Das Ende vom Lied

Ein Konzern verdient an den Rechten des Songs »Happy Birthday To You« Millionen. Eine Musikerin will nicht zahlen und zieht vor Gericht. Die Geschichte einer Frau, die jetzt vom Kampf gegen mächtige Gegner ein Lied singen kann.

Kaum möglich: Dieses Foto zu betrachten und dabei nicht automatisch diese Melodie im Ohr zu haben.

Der Beginn der Revolte lässt sich auf die Minute genau bestimmen: 28. April 2013, Punkt Mitternacht. Die Sängerin Rupa Marya tritt mit ihrer Folkband »Rupa and the April Fishes« im Musikclub »Independent« in San Francisco auf. Die Musiker nehmen an diesem Abend ein Livealbum auf, das später auf CD erscheinen soll. Als die Band seit etwas mehr als einer Stunde auf der Bühne steht, fangen ein paar Fans an zu singen, erst wenige, bald alle 650 Menschen im Publikum:

Happy birthday to you
Happy birthday to you
Happy birthday, dear Rupa
Happy birthday to you

Für die Sängerin ist das Konzert ein Heimspiel, sie ist in San Francisco aufgewachsen, im Publikum sind viele Freunde. Sie denkt: Wie schön, dass dieses Ständchen zu ihrem 38. Geburtstag nun für alle Zeit konserviert ist, als Teil des Albums Live at the Independent.

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Wenig später bekommt sie Post von ihrem Anwalt. Die Aufnahmen seien toll geworden, nur ein kleines Problem gebe es noch: Wenn die 15 Sekunden lange Version von Happy Birthday auf CD veröffentlicht werden solle, werde eine Gebühr von 455 Dollar fällig. Zu zahlen an die Firma Warner/Chappell, einen der größten Musikvermarkter der Welt, der Rechte an mehr als einer Million Songs besitzt, von Beyoncé, Madonna, Led Zeppelin. Und eben auch an Happy Birthday.

Maryas erster Gedanke: Das kann nicht wahr sein. Sie recherchiert im Internet und stellt fest: Was ihr Publikum da angestimmt hat, ist der wohl lukrativste Song der Musikgeschichte. Happy Birthday To You, Songnummer WW001266210000, laut Lizenzverzeichnis komponiert von den Schwestern Patty und Mildred Hill und seit 1935 urheberrechtlich geschützt. Rund zwei Millionen Dollar nimmt Warner/Chappell jedes Jahr mit Lizenzgebühren ein, die immer dann fällig werden, wenn das Lied kommerziell genutzt wird, etwa auf Alben, in Filmen oder dudelnden Geburtstagskarten. Kosten: Zwischen 300 und 3000 Dollar, je nach zu erwartenden Einnahmen. Hätten ihre Freunde ihr einfach so ein Ständchen gesungen, wäre es kein Problem, privates Singen ist vom Urheberrecht ausgenommen. Für alles andere gilt: Wer nicht zahlt, bekommt von Warner/Chappell eine Strafe von bis zu 150 000 Dollar angedroht, plus Anwaltskosten, die in den USA schnell in die Millionen gehen können.

Die Band von Rupa Marya sind keine völlig Unbekannten, sie touren durch die Welt, auch in Deutschland haben sie 2015 mehrere Konzerte gespielt. Aber viel verdienen sie mit ihrer Mischung aus Folk, Rock und Chanson nicht. Und dann eine halbe Monatsmiete für Happy Birthday zahlen? Marya spürt eine Wut in sich aufsteigen, die weit über 455 Dollar hinausgeht. »Das Lied wurde für mich zu einer Metapher für alles, was in Amerika schiefläuft«, sagt sie heute. Ein Land in den Händen von Großkonzernen, die Profit aus Dingen schlagen, die ihrer Meinung nach ein Grundrecht sind: medizinische Versorgung, Bildung, Trinkwasser. Und eben Happy Birthday. Sie ist wütend auf Warner/Chappell, weil sie das Gefühl hat, die Firma nehme Menschen etwas weg, was allen gehört. Was das bedeutet, kann man in Filmen sehen, in denen aus Kostengründen bei Geburtstagsszenen irgendwelche anderen Lieder gesungen werden. US-Restaurantketten wie »Red Lobster« haben eigene Songs komponieren lassen, die gespielt werden, wenn ein Gast Geburtstag hat. Auch in Deutschland werden Gebühren fällig, wenn Happy Birthday zum Beispiel in einem Fernsehfilm vorkommt. Dreißig Sekunden des Songs kosten laut Gema bis zu 185,90 Euro.

Rupa Marya ist nicht nur Musikerin, sie hat auch einen Doktortitel in Medizin und gelernt, sich durch komplizierte Gutachten zu kämpfen. Sie entdeckt einen Aufsatz des Juraprofessors Robert Brauneis aus Washington, der auf 68 Seiten alles zusammengetragen hat, was sich zum Urheberrecht von Happy Birthday finden lässt.

Heute kann man es sich kaum vorstellen, aber: Irgendwann hat sich ja wirklich jemand hingesetzt und das Stück komponiert. Die Geschichte des Liedes lässt sich bis zum Ende des 19. Jahrhunderts zurückverfolgen, geschrieben haben es zwei Schwestern aus Kentucky: Mildred Hill und Patty Hill. Mildred, das älteste Kind eines Pfarrers, hatte Musik studiert und arbeitete als Komponistin, Patty war neun Jahre jünger und die Leiterin eines Kindergartens. Die beiden hatten ein Problem: Fast alle Lieder, die damals mit Kindern gesungen wurden, waren zu kompliziert für die Kleinen. Kinder wurden oft behandelt wie klein geratene Erwachsene, das Genre Kinderlied war relativ neu. Mildred Hill kannte auch deutsche Lieder wie Häschen in der Grube oder Fuchs, du hast die Gans gestohlen, aber sie fand die Melodien »unmöglich zum Nachsingen mit kleinen Kindern«, wie sie im Vorwort eines von ihr herausgegebenen Liederbuches schrieb.

Also nahmen sich die Schwestern vor: Wir komponieren Songs, die so einfach sind, dass auch Dreijährige sie sofort mitsingen können. Mildred schrieb die Noten, Patty die Texte, dann wurden die Lieder in Pattys Kindergarten getestet. Wenn die Kleinen nach ein paar Wiederholungen das Lied nicht selbstständig mitsingen konnten, war die Idee verworfen. Ergebnis dieser wohl ersten systematischen Suche nach der perfekten Kindermelodie war das Lied Good Morning To All:

Good morning to you
Good morning to you
Good morning, dear children
Good morning to all

Genau dieses Lied sollte mit dem Text »Happy birthday to you«, der später entstand, zum meistgesungenen Lied in englischer Sprache werden. Der Grund ist einleuchtend: Good Morning To All war als Begrüßungslied in Kindergärten von Anfang an dazu gedacht, ohne Instrumente gesungen zu werden. Darum musste es einfach und eingängig sein. So eine Melodie zu schreiben, wirkt simpel und ist auch deswegen große Kunst.

Die Hill-Schwestern merkten schnell, wie sich die Melodie verbreitete, Eltern, Kinder, andere Erzieher, jeder summte das Stück vor sich hin. Also wollten sie sich das Lied schützen lassen. Im Jahr 1894 veröffentlichten Mildred und Patty Hill das Liederbuch Song Stories for the Kindergarten, darin enthalten: Ihre Hitmelodie aus dem Morgenkreis. Die Schwestern überließen die Rechte dem Verlag des Liederbuches, im Gegenzug beteiligte der sie an den Lizenzeinnahmen.

Doch vermutlich haben sie dabei einen der größten Fehler gemacht, den es in der jüngeren Musikgeschichte gegeben hat: Mildred und Patty Hill haben sich nur die Melodie mit dem Text »Good morning to all« schützen lassen, nicht jedoch mit »Happy birthday to you« – obwohl offenbar schon damals verschiedene Texte zur Melodie gesungen wurden. Etwa »Happy vacation to you« vor den Ferien. Und eben »Happy birthday to you«, wenn ein Kind Geburtstag hatte.

Der Juraprofessor Robert Brauneis hat für seinen Fachaufsatz über Happy Birthday Hunderte Seiten Archivmaterial gelesen, vergilbte Liederbücher aus dem 19. Jahrhundert studiert und Anträge beim amerikanischen Copyright Office angefordert. Nirgends entdeckte er einen Hinweis darauf, dass der Text des Geburtstagsständchens von Patty Hill stammt – oder sich einfach nur eingebürgert hatte. Alles, was er fand, waren Beteuerungen ihres Verlegers, dass sowohl die Musik als auch der Text von Happy Birthday von den Hill-Schwestern stammen. Offizielle Copyright-Dokumente dazu waren nirgends aufzutreiben. Vielleicht stammte der Text ja auch von einem Kind? Einem anderen Erzieher? Von dieser Frage hängt heute sehr viel Geld ab.

Warner/Chappell hat im Jahr 1988 rund 25 Millionen Dollar für die Firma bezahlt, die das Liederbuch der Hill-Schwestern veröffentlicht hatte – im Glauben, damit auch Happy Birthday vermarkten zu können. Nach US-Recht gilt das Copyright bis zu 95 Jahre nach der Registrierung eines Stücks, und der Musikverlag hatte sich erst 1935 eine Partitur des Textes von Happy Birthday zur Melodie von Good Morning To All schützen lassen. Damit hätte Warner/Chappell bis ins Jahr 2030 Geld für das Geburtstagsständchen einnehmen können, bei zwei Millionen Dollar im Jahr also eine Summe von 84 Millionen Dollar.

Der wissenschaftliche Aufsatz des Juraprofessors kommt zu dem Schluss: Warner/Chappell hat kein Recht, Geld für Happy Birthday einzutreiben, da sich nicht belegen lässt, dass die Hill-Schwestern den Text geschrieben haben. Was der Verlag sich im Jahr 1935 schützen ließ, waren laut Robert Brauneis nicht die Rechte an dem Song – sondern nur eine bestimmte Art, das Lied auf dem Klavier zu spielen. Und diese Rechte sind so gut wie wertlos. Zu dem Zeitpunkt, an dem Marya Rupa 455 Dollar für Happy Birthday zahlen sollte, war Brauneis Artikel vier Jahre alt. Anders gesagt: Warner/Chappell hatte seitdem acht Millionen Dollar an Happy Birthday verdient. Vermutlich unrechtmäßig. Aber wer liest schon wissenschaftliche Aufsätze? Brenzlig würde es für den Musikkonzern erst, wenn jemand die Firma verklagt. Und das hatte sich bis dahin niemand getraut.

So ein Ärger wegen ein paar Hundert Dollar? Rupa Marya überlegt wochenlang. »Ich bin eigentlich konfliktscheu«, sagt sie heute, »aber ich hatte das Gefühl: Ich muss etwas tun, wenn Großkonzerne über die Stränge schlagen.« Sie ruft ihren Anwalt Daniel Schacht an, einen Kenner von Musikrechten, der auch Stars wie Carlos Santana vertritt. Er prüft den Fall, wägt ab, es geht um viel Geld und eine Firma, die ihren wertvollsten Song sicher nicht kampflos aufgeben wird. Seine Idee: eine gemeinsame Klage von Musikern und Filmemachern, die in den vergangenen Jahren Lizenzgebühren für Happy Birthday gezahlt haben. Er spricht mit einem Kollegen in New York. Und tatsächlich: Auch er hat eine Mandantin, die Filmemacherin Jennifer Nelson, die 1500 Dollar zahlte, um das Stück in einem Dokumentarfilm verwenden zu dürfen. Im Sommer 2013 reichen die Anwälte gemeinsam Klage gegen Warner/Chappell beim Bezirksgericht in Los Angeles ein.

»Ich war total aufgeregt«, sagt Marya. Sie hatte noch nie juristischen Ärger mit irgendwem, Gerichtsprozesse kennt sie nur aus dem Fernsehen. »Mir war klar: Wenn wir hier gewinnen, wird es eine kleine Revolution, ein Zeichen, dass man sich als kleine Musikerin gegen einen Riesenkonzern durchsetzen kann.« Weil sie mit dem Anwalt befreundet ist (und er im Falle eines Sieges viel Geld bekäme), verlangt er von ihr kein Honorar.

Der Prozess zieht sich über zwei Jahre, doch während der Musikgigant keine neuen Beweise präsentieren kann, findet Maryas Verteidiger im Sommer 2015 im Archiv der Universität Pittsburgh einen Schatz: ein Liederbuch aus dem Jahr 1922, in dem als Lied Nummer 16 die Noten von Happy Birthday abgedruckt sind – samt richtigem Text und Genehmigung des Verlages, der die Rechte an der Melodie hält. Allerdings ohne Verweis auf ein gültiges Copyright auf den Text. Marya, die sich immer besser mit Lizenzen und Verwertungsrechten auskennt, sagt: »Ein Beweis, so überzeugend wie eine Tatwaffe.« Denn das Fundstück zeigt: Das Lied war bereits damals eine Art Allgemeingut, weil niemand die Rechte daran beanspruchte – Geld für das Lied zu verlangen, wäre also nun schon seit Jahrzehnten illegal. Ende September 2015 entscheidet das Gericht: Warner/Chappell hat keinerlei Rechte an Happy Birthday. Marya ist am Flughafen und auf dem Rückweg von einer Tournee, als ihr Anwalt sie anruft: Wir haben gewonnen. Die Sängerin schreit vor Freude.

Dann geht alles schnell. Maryas Anwälte drohen mit einer Sammelklage, in der jeder, der in den vergangenen Jahren für Happy Birthday gezahlt hat, sein Geld zurückfordert. Das wäre bei Tausenden Klägern aufwendig, aber aussichtsreich. Bei Warner/Chappell fängt man an zu rechnen: Seit 1988 hat die Firma mehr als fünfzig Millionen Dollar mit dem Song eingenommen. Das alles zurückzahlen? Es wären mehr als zwei Drittel der Einnahmen des vergangenen Geschäftsjahrs.

Die Firma einigt sich mit Maryas Anwälten auf eine Zahlung von 14 Millionen Dollar, um den Fall beizulegen. Eine in den USA übliche Praxis: Fehlverhalten eingestehen und das Zahlen einer gigantischen Strafzahlung abwenden, indem man eine immer noch große Summe an die Opfer verteilt. Das Geld soll an Leute wie Marya gehen, die für die Nutzung von Happy Birthday gezahlt haben. Und das Lied wäre dann gemeinfrei – jeder kann damit machen, was er will. Auch in Deutschland, wo das Urheberrecht aber ohnehin Ende 2016 auslaufen würde, siebzig Jahre nach dem Tod von Patty Hill, die auch in der deutschen Datenbank für Musikurheber als Textdichterin geführt wird.

Ende Februar gab es in Los Angeles die letzte Anhörung zu der Einigung. Eine Stunde lang wurde diskutiert, dann stimmte der Richter dem Vorschlag vorläufig zu. Noch bis zum Frühsommer können sich Leute melden, die für Happy Birthday gezahlt haben und nun ihr Geld zurückfordern möchten. Im Sommer soll der Fall endgültig beigelegt werden. Doch da sich alle Parteien einig sind, ist davon auszugehen, dass Happy Birthday noch in diesem Jahr zum Allgemeingut wird. Der Anwalt Schacht ist bester Laune, als er aus dem Gericht kommt. Er hat viele Musikrechte erstritten, doch dieser Fall ist etwas Besonderes: Das Lied, um das es ging, wurde in mehr als zwei Jahren im Prozess kein einziges Mal vor Gericht gespielt. Kennt ja eh jeder.

Warner/Chappell will nichts zu dem Fall sagen. Wenn man beim deutschen Ableger anruft, bekommt man nur ein verschrecktes »Oh Gott!« zu hören und wird abgewimmelt. Mails bleiben unbeantwortet. Die US-Anwälte schreiben: »Wir sind froh, die Sache beilegen zu können.« Dazu noch der Hinweis, dass dies alles sei, was man zu dem Fall jemals sagen werde.

Rupa Marya und die anderen Kläger, die in den USA verstreut leben, wollen sich treffen, wenn der Prozess vorüber ist. Spätestens sobald einer von ihnen Geburtstag hat. Welches Lied sie dann singen, wissen sie schon.

Foto: Laurie Simmons