Bloß nicht auffallen. Sonst denken die noch, Egon bestellt sich junge Liebhaber. Egon kam mir am Anfang sehr zurückhaltend vor, er bastelte in einer Gruppe mal eine Biografiekiste und formulierte: Da hatte ich eine Lebenskrise. Mehr sagte er nicht.

Egon: Ich dachte, nicht jeder muss das wissen. Und man hätte ja nachfragen können.

Björn, ein Freund: Als ich Egon kennenlernte, vor 23 Jahren war das, erzählte er immer sehr gern aus seiner Vergangenheit, er war sehr offen, machte nie ein Geheimnis aus seiner Geschichte: Er hatte aufgehört mit dem Versteckspiel, er lebte das Leben, das er immer wollte.

Alexander: Egon hat hier etwas Entscheidendes aus seinem Leben verschwiegen, ich dachte anfangs immer, er verleugnet sich dort im Haus, und wir müssen ihn so oft es geht rausholen. Dahin, wo er er selbst sein kann.

Egon, geboren 1937, ein uneheliches Kind, aufgewachsen bei den Großeltern in einer Kleinstadt in Schleswig-Holstein. Artig war er, das sagten sie alle, und manchmal stachelte er seine Schwestern an, an der Tischdecke zu ziehen, denn er war ja artig: nur nichts Verbotenes machen. Schon in der Schule, mit zehn, elf, schaute er den Jungs hinterher, das war aber lange bevor er wusste, dass er schwul ist, lange bevor er es anderen sagte – er war eben immer auf der Suche, und nie hatte er ein Mädchen. Beim Ausflug mit der Abschlussklasse stiegen die Jungs bei den Mädchen ein, und Egon dachte: Was soll ich da?

Sein Opa sagte nicht schwul, sondern: warmer Bruder. In der Stadt, in der sie lebten, gab es einen warmen Bruder, einen Sattlermeister, dem wurde nachgesagt, dass er es mit Lehrlingen treibt, eingesessen hat er, Unzucht, Paragraf 175 StGB.

Es war ein Makel, sagt Egon, aber wer weiß schon genau, woran das nun lag, dass er nicht zu sich stand, all die Jahre, dass er allein war, nicht zurechtkam im Leben, Angst hatte, dass jemand was merkt, Angst, wenn er zur Arbeit ging und dachte, die Kollegen gucken aus ihren Autos und denken jedes Mal: Guck mal, da läuft die schwule Sau. Traumatisiert nennt man das wohl heute, sagt Egon, keine Sexualität, nur in der Fantasie, er konnte ja nicht sagen: Tach, ich bin Egon und ich stehe auf Männer. Wenn man sich jahrelang versteckt, ein Leben vorspielt – man ist ja nicht man selbst.

Egon betäubte das einfach, ob es das Versteckspiel war oder bloß nichts Verbotenes zu machen, wer weiß das schon. Mit 17, 18 mochte er kein Bier, nie trank er was, das fing erst später an, mit Ende zwanzig, dreißig. Es fing an, nachdem er von der Kleinstadt in die Großstadt gezogen war und sich frei fühlte, frei, frei, zum ersten Mal. Er hörte, wo eine Schwulenbar ist, und dann ist er eines Abends einfach hingegangen. Hat sich an den Tresen gesetzt und mit nie- mandem gesprochen, er wollte nicht so sein wie die, war ja ein Makel, warme Brüder.

Egon betäubte sich. Jeden Abend trank er ein Bier und bald noch mehr und ging zu spät zur Arbeit, ging zurück nach Schleswig-Holstein, in die Kleinstadt, und ging zu spät zur Arbeit, wohnte bei den Eltern und trank Korn, Weinbrand, am liebsten Campari.

Das mit dem Alkohol wusste die Mutter, das mit der Homosexualität wollte sie nicht wissen. Einmal, als sie stritten, kam es aus ihm heraus: Und übrigens, schwul bin ich auch noch! Und sie: Wieso tust du uns das an, Papa und ich sind alt, aber denk doch an deine Schwestern, die sollen hier noch länger leben. Danach haben sie nie mehr darüber gesprochen.

Das erste Mal, dass Egon sagte, er ist schwul, das war in der Therapie, über vierzig war er da, der Arzt fragte: Wieso sind Sie hier? Und Egon: Wegen des Alkohols. Sie machten ein Rollenspiel, und Egon sollte eine Frau einladen, zum Rendezvous, die anderen hörten zu, Egon lud Renate ein, und als das Rollenspiel vorbei war, sagten die anderen: Egon, der war unsicher, er ist schüchtern. Der Arzt: Sie sind auch wegen Ihrer Hemmungen hier. Sie können ja nur Kontakte knüpfen über Alkohol.

Doch dass er nun schwul war, sagt Egon, das nahm der Arzt auf, als hätte er gesagt, heute sei schönes Wetter. Egon hatte ja damit gerechnet, dass er, sobald er das erwähnt, sofort nach Hause geschickt wird.

Nach der Therapie verließ Egon die Kleinstadt und ging nach Kiel, dass er das schafft, hatte keiner mehr erwartet, sagt die Schwester. Das traute ihm keiner zu: Egon, der nie Freunde hatte und keine Frau, der als Kind schon etwas pummelig war, jedenfalls nicht so drahtig wie andere Jungs und nicht so gut beim Fußball, zurückhaltend, unsicher, der sich nie wehrte, ging weg, trank nicht mehr. Er hörte von einem Verein für Schwule, rief aus einer Telefonzelle an, sie luden ihn ein, erst zögerte er, aber dann traf er sich mit ihnen, sprach zum ersten Mal mit Schwulen, er wurde sicherer, denn er war nicht mehr der Einzige, bald engagierte er sich in der Szene, beriet Männer bei ihrem Coming-out, veranstaltete Seminare, ging in Discos, tanzte zu Chartsongs, redete über sich und wollte immer im Mittelpunkt stehen, und wenn er keine Aufmerksamkeit bekam, sagen die Freunde, dann schmollte er.

Er hatte keine Angst mehr vor Sätzen, guck mal, der ist schwul, höhö, schwule Sau. Doch einen Satz aus Kiel, den weiß er noch heute. Eine Frau sagte: Wie kann ich auf dich herabschauen? Ich habe doch ein behindertes Kind! Jüngere Freunde hatte Egon, fast nur Schwule, seinen besten, Björn, lernte er kennen, als Björn 19 war, Egon war 55. Was die Leute wohl sagten? War ihnen egal. Björn sagte: Das ist mein väterlicher Freund, und Egon sagte: Wie ein Sohn. Zusammen fuhren sie nach Amsterdam, Egon war in Marokko und auf Sri Lanka. Nun, zehnte Tür rechts, sitzt er im Sessel, an der Wand über ihm der nackte Mann in Schwarzweiß, darunter Egon, Strickpullover, Jeans, Wollsocken, schwarze Lederslipper, Rollator. Ja, nun bin ich hier gelandet.


Egon: Ich rede hier am liebsten mit dem Personal: mit Praktikanten, mit jungen Männern. Björn: Das schwule Leben bestimmt ihn. Er findet Jungs toller als die Damen, den Männern sieht er viel mehr nach, da denkt er: Das ist ja auch ein Süßer. Wenn ein junger Mann kommt und hilft, geht ihm das Herz auf, er schmilzt dahin.

Egon: Das Auge braucht ja auch was. Wenn ein junger Mann kommt und mir hilft, das tut mir gut. Dann wäscht er mir den Rücken, duscht mich. Ich denke immer: Hoffentlich kommt der am Morgen. Fast alle meine Freunde sind viel jünger als ich und schwul, es ist nichts Sexuelles mit ihnen.

Frau Weber: Durch seine jungen Freunde wird er getragen.

Björn: Das Einzige, was ihn am Leben erhält, ist die schwule Community. Durch uns kann er zurückblicken auf das, was er tat. Ohne uns und ohne das, was uns verbindet, würde er eingehen wie eine Primel.

Alexander: Ohne uns … Das wäre ein einsames Leben, wir sind der Kontakt zu seinem schwulen Ich. Wenn er den Austausch mit uns nicht hätte, würde er seine Identität verlieren. Ich glaube, dann wäre er schon tot.

»Wie alt werden?« ist eine Frage für alle. Vielleicht zeigt sich bei denen, die kämpfen mussten zu benennen, wie sie leben und wen sie lieben, besonders, was es im Alter braucht: die Verbindung zu dem, der man war, und zu dem, was man nicht mehr sein wird – jung. Was, wenn die eigene Geschichte keine Zuhörer mehr hat? Wenn niemand da ist, mit dem man teilt, in dem man sich spiegelt?

Frau Weber: Ich glaube, er beschäftigte sich schon lange mit dem Gedanken, sich bei uns zu outen. Vor zwei Jahren machten wir dann hier im Haus mit mehreren Bewohnern einen Gesprächskreis, es ging um andere Lebensformen. Familien im Wandel – so umschrieben wir es.

Alexander: Ohne Egon hätte es diesen Kreis nicht gegeben, ich war auch dabei, ich bin im Vorstand eines Vereins für Schwule, Lesben und Transgender, dem Verein, in dem auch Egon sich früher engagierte.

Egon: Das wird ein Flop, dachte ich: Die werden schreiend hinausrennen!

Alexander: Gleich zu Beginn meldete sich eine Dame zu Wort und sagte, sie hätte gerade in den Kieler Nachrichten gelesen: Es gäbe ja auch Regenbogenfamilien.

Egon: Die alten Damen kannten sich ganz schön aus, sie wussten, dass es auch Formen des Zusammenlebens gibt ohne Trauschein. Das hat mich überrascht, ich habe dann auch erzählt, wie ich aufgewachsen bin, und dann habe ich das mal durchblicken lassen und mich geoutet. Da Alex dabei war, fühlte ich mich relativ sicher. Ich dachte, einige werden distanziert sein mir gegenüber, aber das trat nicht ein. Eine Dame fragte: Wieso hast du das bislang nicht erwähnt? Das kannst du doch nicht ausklammern, so lernen wir dich ja nicht richtig kennen.

Frau H., eine Bewohnerin: Als er es bei dem Gesprächskreis zugab, da wurde es ganz ruhig. Alle horchten hin.

Frau P., eine Bewohnerin: Er sagte es ohne Hemmungen.

Gisela, die Schwester: Das muss ein gewaltiger Akt für ihn gewesen sein. Er ist sehr empfindlich. Wenn man spöttelt, wäre es nicht gut.

Egon: Es war ein gutes Gefühl danach. Ich hatte es ja einfach verdrängt, geschwiegen. Aber wenn man das verschweigt, diese Seite, diese wesentliche Seite, dann wertet man sich ja selber ab. Und das möchte ich nicht.

Frau H.: Ich habe früher im Studentenwerk gearbeitet, da waren immer welche dazwischen, bei den Frauen dachte ich: Mamma mia, was ist da los, wenn die knutschen, aber die Männer waren so was von höflich, die kann man doch nicht verurteilen. Ich finde das normal.

Frau P.: Höflicher als unsere Männer sind die, so wahnsinnig höflich! Aber es gibt welche, die sind nicht so aufgeschlossen wie wir. Wenn ich hier im Haus rumfrage, gibt es sicher einige, die das nicht akzeptieren.

Frau T., eine Bewohnerin: Ich war nicht dabei, aber als ich das erfuhr und vor einigen ansprach, hatte ich das Gefühl, keiner wollte das hören, die Haltung war: Das gehört nicht zu uns, so was macht man nicht, so wie wir sind, ist es richtig.

Frau P.: Das sind doch Menschen wie du und ich, nur haben die eine andere Veranlagung. Manchmal denke ich auch, es kommt durchs Elternhaus. Dass sie zu sehr von Frauen verwöhnt wurden.

Frau H.: Auf einem Schiff nach St. Petersburg waren einmal zwei Schwule, die waren so lieb und nett, wir tanzten zusammen, aber erst als der Sturm kam, lernten wir sie so richtig kennen: Die sind ja so was von ängstlich!

Frau P.: Die sind so ein bisschen verweichlicht, das merkst du, wenn die so nett sind.

Frau H.: Ja genau, dadurch merkst du das.

Frau P.: Aber schlechte Erfahrungen mit solchen Männern habe ich nie gemacht.

Egon: Ja, die sind ja so nett mit den Frauen, heißt es. Wenn ich das schon höre! Schwule sind nicht immer nett, das stimmt nicht.

Björn: Man will ja als Individuum gesehen werden. Hier wissen jetzt alle, dass du schwul und nett bist. Aber: Was kommt dann? Wie gehen die Menschen damit um? Mir fehlt, dass es im Haus nicht weitergegangen ist.

Egon: Es kann hier kein Thema sein, dann müsste ich es zum Thema machen.

Björn: Und eigentlich spricht man über so was ja nicht.

Egon: Hier ist das Thema Krankheit, Kinder, Enkelkinder, und die Frauen reden über so Hausfrauensachen: Hauswirtschaft, Kochrezepte.

Björn: Weil das deren Thema ist. Fünfzig Jahre Hausfrau, Kinder – worüber sollen sie sonst reden?

Egon: Ich bin einfach müde, habe keine Kraft, noch so viel Neues zu machen, meine Kräfte lassen nach.

Björn: Was Egon fehlt, glaube ich, ist ein Gegenüber. Ihm fehlt dieses Gefühl: Jemand weiß, wovon er spricht, ohne dass er es ansprechen muss. Er möchte nicht mit alten Frauen über Krankheiten sprechen, er möchte sagen: Weißt du noch, früher? Aber so eine Biografie, wie er sie hat, gibt es nicht.

Egon: Manchmal frage ich mich: Was mache ich hier bloß? Dann finde ich die alle blöde. Die erzählen von ihren Kindern und Enkelkindern, ich interessiere mich für Gott und die Welt.

Alexander: Als Lesbe oder als Schwuler kommt dir im Alter nicht nur das abhanden, was allen abhanden kommt: soziale Kontakte, Gesundheit. Dir kommt auch noch abhanden, dass du dir Gleichgesinnte suchen kannst. Wenn man sich erinnert, ist doch wichtig, dass man das nicht nur alleine macht, sondern zusammen tun kann. Dass du dein Schicksal teilst. Die Verwundungen begleiten dich ja. Seine Verwundung ist eine andere als die Scheidung von der Frau.

Schwul, schwul, schwul, Egon wiederholt das Wort immer wieder, es ist ja nicht nur das, worum es geht, was heißt schon schwul. Er ist ja nicht im Vollberuf schwul, das ist ihm wichtig, und wenn es ihm keiner ansieht, was kaum einer tut, dann ist es ein Kompliment, sagt er, so wirken will er nicht, nicht immer drüber sprechen, nicht rechtfertigen, darauf läuft’s ja doch hinaus: es immer wieder erklären müssen.

Er hat einen Kalender mit einem nackten Mann im Zimmer. Gefällt ihm halt. Wieso hängt ein Mann sich eine Frau mit nackten Brüsten auf? Nur unter Schwulen muss man so was nicht erklären. Doch Schwule verstehen sich nicht allein, weil sie schwul sind, und ein Schwuler braucht nicht das Gleiche wie ein anderer Schwuler. Was sie brauchen, findet eine Generation gerade heraus. Die ersten Schwulen, die in Deutschland offen lebten, werden alt und suchen nach Formen, einige nach Schutzraum, gründen schwule Wohngemeinschaften, besser nicht ins Heim. Die Schwulenberatung in Berlin gründete ein Haus, ein Altenheim nur für Schwule sollte es erst werden, doch dann gab es Bedenken: Ghetto. So wurde es ein Haus für mehrere Generationen, mit Pflege-WG für alte Schwule, Warteliste: lang.

Björn: Es wäre doch besser, denke ich, wenn du wo wärst, wo Schwule selbstverständlich sind, wo du es nicht thematisieren musst, wo du normal redest, weil es die Geschichte ist. Die Pflegekräfte, die Putzfrauen, die Praktikanten, alle würden wissen: Die Menschen haben eine schwule Geschichte, das wäre doch ein anderer Umgang, Egon?

Nur unter schwulen alten Männern, um Himmels willen, sagt Egon, das ist auch nicht vergnügungssteuerpflichtig, nur im eigenen Saft: Ist man da nicht so stigmatisiert?

Egon schweigt, im Sessel sitzt er, ja, nun ist er hier gelandet, am Rand der Stadt, wo er vor Jahren ankam und neu anfing, sein zweites Leben, sich mit nichts mehr betäubte, nichts mehr versteckte.

Tach, ich bin Egon und ich stehe auf Männer, sagte er zu den Jungen, und die Jungen fanden toll, dass ein Alter so selbstverständlich spricht. Gelandet ist er nun unter den Alten, wo es manchmal ein bisschen so ist wie damals, als er jung war.

Und nun, sagt Egon, tu ich manchmal wieder so, als wäre es schlimm, sodass ich es nicht erzählen kann hier, dem Nachbarn, ein paar Zimmer weiter, wieso soll ich es dem erzählen, denke ich, wie der über Flüchtlinge spricht: Das wäre doch Perlen vor die Säue. Aber nun mach ich ja das Gleiche wie früher, als meine Mutter sagte: Denk an deine Schwestern. Die verstehen mich hier nicht, das denke ich, das ist mein Schutz, aber warum Schutz, was kann denn passieren? Ich erzähle ja kein Staatsgeheimnis, nichts Anrüchiges, doch dann ist es das Muster von damals: etwas, worüber ich nicht reden kann. Weil ich denke, macht man nicht, muss verboten sein, muss schlimm sein. Sollte ich drüber reden?

Fotos: Julia Sellmann