Die Schlacht um Verdun beginnt um 12.45 Uhr, direkt nach dem Mittagessen. Auf einer matschigen Wiese hinter dem Schulgebäude steht ein Lehrer und trennt die Schüler in zwei Gruppen, einige tragen olivgrüne Armeeuniformen. Die einen seien die Deutschen, erklärt er, die anderen die Franzosen. Die Wiese sei die Westfront. Dann verteilt er Stoffsäckchen, die mit getrockneten Bohnen gefüllt sind, an die Deutschen. »Eure Granaten«, sagt er. Die Franzosen schreien in Erwartung des deutschen Angriffs: »Vive la France!« Der Lehrer schreit: »Fertig machen zum Feuern! … FEUER!« – und die Stoffsäckchen fliegen durch die Luft. Der erste Franzose, der davon getroffen wird, fällt um und bleibt minutenlang im nasskalten Gras liegen.
Die dänische Østerskov Efterskole ist eine außergewöhnliche Schule: Der Unterricht wird fast gänzlich in Rollenspiele eingebettet. In dieser Woche Anfang Dezember steht der Erste Weltkrieg auf dem Lehrplan, in der Woche zuvor inszenierten die Schüler fünf Tage lang eine Zombie-Apokalypse, davor den aktuellen Konflikt in der Ukraine.
Das Schulgebäude, ein einstöckiger Barackenbau mit Kiesbetonwänden, liegt am Rande der norddänischen Kleinstadt Hobro zwischen Einfamilienhäusern, einem Altersheim und mehreren Fußballplätzen. Inmitten der Schüler allerdings hat man sofort das Gefühl, in einer anderen Welt zu sein. Und das liegt nicht nur an den enthusiastischen Todesschreien der Franzosen auf dem Schlachtfeld von Verdun oder den einigen wenigen, die sich an diesem Mittag historisch korrekt verkleidet haben. Es ist die Fülle an Spleens und stolz ausgelebtem Anderssein: In den Reihen der deutschen Soldaten steht eine Schülerin in einem Giraffenkostüm. Eine andere hat sich ein Fuchsfell über den Arm gezogen. Ein besonders übergewichtiger Schüler unter den auffallend vielen übergewichtigen Schülern trägt ein alarmrotes T-Shirt mit dem Aufdruck »Nerd ³√64 Ever«. Auch die Jugendlichen hier sind außergewöhnlich.
Das dänische Schulsystem, das muss man wissen, ist liberaler und ideenreicher als das deutsche. Die Schüler besuchen von der ersten bis zur zehnten Klasse eine Gemeinschaftsschule. Erst danach werden sie getrennt: in Gymnasiasten, die das dänische Pendant zum deutschen Abitur anstreben, und Jugendliche, die eine Berufsausbildung beginnen. Ab der achten Klasse haben die Schüler jedoch die Möglichkeit, von der Gemeinschaftsschule zunächst auf ein Internat zu wechseln, die sogenannten Efterskolen. Diese Internate sind privat geführt, von Vereinen oder Kirchengemeinden zum Beispiel, werden aber zum größten Teil über staatliche Zuschüsse finanziert. Es sind keine Eliteinstitutionen, jeder fünfte dänische Schüler entscheidet sich dafür. Fast alle Efterskolen haben einen bestimmten Schwerpunkt: Sport, Musik, Theater, Sprachen, Segeln, Fischerei. Die Østerskov Efterskole war die erste und einzige Schule mit dem Fokus Rollenspiele, seit vergangenem Jahr gibt es in Fynshav auf der Insel Alsen eine weitere.
Als der letzte Franzose gefallen ist, gehen die Schüler zurück ins Gebäude, verschwitzt und gelöst wie nach einem Fußballspiel. »Wir wollten ein emotionales Erlebnis schaffen, damit sie sich gut an diese Woche erinnern können«, sagt Morten Tellefsen, einer der Lehrer. Sein Kollege Martin Hill steht ein paar Minuten später in einem der Unterrichtsräume vor einer schwierigeren Aufgabe: Er soll die verschwitzten Schüler nun motivieren, ihr Englisch und Deutsch zu verbessern und gleichzeitig etwas über Geografie und Geschichte zu lernen. Die Schüler klappen ihre Laptops auf und starren auf die Bildschirme. Einige fangen an, Call of Duty zu spielen, andere schauen sich Animes an. Martin Hill, der Lehrer, beugt sich einsam in der Mitte des Raumes über einen Tisch, auf dem er eine zwei Mal zwei Meter große Weltkarte ausgebreitet hat, und hofft, mit seinem Spiel die Aufmerksamkeit der Jugendlichen zu gewinnen.
Auf der Rollenspielschule gibt es nur wenige Regeln, auch das muss man wissen. Alkohol-, Zigaretten- und Drogenkonsum sind verboten, genauso wie Nazi-Verkleidungen, Bett- ruhe herrscht ab 23 Uhr. Ansonsten können die Schüler größtenteils selbst entscheiden, wie sie sich in der Schule verhalten und wie intensiv sie am Unterricht teilnehmen. Wenn jemand zum Beispiel seine Socken auszieht und die Füße auf den Tisch legt, ist das okay. Jeder darf und soll an seinem Laptop arbeiten, und kein Lehrer kontrolliert, ob die Schüler nicht lieber zocken. Der Unterricht ist fächerübergreifend und nur ein Angebot, Prüfungen schreiben die Schüler erst am Ende des Schuljahres. Feste Klassen gibt es nicht. Die insgesamt 75 Jugendlichen, die derzeit das Internat besuchen, sind zwischen 14 und 19 Jahren alt und werden in wechselnden Gruppen jahrgangsübergreifend unterrichtet. Ihre Eltern bezahlen pro Woche zwischen achtzig und 180 Euro, ihre Kinder werden dafür rund um die Uhr versorgt.
Bei Martin Hill sitzen heute 14 Schüler, aufgeteilt in Zweier- und Dreier-Teams. Jede Gruppe soll eine der selbstverwalteten Kolonien des Britischen Empire im Ersten Weltkrieg verkörpern – Australien, Neuseeland, Südafrikanische Union, Kanada. Martin Hill spielt Deutschland und greift an der Westfront britische und französische Truppen an. Auf der Weltkarte platziert er kleine Plastikfiguren – Infanteristen, Artilleriegeschütze –, die die Truppen wie bei einem Brettspiel symbolisieren. Die selbstverwalteten Kolonien sollen den Briten und Franzosen helfen, die Deutschen aufzuhalten. Dafür müssen die Schüler verschiedene Aufgaben lösen. Sie können zum Beispiel einen Brief formulieren, auf Deutsch oder auf Englisch, der aus der Perspektive eines Soldaten an der Front geschrieben ist. Dieser Soldat berichtet seiner Ehefrau von dem Grauen, das er erlebt hat. Für jede erfüllte Aufgabe dürfen die Schüler eine Truppe auf die Weltkarte setzen. Nach einer halben Stunde schickt Australien sein erstes Transportschiff mit zwei Infanteristen von Sydney aus Richtung Europa los. Gekämpft wird schließlich mit Würfeln, die höhere Zahl gewinnt.
Spiele machen Spaß, und wer Spaß hat, lernt besser. So könnte man eines der pädagogischen Prinzipien der Schule zusammenfassen. Aber funktioniert das auch? Und wird dabei genug Inhalt vermittelt?
»Stellen Sie sich vor, Sie sind ein Senator im alten Rom und müssen die Wasserversorgung Ihrer Stadt sichern«, sagt der Direktor der Rollenspielschule, Mads Lunau, am Nachmittag in seinem Büro. »Unser Mathelehrer berechnet mit den Schülern die notwendige Trinkwassermenge und plant ein neues Aquädukt. In Chemie behandeln die Schüler die unterschiedlichen Metalle, die in den Minen in den Alpen gefunden wurden. Danach inszenieren sie eine Sklavenauktion: Germanenstämme aus dem Norden bieten den Römern Gefangene zum Verkauf an, natürlich sprechen die Germanen nur Deutsch. Plötzlich explodiert der Vesuv, und die Schüler müssen sich mit den Gefahren von Vulkanen beschäftigen, das wäre dann Geologie.«
Lunau ist 52, ein grauhaariger Mann mit fröhlichem Gesicht, das ein wenig an Kurt Beck erinnert. Im Gegensatz zu einigen seiner Lehrerkollegen kann man sich ihn nur schwer als streitaxtschwingenden Germanenhäuptling vorstellen (Martin Hill, der einen prächtigen Vollbart trägt, dagegen gut). Auch die Lehrer verkleiden sich oft thematisch passend. Einige reisen in ihrer Freizeit zu Live-Rollenspiel-Events, sogenannten LARPs. Die Szenarien dort bedienen oft das Klischee, das man von Rollenspielen im Kopf hat: ein Aufeinandertreffen von als Ritter, Zwerge, Zauberer oder Orks verkleideten Menschen, die sich tagsüber mit Schaumstoffschwertern duellieren und abends Met aus Hörnern trinken.
Lunau, der Direktor, hatte in der vergangenen Schulwoche einen kurzen Auftritt als Zombie mit Kunstblut am Hemdkragen, wurde aber relativ schnell von seinen Schülern erschossen. Lunau ist mehr ein Stratege als ein Kämpfer, er hat mehrere Weltmeistertitel in Advanced Civilization gewonnen, einem Brett- und Computerspiel, in dem man eine antike Zivilisation von der Bronze- in die Eisenzeit führen muss. 2006 hat Lunau die Rollenspielschule gemeinsam mit einem Freund gegründet und mittlerweile 13 Lehrer eingestellt. Darunter ist kaum ein gelernter Pädagoge. Der Physiklehrer hat Archäologie studiert, die Deutschlehrerin Jura, Lunau Philosophie. Ausnahmslos alle sind jedoch begeisterte Spieler. »Wir haben unser Hobby zum Beruf gemacht«, sagt Lunau.
Als er die Schule eröffnete, habe er Jugendliche erwartet, die ähnlich tickten wie er während seiner Schulzeit: Bücherleser, Einserschüler, vielleicht ein bisschen nerdy, aber sozial integriert. »Doch dann«, sagt Lunau, »kam jemand anderes.«
Angila zum Beispiel. Sie ist 16 und gehört zu den zwanzig Mädchen auf dem Internat. Am Abend steht sie auf dem Flur vor ihrem Zimmer, das ihre drei Mitbewohnerinnen gerade saugen und nass wischen. Einmal die Woche ist Putztag, noch eine der wenigen Regeln. Angila sagt in perfektem Englisch: »Wir nennen unser Zimmer Asyl. Wir sind vier Mädchen mit psychischen Problemen.«
Angila hat Asperger und ADHS, zumindest hat das ihr Psychologe diagnostiziert. Sie glaubt, dass sie deshalb schon immer etwas komisch war. In ihrer alten Schule wurde sie gemobbt. Ihre Einsamkeit hat sie mit Manga-Comics und Anime-Filmen verdrängt und bald angefangen, Kostüme zu schneidern, in denen sie wie ihre Zeichentrickhelden aussieht: Sie ist Cosplayer. Das habe sie auf ihrer Schule nicht gerade beliebter gemacht, sagt sie. Hier nun fühle sie sich zum ersten Mal uneingeschränkt akzeptiert.
Egal welchen Schüler man auf der Østerskov Efterskole fragt: Die Erfahrung, ein Außenseiter gewesen zu sein, schikaniert worden zu sein, hat sich bei jedem in die Seele gefressen. Draußen waren sie die Freaks, die Loser, die Nerds, hier drinnen sind sie Angila, Oliver oder Kalle. Der Schuldirektor Mads Lunau hat einmal eine Umfrage gestartet, weshalb sich seine Schüler für diese Schule entschieden hatten. Die häufigste Antwort: Freunde finden.
Angilas Mitbewohnerin Thea kommt mit einem Speer in der Hand aus ihrem Zimmer. Sie hat lange braune Haare, die an einer Seite kurz rasiert sind, einen Sidecut. Sie wirkt damit wie eine Kämpferin aus Herr der Ringe. Auf ihren Armen zeichnen sich Narben ab. »Jedes Mal, wenn ich als Kind etwas falsch gemacht habe, wurde ich von meinem Vater bestraft«, sagt sie. »Seitdem ritze ich mich, wenn ich mich schuldig fühle.«
Thea, 17, klingt im Gespräch älter, erwachsener, als sie ist. Das gilt für viele Schüler hier. Gleichzeitig hat man das Gefühl, dass die Jugendlichen den Kinderspaß nachholen, der ihnen früher verdorben wurde. Abends, auf den Fluren, muss man aufpassen, nicht von 18-Jährigen umgerannt zu werden, die einander mit Wasserpistolen jagen. Man begegnet Emo-Mädchen mit schlumpfblau gefärbten Haaren und Jungs wie Mads, einem Heavy-Metal-Fan mit einem stachelbesetzten Lederband um den Hals, der sich bei Live-Rollenspielen am liebsten als Gladiator oder Ork verkleidet. In den Sommerferien, erzählt Mads, bastele er Monsterkostüme aus Schaumstoff, Latex und echtem Lammfell. Was draußen als uncool gilt, ist hier normal. In der Rollenspielschule halten auch Jungs Händchen.
»Gender ist hier nicht so wichtig«, sagt Angila. Sie selbst fühle sich wohl als Frau, sei aber pansexuell. »Ich verliebe mich in die Persönlichkeit eines anderen. Aussehen und Geschlecht sind mir egal.« Thea sagt: »Pansexuell ist das Beste!«
Die Rollenspielschule ist ein Schutz- und Ausprobierraum. Die Frage ist, ob die Jugendlichen sie gestärkt verlassen – oder noch mehr Angst bekommen vor der Welt vor der Tür.
»Rollenspiele sind soziales Training«, sagt Morten Tellefsen, einer der Lehrer. »Bei uns können sich die Jugendlichen in verschiedenen Situationen testen und für das komplizierteste Spiel üben, das es gibt: die Realität. Sie entfernen sich nicht davon, sondern kommen ihr näher.«
Etwa neunzig Prozent seiner Schüler wechselten nach einem oder zwei Jahren auf das Gymnasium, sagt Lunau, der Direktor. Vorher müssen sie sich dafür in den gleichen Prüfungen beweisen wie die Schüler auf anderen Internaten. Dort schafften diesen Schritt durchschnittlich nur 75 Prozent, so Lunau. Ob seine Schüler später auch auf den Gymnasien erfolgreich sind, wisse er nicht.
Mads, der Heavy-Metal-Fan, leidet am Tourette-Syndrom. Wenn er nervös wird, zuckt sein Körper, vor allem sein Kopf. Nur im Rollenspiel passiere ihm das nicht, sagt er. »Weil es keinen Sinn machen würde für den Charakter, den ich spiele. Es ist unglaublich.«
Neulich fuhr ihn seine Mutter mit dem Auto nach Aarhus, die zweitgrößte dänische Stadt. Sie parkten in der Nähe der Fußgängerzone. Mads zog eines seiner Monsterkostüme an, den Minotaurus: zwei Meter groß, schwarzes Fell, Stierkopf mit Hörnern. Er lief damit durch die Stadt. »Es war fantastisch«, sagt er. Die Leute wollten Fotos mit ihm machen. Auch drei blonde Mädchen, die in einem Frozen-Yogurt-Shop arbeiteten. Sie nahmen Mads in ihre Mitte wie einen Prominenten.
Fotos: Fabian Zapatka