Wer ist hier der Bosse?

Die Zeiten sind ernst, Deutschland driftet auseinander – und dann kaufen alle das Album eines Sängers, der so knuddelnett aussieht wie sonst nur Günther Jauch. Ein knallhartes Erfolgskonzept? Oder ist Bosse wirklich so: nett?

Axel Bosse gibt Gitarrenunterricht. Kann man auf Youtube sehen: Bosse sitzt neben einem Mädchen, beide mit Akustikgitarre auf dem Schoß. Er erklärt die Akkorde seiner neuen Single: »Wir fangen an mit dem G, ich spiele das vermindert, das heißt: Ich hab den Ringfinger auf der vorletzten Seite.« Prrrlöng, das Mädchen spielt, es klingt einigermaßen falsch, aber Axel Bosse lächelt und sagt: »Alles richtig. Dann gehen wir mal rüber zum A.«

Das Video, produziert vom Mitteldeutschen Rundfunk, ist äußerst nett und in seiner Nettigkeit  ein bisschen absurd. Was es aber auch ist: typisch für Bosse. Der Mann steht aktuell mit seinem Album auf Platz 1 der Charts - und nun erklärt er, rührend geduldig, die Akkorde seines Songs. Und zwar nicht ironisch und publikumswirksam bei Böhmermann, sondern für –  Stand Dienstag Mittag – weniger als 700 Klicks auf Youtube.

Seltsam. Wobei das Seltsame ja eher ist, dass Axel Bosse, genannt »Aki«, überhaupt auf Platz 1 steht. Mehrere Berliner Fußgänger-Unterführungen sind komplett tapeziert mit den Plakaten für sein Album. Dabei war Bosse bis vor kurzem ein solide etablierter Indie-Sänger. Er freue sich, sagte er kürzlich in einem Interview, wenn auf eines seiner Konzerte in Wien 600 Leute kämen. Jetzt also die Eins, der Beweis, dass das Konzept aufgeht, dass Bosse einen Ton trifft, der offenbar gerade gefragt ist. Aber welchen eigentlich?

Das Album ist sein sechstes und für den Singer-Songwriter ein relativ bunter Strauß. Die Songs sind groß orchestriert, mit Bläsern und Streichern. Der Arrangeur von Roland Kaiser hat mitgemacht, erzählt Bosse in Interviews, aber auch der »Berliner Kneipenchor«, also ein paar Laiensänger aus Kreuzberg. So viel Indie musste sein. Er habe eine Platte machen wollen, »wo du dich mal pellst und über dich erzählst«. Zum Beispiel darüber, dass er sich mit 36 gerade zum ersten Mal nicht mehr jung fühlt. Man hört das und sieht Bosse, mit seinem sympathischen, am Kinn in bisschen weich gewordenen Lausbubengesicht, und ertappt sich bei einem Seufzer: Hach! Ein Guter. Einer, der sich keine Allüren gezüchtet hat, der nicht aussieht, als würde er in einem Tattoo-Studio wohnen, der nicht jeden mit High-Five begrüßen und alles geil finden muss. Ein Star, aber einer, den man nach dem Weg fragen würde.

Klar, es kann Zufall sein, aber sagt der Erfolg von Bosse nicht viel über unser Land aus? Die Zeiten sind ernst, alle reden über Zäune und Ultimaten und Krisengipfel, in jeder Nachrichtensendung erfährt man, dass das Land politisch auseinander driftet – und die Deutschen kaufen gesammelt das Album eines Sängers, der so knuddelnett und nahbar ist wie sonst höchstens Günther Jauch? Je härter die Zeit, desto weicher der Musikgeschmack, wäre das nicht eine passende These? Axel Bosse ist sozusagen die Musikgewordene Couch an einem stürmischen Februardienstag. Und weil es an Februardienstagen grundsätzlich an Nähe und Körperwärme fehlt, passt auch der Albumtitel »Engtanz« prima.

In einem anderen Youtube-Video läuft Bosse mit Sonnenbrille und Käppi über ein Festivalgelände und fragt Fans, ob sie sich denn das Bosse-Konzert ansehen werden. Wenn Fans ihn erkennen, was gar nicht so oft passiert, wirft er sich ihnen gleich um den Hals. Der Grund für Bosses Erfolg könnte also sein, dass er in jedem Moment klarmacht: Ich bin einer von euch. Bosse ist Deutschlands derzeit offenherzigster Sänger. Den Album-Release verkündete er auf Facebook mit den Worten: »Viel Spaß beim Hören. Ich hoffe es gefällt euch. Kuss, Aki Bosse«. Ja, so geht Bodenhaftung.

Erinnert an: Günther Jauch und Coldplay
Wer kauft das?
Mädchen für die Freundin mit Liebeskummer
Was dem Album gut tun würde:
Keine Ahnung. Aber ein bisschen mehr Bosse-haftigkeit würde ganz Deutschland im Moment guttun.

Foto: dpa