Schritttempo im Ferrari

Was ist denn in den Charts los? Gleich mehrere DJs haben Erfolg mit Dance-Songs, die seltsam langsam und gedrosselt daherkommen. Unser Musikexperte  vermutet: Dahinter steckt ein kluges, neues Erfolgsrezept.

Ist es der Frühling, der jetzt manchmal sanft um die Ecke schaut? Oder sind es noch die letzten Spuren des Winterschlafs? Wollen die Menschen gerade noch ein bisschen ihre Ruhe, bloß keine Hektik? In den Charts finden sich nämlich gleich mehrere Songs, die zwar klingen, als seien sie 1-2-3-4-Großraumdisco-Material, dann aber viel zu langsam, viel zu entspannt daherkommen, als dass man dazu die innere Party-Sirene anwerfen könnte.

»Faded« von Alan Walker, Platz 1 und schon seit Wochen der Dauerbrenner, dazu Mike Posners »I Took A Pill In Ibiza« auf Platz 5. Auch »Fast Car« von Jonas Blue auf Platz 6 ist so ein Fall. (Ein bisschen passt sogar »Work From Home« dazu, von Fifth Harmony, Platz 8.) In allen Fällen sagt der Sound: Abgehen, jetzt! Aber das Tempo sagt: Hinlegen, jetzt!

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Die Bassdrum bumpert also techno-artig drauf los, im Hintergrund schmieren Synthie-Akkorde rum, alle Songs sind exakt aus den Versatzstücken gebaut, die seit zehn, fünfzehn Jahren die Dancefloors zwischen Ballermann und Münchner Kunstpark beherrschen. Aber das Tempo ist so weit gedrosselt, dass man dazu nicht tanzen, sondern höchstens auf dem Sofa leicht wippen kann. Falls man nicht sowieso gerade eher wegdöst. Es geht hier nicht um Balladen, nicht um langsame Songs, wie es sie im Pop so oder so schon immer gegeben hat.

Der Witz ist, dass diese Songs klingen, als müssten sie eigentlich schneller laufen. Weil sie aus lauter Elementen bestehen, die eigentlich eine klare Sprache sprechen: move your ass. Aber da movt nichts. Fast hat man den Eindruck, die Produzenten hätten wie immer einen schnellen Song für die Party programmiert, und kurz vor dem endgültigen Mix ist versehentlich jemand an der Computer-Tastatur hängen geblieben und hat die geplanten 130 Beats per Minute auf 80 runtergedreht. Und dann hats keiner mehr gemerkt, bis das Lied schon weltweit verkauft, gestreamt und per Download weitergegeben war.

Es ist, als würde man einem Formel-1-Ferrari dabei zusehen, wie er stundenlang im Schritt-Tempo ums Haus kurvt. Warum das jetzt so gut ankommt (Walker ist mit »Faded« schon seit wievielen Wochen auf Platz 1? Fünf Wochen? Zehn? Hundert?), ist schwer zu sagen. Vielleicht ist es ja so: Die Menschen wollen gern Vertrautes hören, das wollen sie ja immer, aber sie wollen eben auch mal ein bisschen durchatmen.

Wer je versucht hat, sich bei einer geruhsamen Fahrt übers Land irgendsoeine Ibiza-Dance-Hits-Compilation anzuhören, weiß: Das geht nicht lang gut. Spätestens nach dem vierten Lied ist man drauf und dran, gegen den nächsten Baum zu fahren. Aber wer nur Balladen am Steuer hört, hat bald mit Sekundenschlaf zu kämpfen. Zwickmühle. Und wer morgens beim Zähneputzen irgendein Privatradio laufen lässt, will sowieso nicht gleich von der Bassdrum in den Tag gepeitscht werden.

Vielleicht ist die Antwort ja die: Ein Song, der so klingt wie ein Samstagabend in der Disco, aber einen erst mal noch ein bisschen in Ruhe lässt, ist für viele Menschen wie ein Versprechen. Ein Teaser. Eine vorsichtige Ahnung dessen, was später, abends, nachts noch so kommen könnte. Du kennst diesen Sound, sagt der Song, du weißt, wo du sonst immer diese Synthie-Bässe und diese Schlachtruf-Refrains hörst.

Aber jetzt putz dir erst mal die Zähne zuende, geh arbeiten, sei brav – und später drehen wir dann das Tempo hoch. Bis dann, machs gut.

Erinnert an Zeitlupenfilme.
Wer kauft das? Menschen, die auch Decaf-Espresso und E-Bikes mögen
Was den Liedern gut tun würde Ehrlich gesagt: Wenn schon langsamer, dann doch gern auch gleich die ganzen Dance-Sounds weglassen, oder?