Finale dahoam

Der Mann will zum Public Viewing, die Frau muss wegen der Kinder daheim bleiben. Darf sie von ihm verlangen, die EM gemeinsam im Wohnzimmer zu schauen?

»Mein Partner ist Fußballer und sieht sich gerne Spiele mit seinen Freunden in der Kneipe an. Ich bin nicht so interessiert, aber EM und WM schaue ich sehr gerne in Gesellschaft. Weil wir kleine Kinder haben, die auswärts nicht schlafen, kann ich nicht woanders schauen. Kann ich verlangen, dass er jetzt bei der EM bei Deutschland-Spielen bei mir zu Hause bleibt?« Eva H., München

Bei moralischen Fragen ist es immer gut, sich in den anderen hineinzuversetzen. Und wenn Sie das tun, erkennen Sie, dass Ihrem Partner viel daran liegt, als aktiver Fußballer die EM-Spiele zusammen mit seinen Freunden und Mitfußballern zu sehen. Nach der so gewonnenen Perspektive sollten Sie ihn also die Spiele in der Kneipe ansehen lassen.

Interessant wird es allerdings, wenn man die Sache auch von seiner Seite her angeht. Er sollte sich in Ihre Position versetzen und dann umgekehrt erkennen, dass Sie, während alle Welt zusammen jubelt – oder weint –, nicht allein zu Hause sitzen wollen. Er sollte also bei Ihnen bleiben.

Was nun? Zunächst muss man feststellen, dass der Wechsel der Perspektive, der Grundgedanke der goldenen Regel, bei widerstreitenden berechtigten Interessen nicht weiterhilft. Man muss versuchen, eine objektive Position und objektive Argumente zu finden. Und da würde ich in diesem Fall den Grundsatz sehen, dass Kinder ein gemeinsames Projekt eines Paares sind und das Paar deshalb versuchen sollte, dieses Projekt auch gemeinsam zu stemmen. Insofern erscheint es mir gerecht, wenn Sie, solange die Kinder so klein sind, dass Sie nicht auswärts EM schauen können, das gemeinsam zu Hause tun.

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So gesehen ist alles klar. Fast. Sie haben nämlich außer den Kindern noch ein weiteres gemeinsames Projekt: Ihre Partnerschaft. Und innerhalb einer Partnerschaft kann man aus Liebe auf Dinge verzichten, auf die man ein Recht hat. Wenn Sie erkennen, dass Ihrem Partner wirklich viel am Schauen mit den Freunden liegt, wäre es schön von Ihnen, ihm das zu gönnen. Das gilt umgekehrt für ihn natürlich genauso Ihnen gegenüber, aber Sie haben mich gefragt und nicht er, deshalb kann ich auch nur Ihnen etwas raten. Taten aus Liebe sollte man besser vollbringen als verlangen oder erwarten. Auch zugunsten der Beziehung.

Literatur:

Zur goldenen Regel:

Alfred Bellebaum, Heribert Niederschlag (Hrsg.), Was Du nicht willst, dass man Dir tu' ... Die Goldene Regel - ein Weg zum Glück?, UVK Universitätsverlag Konstanz 1999

Otfried Höffe, Goldene Regel, in: Otfried Höffe (Hrsg.), Lexikon der Ethik, Verlag C.H.Beck, München 7. Auflage 2008

Eine tiefer gehende Analyse der Goldenen Regel findet sich in dem Kapitel »Was Du nicht willst... Die Goldene Regel und ihre Schwächen« in: Rainer Erlinger, Nachdenken über Moral. Gewissensfragen auf den Grund gegangen, Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2012, S. 123-160

Zum Handeln aus Liebe:

Hannah Arendt, Der Liebesbegriff bei Augustin. Versuch einer philosophischen Interpretation. Dissertation Heidelberg 1928. Neu herausgegeben und mit einem Vorwort versehen von Ludger Lütkehaus, Philo Verlag Berlin, Wien, 2. Auflage 2005

Niklas Luhmann, Liebe. Eine Übung, herausgegeben von André Kieserling, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2008

Niklas Luhmann, Liebe als Passion, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main, 12. Auflage 1994

Immanuel Kant, Die Metaphysik der Sitten, AA Band VI, S. 401.

Dort heißt es wörtlich: »Liebe ist eine Sache der Empfindung, nicht des Wollens, und ich kann nicht lieben, weil ich will, noch weniger aber weil ich soll (zur Liebe genöthigt werden); mithin ist eine Pflicht zu lieben ein Unding. Wohlwollen ( amor benevolentiae ) aber kann als ein Thun einem Pflichtgesetz unterworfen sein. Man nennt aber oftmals ein uneigennütziges Wohlwollen gegen Menschen auch (obzwar sehr uneigentlich) Liebe; ja, wo es nicht um des andern Glückseligkeit, sondern die gänzliche und freie Ergebung aller seiner Zwecke in die Zwecke eines anderen (selbst eines übermenschlichen) Wesens zu thun ist, spricht man von Liebe, die zugleich für uns Pflicht sei. Aber alle Pflicht ist Nöthigung, ein Zwang, wenn er auch ein Selbstzwang nach einem Gesetz sein sollte. Was man aber aus Zwang thut, das geschieht nicht aus Liebe.»

Die Metaphysik der Sitten ist in verschiedenen Ausgaben erhältlich, zum Beispiel in der Reihe der Universal-Bibliothek Nr. 4508 im Reclam Verlag Stuttgart 1990, dort S. 279.

Online abrufbar hier.

Harry G. Frankfurt, Autonomy, Necessity, and Love, in: Harry G. Frankfurt, Necessity, Volition, and Love, Cambridge University Press, 1998, S. 129-141.

Auf deutsch: »Autonomie, Nötigung und Liebe«, in: Harry G. Frankfurt, Freiheit und Selbstbestimmung. Ausgewählte Texte, herausgegeben von Monika Betzler und Barbara Guckes, Akademie Verlag, Berlin 2001, S. 166-183.

Außerdem lesenswert zum Thema:

Axel Honneth, »Liebe und Moral. Zum moralischen Gehalt affektiver Bindungen«, in: Axel Honneth, Das Andere der Gerechtigkeit, Aufsätze zur praktischen Philosophie, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main, 2000

Illustration: Serge Bloch