»Ein ähnliches Geräusch wie Bomben«

Der Klangkünstler Samson Young hat die Welt bereist, um die Töne von Glocken zu studieren. Dabei stellte er auch fest, dass Glocken dem Frieden genauso dienen wie dem Krieg.


SZ-Magazin: Was interessiert Sie so an Glocken?

Samson Young: Ich bin nicht nur Künstler, sondern auch Komponist, und befasse mich schon lange mit Tönen, die nachschwingen. Während meiner letzten Arbeit habe ich mich mit Detonationen beschäftigt. Da ist mir aufgefallen, dass die Glocke ein ähnliches Geräusch produziert wie eine Bombe: eines mit einem langen Schwanz, von dem man nur einen Bruchteil hören kann.

Das heißt, dass wir von dem gewaltigen Klang und Knall nur wenig mitbekommen?
Das Geräusch ist eigentlich zu viel für unser Ohr. Das ist, wie wenn ein Pianist den letzten Akkord eines Stückes hält. Da guckt das Publikum gespannt auf seine Hände und versucht zu hören, wie lange der Klang dauert. Niemand weiß ganz genau, wann die Vibration endet, aber solange der Pianist in dieser Geste verharrt, vermutet man, dass es noch etwas zu hören gibt. Ein wunderschöner Moment, der zeigt, dass Hören etwas Körperliches und gleichermaßen Psychologisches ist. Es gibt aber noch eine weitere spannende Verbindung zwischen Glockenschlag und Explosion: Im Krieg wurden Glocken eingeschmolzen – sie wurden zu Waffen. Und vor der Industrialisierung gab es nur zwei Dinge, die lauter waren als Naturphänomene – Kanonen und Glocken.

Und mit der Glocke bekam der Alltag Struktur.
Ja, aber das Geläut vom Kirchturm machte auch auf Hochzeiten und Beerdigungen aufmerksam und rief in den Kampf. Noch heute gedenkt, mahnt und warnt sie uns.

Meistgelesen diese Woche:

Haben Sie eine solche Warnglocke gefunden?
In Mombasa gab es eine Glocke, die geschlagen wurde, wenn sich Sklavenhändler der Stadt näherten. Ich wollte herausfinden, wo sie heute ist, aber das kenianische Nationalmuseum zeigte sich bei meinen Recherchen sehr reserviert. Sie sagten mir, sie sei vermutlich gestohlen worden, in dem alten Turm hänge jetzt eine Nachbildung aus Fiberglas. Damit konnte ich nichts anfangen, aber ich fuhr hin. Vor Ort bemerkte ich eine Kirche auf der anderen Straßenseite, erbaut von ehemaligen Sklaven. Darin: die alte Glocke. Es stellte sich heraus, dass es 2007 einen großen Streit gegeben hatte zwischen dem Museum und den Nachkommen ehemaliger Sklaven, die diesen Gegenstand als ihr Kulturgut betrachteten und nicht in der Museumsvitrine ausgestellt sehen wollten. Deswegen holten sie die Glocke einfach in ihre Kirche.

Glocken waren lange auch mit Aberglauben verknüpft.
Ja, während des Mittelalters dachten die Menschen, dass man damit die Luft von Seuchen reinigen kann. Außerdem war man der Meinung, dass sie Unwetter abhalten. Ich machte mich auf die Suche nach diesen Donnerglocken und landete in Frankreich. Während eines Gewitters auf den Glockenturm zu steigen, war sehr gefährlich, deswegen wurde dieses Ritual dort im 18. Jahrhundert verboten. Trotzdem fand ich Glocken, die noch hundert Jahre nach dem Inkrafttreten des Verbotes bei Unwetter benutzt wurden. In einem Dorf im Süden des Landes gab es um 1830 sogar ein blutiges Gefecht: Die eine Hälfte der Bewohner glaubte an den Spuk, die andere Hälfte war anderer Meinung, und die Streithähne trafen sich in der Kirche, um sich zu prügeln.

Wer hat gewonnen?
Das weiß ich leider nicht. Eine Glocke brachte aber natürlich nicht nur Ärger, sondern auch Stolz in ein Dorf. Vor der Industrialisierung mussten die Menschen Geld zahlen, um mit dem Klang auf Familienfeiern aufmerksam zu machen. Erst um 1850 wurde das Glockengießen in vielen französischen Dörfern zu einer Gemeinschaftsaktion. Es gab immer einen Mäzen, der den Großteil bezahlte. Aber jeder durfte Kleinigkeiten aus Metall beisteuern, etwas aus dem Haushalt oder Familienschmuck. Der fertige Guss gehörte damit allen Bewohnern und läutete für die Reichen und die Armen.

Woher stammen die ersten Glocken?
Die Chinesen behaupten immer, dass sie die Glocke erfunden haben. Aber ich glaube, dass man das nicht genau sagen kann. Im Grunde gibt es sie, seitdem die Menschen Bronze entdeckt und mit einem Stück Holz dagegengeschlagen haben. Vermutlich wurde die Glocke von verschiedenen Kulturen gleichzeitig erfunden. Heute hat die Herstellung in vielen Gießereien in Deutschland und Österreich etwas Heiliges: Zu Gesängen und Gebeten wird freitags um 15 Uhr gegossen, der Todesstunde Jesu.

Kann man am Klang einer Glocke erkennen, wie alt sie ist?
Nicht so recht. Man kann nur hören, ob eine Glocke einen Sprung hat oder billig hergestellt wurde. Aber man hört sehr genau, wie sie geläutet wird: elektronisch, mit der Hand oder mit einem Schlägel. Ansonsten hat sie viele komplexe Obertöne, ein Klanggemisch, bei dem nur Profis die Unterschiede wahrnehmen, für alle anderen ist es zu viel.

Glockentürme wie der Big Ben sind für ihre Melodien bekannt. Wie unterscheiden sich diese Lieder weltweit?
Das ist eher eine moderne Begleiterscheinung, die meisten Melodien sind sich sehr ähnlich. Im Mittelalter wurden die Glocken dagegen nur einzeln benutzt. Später kaufte man häufig recht beliebig noch eine weitere Glocke für Kirchen dazu, wenn gerade Geld da war. Das passt klanglich nicht unbedingt zusammen. Ansonsten ist jeder Glockenschlag ein Unikat. In England habe ich bei einer Glockenzeremonie gelernt, wie man wechselläutet: Jeder Teilnehmer hat eine Glocke am Seil, und damit es gut klingt, kommt einer nach dem anderen dran. Der Rhythmus bleibt gleich. Es fühlte sich so an, als würden wir miteinander kommunizieren.

Sie waren auf fünf Kontinenten unterwegs. Nach welchen Kriterien haben Sie die Glocken für Ihre Reise gewählt?
Sie mussten etwas mit Konflikt zu tun haben, wie zum Beispiel die Mingun-Glocke in Myanmar: Der König ordnete 1808 den Guss dieses riesigen Kelchs an, Tausende Sklaven und Kriegsgefangene waren mit ihrer Herstellung beschäftigt. Zum anderen habe ich die Orte strategisch gewählt, meine Reisen wurden im Rahmen einer Kunstförderung übernommen. Ohne Hilfe hätte ich nicht von Kontinent zu Kontinent reisen können.

Welche Glocken haben Sie besonders beeindruckt?
Meistens waren es nicht die Glocken selbst, sondern die Geschichten drumherum. Zum Beispiel wurden in Deutschland während des Zweiten Weltkriegs rund 80 000 Glocken zu Waffen. Zunächst kamen sie auf den Glockenfriedhof bei Hamburg, um dort kategorisiert zu werden. Die Glocken, die nicht eingeschmolzen wurden, kamen in vielen Fällen nach dem Krieg wieder an ihren Ursprungsort. Aber nicht unbedingt in die ehemaligen Ostgebiete. Man ist wohl der Auffassung, dass die Glocken seit ihrer Beschlagnahmung deutsches Eigentum sind. 2004 machte ein Priester aus einem polnischen Dorf Urlaub in Deutschland. Dort erzählte ihm zufällig jemand, dass es in einer Kirche in der Nähe eine Glocke im Keller gebe, die wohl aus Polen sei. Der Priester wurde neugierig, weil in seiner Gemeinde immer noch eine fehlte. Und siehe da: Anhand der Inschrift konnte er feststellen, dass sie wirklich aus seiner Kirche stammte. Er bekam sie zurück.

Sie haben auch Länder besucht, die man nicht unbedingt mit Glocken in Verbindung bringt, etwa Marokko. Haben Sie dort überhaupt welche gefunden?
In muslimischen Ländern werden Glocken vor allem als Musikinstrument genutzt, in Moscheen gibt es keine. Aber in der Qarawiyin-Moschee in Fes habe ich »stumme Lampen« gefunden, Glocken, die während der arabischen Herrschaft aus den Kirchen Spaniens geraubt und als Zeichen des Sieges über die Christen zu Lampen umgewandelt wurden. Ein ziemlich gewalttätiger Akt: Man klaut nicht nur ein religiöses Artefakt, sondern macht es darüber hinaus zu einem rein dekorativen Gegenstand.

Aus Krieg wurde Kunst?
Genau, beide stehen sich philosophisch gesehen nahe, weil sie die totale Hingabe zu einer Idee fordern und voraussetzen, dass man sich zumindest teilweise von der Vernunft lösen muss. Das endet dann in Fundamentalismus und Gewalt, kann aber auch Wunderschönes erschaffen.

In Köln haben Sie versucht, eine Verbindung zwischen Christentum und Islam herzustellen.
Ich habe von dem Streit um den Bau einer Moschee in der Stadt gelesen und stellte mir die Frage: Wenn sich der Christ gestört fühlt von einer Moschee, wie fühlt es sich dann als Muslim an, im eigenen Gotteshaus permanent den Klang einer anderen Religion zu hören? Deswegen habe ich den Streit quasi umgedreht und das Geläut der Kölner Domglocken von der Moschee aus aufgenommen.

Haben Sie den Klang jeder Glocke aufgezeichnet, zu der Sie gereist sind?
Ja. Dort, wo es nicht möglich war, habe ich die umliegenden Geräusche aufgenommen. In Fes also das Freitagsgebet in der Moschee. Dazu habe ich Bilder gemalt. Das muss man sich wie eine Fotografie vorstellen, die ich mit dem Ohr mache. Dafür setze ich mich ein, zwei Stunden dorthin, wo man den Glockenschlag gut hören kann. Oft ist das nicht im Glockenturm selbst, sondern irgendwo vor der Tür. Deswegen vermischt sich der Klang mit vielen anderen Geräuschen vor Ort. Auf dem Bild, das ich vor dem Wiener Stephansdom gemacht habe, ist auch das Kehren eines Straßenfegers zu sehen und das Schleifen eines Rollkoffers, den jemand an mir vorbeigezogen hat.

Auf den Bildern benutzen Sie unterschiedliche Farben. Hat jedes Geräusch eine eigene?
Ich weiß, das klingt komisch, aber ich höre in Farbe. Für manche Menschen ist das wirklich ein Leiden, mit dem sie leben müssen. Für mich ist es ganz normal. Der Glockenschlag im Kölner Dom war grün-blau und der in der Peter-und-Paul-Kathedrale in St. Peters-urg pink-beige. Die Farben in meinen Bildern geben also das wider, was ich höre.

Was machen Sie mit den Aufnahmen all dieser Glocken?
Ich nehme sie mit Hilfe eines Klanganalyseprogramms auseinander und schaue mir an, was alles drinsteckt. Jedes Mal nimmt man etwas anderes wahr, der Klang ist sehr vielschichtig. Der Computer hilft mir, das ganze Spektrum zu sehen. Das Hören bleibt ja immer ein Hauch, eine Sehnsucht. Mit Hilfe der Technik werden wir langsam verstehen, was Klang eigentlich ist und mit uns macht. Ich will die Töne archivieren und ein Stück schreiben, in dem ein Orchester den Hall dieser Glocken spielt.

Welche Glocke hat Ihnen besonders gut gefallen?
Die Pummerin im Wiener Stephansdom hat einen fantastischen Klang. Da möchte ich wirklich noch einmal hin.

Welche möchten Sie noch unbedingt sehen?
Bislang habe ich den Großteil Asiens ausgelassen, ich will auf jeden Fall noch nach China, Korea und Japan. Von da kommen die Friedensglocken. Es gibt eine Mutter-Glocke, von ihr stammen die Abdrücke für alle weiteren Friedensglocken ab. Sie bringen zusammen, was mich anfangs an diesem Thema interessierte: Sie werden aus geschmolzenen Waffen hergestellt.

Und wenn das Thema abgeschlossen ist: Womit beschäftigen Sie sich als Nächstes?
Mit Leuchttürmen. Auch sie gibt es an vielen verschiedenen Orten. Und jeder hat eine Geschichte, von der ich erfahren möchte.

Fotos: Fritz Beck