Mutter und die Fremden

Wenn Menschen pauschal gegen Ausländer wettern, sollte man ihnen entschlossen gegenübertreten, findet unser Autor. Aber was, wenn es die eigenen Eltern sind?

Risse, die man nicht zu kitten vermag, werden nie kleiner, nur größer.

Pegida findet bei uns oft sonntags statt. Manchmal auch samstags. Auf jeden Fall an Weihnachten, zudem an Ostern, überhaupt an jedem Feiertag, an dem ich meine Eltern besuche.

Es braucht dazu nicht mal einen besonderen Anlass. Vergangenen Sonntag beispielsweise sitzen wir bei Braten und Kartoffeln zusammen, weil wir den Geburtstag meines Vaters nachfeiern, und nachdem ich das erste Stück Gemüse in den Mund gesteckt habe, verfängt sich so ein leiser Ton, meistens von meiner Mutter, eher nebensächlich, in meinem Ohr.

»Es kommen immer mehr …«
»Wer kommt?«, frage ich.
»Das kannst du jeden Tag lesen, jeden Tag Überfälle …«
Ich senke den Kopf. Dann beendet meine Mutter den ersten Teil: »Nimm doch noch ein Stück Braten.«
Ich habe nicht den Eindruck, als ob sie darüber hinaus auf irgendeine Reaktion wartet. Vor einigen Jahren, als das Thema langsam massiver wurde, habe ich noch Einwände angebracht, Abwägungen. Das Übliche: »Mutter, so allgemein kann man das doch nicht sagen … Es gibt doch auch andere …«

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Aber mit der Zeit ist lediglich Schweigen übrig geblieben. Manchmal ein angenervtes Schnauben, meinerseits. Denn das, was mich so fertigmacht, ist nicht ihre andersgeartete Meinung, sondern diese Stumpfheit: Menschen müssen essen, Menschen müssen trinken, Ausländer kassieren Sozialhilfe. Ungefähr so. Es geht um gewissermaßen biologistische Tatsachen, nicht um einen Diskurs.

Es geht bei ihr allerdings auch weniger um Ausländerhass, sondern eher um Ausländerangst. Und ihre Ängste und Aufzählungen haben immer etwas Unbestimmtes, Globales. »Die reden ja auch nicht mit Frauen …«, sagt sie zu Beginn des zweiten Teils. Einfach so. Es gibt Kirschtorte mit Schlagsahne.

»Mutter!«

Aber argumentieren bringt nichts. Sie schweigt nur und ist beleidigt. Dazu dieser glasige Blick, nach unten gerichtet.

Mein Einwurf ist in ihrer Sicht das gleiche arrogante Aburteilen, wie sie das schon zu kennen meint. Sie hat ihr Leben lang gearbeitet, war so gut wie nie krank, doch ihre Rente ist äußerst bescheiden. Natürlich hat das etwas mit ihren äußerst bescheidenen Einkünften als Verkäuferin zu tun. Aber für sie ist diese Einsicht nicht möglich. Sie sieht nur die Ausländer, »die hier alles geschenkt bekommen«. Während sie ihr Leben lang arbeiten musste und trotzdem nichts hat. Verbitterung.

Wir sitzen immer noch bei Kaffee und Kuchen.
Lebensverbitterung. Vielleicht hätte sie vieles in ihrem Leben anders angehen sollen? Aber das schreibt sich so einfach.

»Nimm doch noch ein Stück Kuchen … Ich hab so viel geholt …« Wenn Claus Kleber im Heute-Journal Tränen der Rührung verdrückt über die sogenannte Willkommenskultur, dann lässt sie das kalt. In ihrer Sicht ist das die Melancholie der Wohlhabenden. Für meine Mutter sind die Menschen, die sich ehrenamtlich für Flüchtlinge engagieren, »Lehrerkinder«, die nach der Hilfe zurück in ihre schönen Viertel fahren.

Sie kennt die Verachtung und auch den Abscheu gegenüber Pegida. Aber in ihren Augen ist das die übliche Arroganz und Verachtung einer gebildeten Oberschicht.

Was soll ich dazu sagen?

Es geht mir inzwischen nicht mehr darum, sie zu überzeugen. Ich will auch nicht recht haben – aber es kommt rein gar nichts. Sie will nicht diskutieren, an einem Kompromiss arbeiten oder wie man das nennen soll. Und das macht mich traurig. Denn ich liebe meine Eltern. Aber jedes sachliche Argument verhallt im Nirwana ihrer Gedankenwelt.

Ausländer sind dreckig, faul, frech und vor allem von dem einen gemeinsamen Ziel besessen: von Sozialhilfe zu leben, und zwar lebenslang – und nebenbei viele Kinder zu machen, die alle wiederum nur von Sozialhilfe leben wollen.

»Wirklich alle?«
Schweigen.
»Es gibt doch auch andere …«
Und schon wieder argumentiere ich.
»Die sollen da bleiben«, sagt sie, auch wenn Krieg und Leid die Ursachen sind.

Mutter und Vater sind als Kinder nach dem Zweiten Weltkrieg selbst verschickt worden, mein Vater hatte seine Eltern im Krieg verloren, er kam zu Pflegeeltern in ein anderes Bundesland. »Ihr wart doch selber Flüchtlinge.«
»Das war was anderes.«
»Wieso?«
Schweigen.

So ein Beharren. Ausharren. Mutter wird ihre Position nicht aufgeben, nicht mal abschwächen. Die Ausländer stehen für alles, was in ihrem Leben falsch gelaufen ist.

Dabei kennt sie gar keine Ausländer, behaupte ich mal. Obwohl sie täglich von Ausländern umgeben ist. Aber es ist ein Vorbeilaufen, ein Aneinandervorbeilaufen. Ein gegenseitiges Desinteresse, denn sie ist eine alte Frau. Eine alte deutsche Frau. Welche junge Familie aus Syrien sollte an ihrem Leben interessiert sein?

Das Vertrackte ist dabei, dass meine Eltern tatsächlich in einem sogenannten Problemviertel wohnen, also stärker an den gesellschaftlichen Veränderungen beteiligt sind als viele Kommentatoren. Ihre katastrophische Weltsicht ist also nicht einfach nur ein Hirngespinst. Es geht auch nicht simpel um Vorurteile. Vor 45 Jahren, als meine Eltern in diesen Stadtteil gezogen sind, war das eine nette Straße in einem für junge Familien beliebten Viertel. Große Altbauwohnungen, Parks, Spielplätze. Heute ist daraus ein »sozialer Brennpunkt« erwachsen. Heute wohnen in dem gesamten Straßenzug nur noch drei deutsche Familien. Wobei der Ausdruck Familie falsch ist, es sind eben alte Paare. Es sind die Übriggebliebenen. Wie meine Eltern.

Ich erinnere mich, dass mich ein jüngerer Kollege zu Hause absetzen sollte, und er hatte Angst, sein Auto in dieser Straße zu parken. Er studiert in dieser Stadt und hatte sogenannte »schlimme Dinge« gehört. Das Bizarre ist, dass dieser Freund bei der Flüchtlingshilfe aktiv ist. Aber er möchte mit den Menschen in den Problemvierteln eigentlich nichts zu tun haben.

Es ist tatsächlich nicht ungefährlich, dort zu wohnen, aber mein Vater ist 81 Jahre alt, meine Mutter 75. Sie können sich nicht vorstellen, noch einmal umzuziehen. Meine Mutter wurde in den vergangenen Jahren sogar zweimal überfallen. Es ist nicht zu rekonstruieren, ob es sich bei den jeweiligen Tätern um Ausländer gehandelt hat, die Polizei ging eher von Beschaffungskriminalität aus, Junkies. Einmal hat ein Fahrradfahrer mit Baseballkappe meiner Mutter in einem dunklen Weg aufgelauert, an einem Friedhof, um ihr die Handtasche zu entreißen. Dabei hat sie sich an der Schulter verletzt und musste operiert werden. Beim zweiten Mal ist ihr ein Unbekannter bis zur Haustür gefolgt, hat registriert, dass diese Haustür nicht richtig ins Schloss fällt, und ist ihr anschließend bis in die Wohnung gefolgt, um ihr wiederum die Handtasche zu entreißen. In einer Form von Panik hat sie sich aber an diese Tasche geklammert und nach meinem Vater gerufen, der im Wohnzimmer döste. Daraufhin begann der Dieb, mit der Faust auf meine Mutter einzuschlagen, bis mein Vater endlich im Flur stand. Erst dann floh der Mann.

Und mehr als eine Form von Verständnis, nennen wir es Sozialarbeit, war den gerufenen Polizisten nicht möglich.

Wir haben uns daran gewöhnt, dass solche Täter nicht mehr zu ermitteln sind, darüber lesen wir tatsächlich jeden Tag in der Zeitung. Aber ich habe mir nie darüber Gedanken gemacht, wie so eine Form von Resignation auf eine alte Frau wirkt. Allerdings kann ich mir sehr gut vorstellen, was sie über die Silvesternacht in Köln denkt, als Ausländer über Frauen herfielen. Seltsamerweise spricht sie das Thema nicht an. Dieses Schweigen ist fast noch bedenklicher als ihr sonstiges Wüten.

Ich kenne diese Angst meiner Mutter aus meiner Jugend, als das Viertel langsam »schwierig« wurde. Ich bin auch einmal überfallen worden. Aber das waren in meiner Jugend deutsche »Asis«.

»Es wird alles noch viel schlimmer werden«, stöhnt meine Mutter. Irgendwann, spätestens mit der letzten Tasse Kaffee, kommt unweigerlich der Moment, wo sie wieder über ihr Thema reden muss. Es wird immer schlimmer. Ob Frühjahr oder Herbst, oder wenn ein Familienangehöriger verstorben ist. Irgendwann muss es wieder raus.

»Die bauen sogar eine neue Moschee …« Sie explodiert sonst. Obwohl sie wissen muss, dass ihre Kinder den Mund verziehen oder zumindest schweigen. Aber meine Mutter macht das nicht, weil sie ein Gespräch in Gang bringen möchte. Es geht ihr nicht mal um einen Kommentar. Doch, Zustimmung, vielleicht, aber das kann sie nicht erwarten.

Zustimmung bekommt sie stattdessen von ihren Freundinnen und den anderen Tanten und Onkeln im Rentneralter. Manchmal kommt mir das Ganze wie ein Generationenkonflikt vor, weil die Jüngeren, die Babyboomerverwandtschaft, sich deutlich anders positionieren. Meine Schwester widersetzt sich sogar ziemlich lautstark. Aber das beeindruckt meine Mutter nicht. Irgendwie fühlt sie sich dazu berufen, Pegida, die sie nur aus dem Fernsehen kennt, in unser Wohnzimmer zu tragen. Bei jedem anderen Thema nähme sie sich ihren Kindern gegenüber zurück, weil sie sich nicht klug genug fühlt, aber wenn es um die Ausländer geht, entwickelt sie Heldenmut.

Es gibt Sonntage, Kuchentage, da erinnert sie mich an einen verstorbenen Onkel. An den Kriegsheimkehrer. Wahrscheinlich kennen einige Deutsche noch diesen Charakter, Typ Russlandheimkehrer, vor dessen Besuchen immer gemahnt wurde, »nur ja nicht über den Krieg zu sprechen«. Weil sonst eine Flut von Verwünschungen ausbrach. Ein unbewältigtes Trauma, viele verlorene Jahre in Kampf und Gefangenschaft. An den Kuchentagen spricht meine Mutter von ihrem persönlichen Stalingrad.

»Man kann nicht mehr mit Goldketten durch die Stadt gehen«, fährt sie inzwischen fort, »die reißen einem das direkt vom Körper runter.« Ich weiß nicht, ob sie das aus einem Bericht über einen anderen Kontinent hat oder ob es wirklich in ihrer Stadt passiert ist. Es ist mir vor allem neu, dass meine Mutter mit Goldketten herumläuft, aber darum geht es nicht.

Es gibt kein Zur-Seite-Treten aus den eigenen Meinungen, kein Abwägen, kein Abstrahieren von der eigenen Person.
Ich liebe meine Eltern, und das ist das Schlimme. Ich sehe diese Angst, diesen Graben, aber ich weiß auch nicht, was ich tun soll.

Meistens schweige ich. Aber mir ist klar, dass es so nicht weitergehen kann. Mein Vater bestärkt meine Mutter durch nickende Komplizenschaft, meine Schwester zischt ihren Unmut in einer Deutlichkeit heraus, der nur zu weiterer Verbitterung führt. Streiten führt nicht weiter, das ist mir inzwischen klar, Schweigen wiederum schließt auch keine Gräben. Ich werde beim nächsten Mittagessen einige Fakten auf den Tisch legen, nehme ich mir vor, die meine Mutter wenigstens ansatzweise noch mal zu einem Dialog bewegen könnten. Bislang ist für sie nämlich unwesentlich, ob die Ausländer aus Syrien stammen und vor Krieg geflüchtet sind, oder aus dem Irak, oder aus Albanien, in der Sicht meiner Mutter sind es alle »Fremde«. Sie will diese Menschen nicht. Und das ist ein körperliches Unbehagen, über das man nicht diskutieren kann.

»Warum ist eigentlich die Wohnungstür mit zwei Zusatzschlössern gesichert?«, fragt mein kleiner Sohn, der im Flur spielt.

In aller Engelsgeduld erläutert meine Mutter ihm, dass hier überall viele böse Menschen wohnen und deshalb …

»Mutter!«

Es ist ihr nicht klar, dass sie ihren Enkel ängstigt. Sie weiß nicht, was sie da erzählt. Und sie wäre selbstverständlich entrüstet, wenn man sie als Nazi bezeichnete. Also der beliebte Vorwurf aus der »Lügenpresse«. Das Wort benutzt sie nicht. Aber sie hat mit den Pegida-Demonstranten gemeinsam, dass sie sich von der Presse ignoriert fühlt. Wobei ich mich dann immer frage, wer genau diese Presse sein soll. Aber damit bin ich wieder beim Abwägen, Analysieren, und das ist genau das, was meiner Mutter zumindest nicht hilft.

Sie ist doch eine nette Frau, aber dann kommt der Anfall. Das ist wie ein epileptischer Anfall. Es geht nur am Rande um eine politische Frage.

Im öffentlichen Diskurs panzert sich die Anti-Pegida-Front mit martialischen Worten. Die ich verstehen kann. »Wie blöd seid ihr eigentlich?«, heißt es da, oder auch direkt, musikalisch: »Arschloch!« Da wird »Haltung« gefordert, eindeutiges Entgegentreten. Das ist auch richtig. Aber vor mir sitzt meine Mutter.

»Nimm doch noch ein Stück Kuchen«, sagt sie.

Illustration: Stephan Schmitz