Die Heimkehr

Ein Junge wächst in der Personalwohnung eines Krankenhauses auf. Viele Jahre später wird das Hospital geschlossen, heute steht es leer, der Junge ist erwachsen – und Chef des SZ-Magazins. Ein Besuch bei den Geistern der eigenen Vergangenheit.

Ich erinnere mich, wie ich an der Hand meiner Mutter stehe, während sie ratlos auf den Geldautomaten blickt, der eben ihre EC-Karte eingezogen hat. Wie sie in sich hineinflüstert: »Scheiße, Mist, verdammter, Scheiße, Scheiße.«

Ich erinnere mich an ein Weihnachtsfest, an dem wir uns zu viert eine Ananas teilen und jeder eine Tafel Milka-Schokolade bekommt. An den Blick meiner Eltern auf meine Schwester und mich, irgendwo zwischen Liebe, Sorge, Mitleid, Bedauern und Trotz.

Ich erinnere mich an den Mann im Anzug vor unserer Wohnungstür, einen Aktenkoffer in der Hand. Wie bedrohlich das Wort »Gerichtsvollzieher« klang.

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Ich erinnere mich an den stumpfen Gesichtsausdruck der Vermieterin, als sie mit Geleitschutz ihres bärtigen Sohnes in unserem Wohnzimmer sitzt. An die Schattenfratzen, die Scheinwerfer vorbeifahrender Autos nachts an die Decke meines Zimmers werfen. An meine Sorge am Tag des Umzugs, dass ich vergessen haben könnte, mein Lego-Raumschiff einzupacken. Wie mein Vater in den leeren Raum zeigt: »Wo soll’s denn sein, wenn nicht in einer der Kisten?« Und er mir dennoch hilft, die Umzugskartons noch mal auszupacken, so lange, bis wir das Ding endlich finden.

Dann müssen wir alle vier ins Krankenhaus.

Im Untergeschoss des Kreiskrankenhauses Schramberg stand eine günstige Personalwohnung leer, die man meiner Mutter – Krankenschwester auf der Intensivstation – angeboten hatte. Der achtstöckige Bau ist an einen der vielen Berge rund um die schwäbische Kleinstadt gebaut, in der ich aufgewachsen bin. Es war 1985, ich war elf. Meine Schwester, sechs Jahre älter, hörte die aktuelle Single von Bruce Springsteen, Dancing In The Dark. Ich fand Live Is Life von Opus toll, endlich ein englisches Lied, bei dem der Refrain bescheuert genug war, dass ich ihn mitsingen konnte, ohne schon Englisch zu sprechen: »Live is life, na-na, na-na-na.« Ich hatte ein eigenes Zimmer, sogar mit Safari-Tapete, hinterlassen von den Vormietern. Ich war zufrieden.

Ich wohnte zehn Jahre lang in dieser Wohnung. Von Live Is Life über One Moment In Time von Whitney Houston über Enjoy The Silence von Depeche Mode über November Rain von Guns N’ Roses bis zu All Apologies von Nirvana.

Von TKKG über Null Uhr fünf in Urumtschi über Die Welle über Der Steppenwolf über Der Prozess bis zu Das Herz der Finsternis.

Von gespieltem Ekel, mit dem ich das Gesicht hinter meinen Armen versteckte, wenn »Magnum« ein Mädchen küsst, über hellwaches Interesse an Emmanuelle im RTL-Plus-Spätprogramm bis zu der fassungslosen, atemlosen Aufregung, mit C. in meinem Bett zu liegen.

Meine Familie war zuvor schon einige Male umgezogen, und ich bin danach noch einige Male umgezogen. Aber in dieser Stadt, in diesem Krankenhaus – mit dem Aufzug ins erste Untergeschoss, durch den Heizungskeller, vorbei an der Tischtennisplatte, an der sich Assistenzärzte öde Dienststunden vertrieben, durch die schwere Brandschutztür, die Treppe runter, durch die Glastür–, in dieser Wohnung, auf diesen 84 Quadratmetern, in diesem Zimmer: Hier war mein Zuhause.

Im Spätsommer 1995 bin ich ausgezogen, mit 21. Bald darauf auch meine Eltern. Aber auf seltsame, unsichtbare Art blieben das Krankenhaus und ich verbunden, ohne dass ich es noch einmal betreten hätte. »You know they always say: if you live in one place long enough, you become that place«, sagt Rocky Balboa.

Im Oktober 2011 wurde das Kreiskrankenhaus Schramberg aus wirtschaftlichen Gründen geschlossen. Wer krank ist oder ein Kind auf die Welt bringen will, muss jetzt ins dreißig Kilometer entfernte Rottweil fahren. Das Krankenhaus steht seither leer. Es ist nur zehn Jahre älter als ich, Baujahr 1964, mit 18 800 Quadratmetern Brutto-Grundrissfläche, zwei Untergeschossen und acht Obergeschossen, 86 Patientenzimmern, sechs Aufzügen, einer Kapelle. Dazu ein vielstöckiges Personalwohnheim und »Gut Berneck«, ein denkmalgeschützter Jahrhundertwende-Wuchtbau, den die Uhrenfabrikanten-Familie Junghans der Stadt 1946 überlassen hatte – zusammen noch mal 5500 Quadratmeter Fläche. Wie verwunschen liegen die drei Häuser am Berg, Dornengestrüpp wuchert über das Gelände. Die Stadt sucht seit vier Jahren einen Käufer. Es wäre günstig zu haben.

21 Jahre nach meinem Auszug hat mir der Schramberger Oberbürgermeister Thomas Herzog für ein paar Stunden die Schlüssel für den leer stehenden Krankenhaus-Trakt überlassen. Die ersten Schritte durch die Eingangshalle kommen mir vor, als hätte mich David Lynch zu mir nach Hause eingeladen. Es riecht noch nach dem Parfum dringlicher Lebenserhaltungsmaßnahmen: nach Desinfektionsmittel und Linoleum. Ein leuchtend weißer Pilz hat die dunklen Bodenfliesen überzogen. Das Licht geht noch an. Im Treppenhaus riecht es beißend sauer. Auf den Balkonen wachsen Blumen aus dem Beton. In einem der Zimmer im obersten Stockwerk haben Landstreicher ein Feuerchen gemacht. Das Wasser aus dem Hahn fließt rostrot.

Die Bilder. Die fahlgraue Haut der Sterbenden auf Station 4 West. Die farbigen Abdeckungen, die unterschiedliche Mahlzeiten in der Personalkantine kennzeichneten. Klassenkamerad H., der vor Schmerzen in sein Kissen biss, als er mit einem offenen Schienbeinbruch an mir vorbeigeschoben wurde. Das Quietschen der Plastiksohlen auf dem Plastikboden. Die klaustrophobisch kleine Telefonzelle, in der ich erst für zwanzig und später für dreißig Pfennig telefonieren konnte, wenn meine Schwester unseren Anschluss zu Hause blockierte. Die kräftigen Schreie meines neugeborenen Neffen. Die dunklen, warmen Augen und der Zeitlupengang meiner Mutter, wenn sie morgens von ihrer Nachtschicht nach Hause kam, während ich gerade meine Schulsachen packte.

Unsere Seele ist ein Palimpsest – eine im Lauf der Zeit immer wieder überschriebene Manuskriptseite voller Erinnerungen und Gefühle. Nur weil wir etwas nicht mehr lesen können, heißt das nicht, dass es nicht mehr auf der Seite steht. Was wir glauben, vergessen zu haben, ist nur verdeckt.

Die Tür zu unserer Wohnung ist krankenhausblau. Verrückt, dass man mit ein paar Schritten in einen leer stehenden Raum Jahre in die eigene Vergangenheit zurückreisen kann. Wie leicht man mit einem Griff an den glatten Stein der Fensterbank sein 13-jähriges Selbst wiederherstellt – mitsamt der Unentschlossenheit bei der Frage, wann es im Leben Zeit ist, das Spielzeug in den Keller zu räumen. Mitsamt der Verzweiflung darüber, dass man den eben eingeworfenen Liebesbrief, der einem plötzlich irre peinlich vorkommt, nicht mehr aus dem Briefkasten fischen kann. Die Bilder. Mein Vater tritt wutentbrannt gegen die verschlossene Badtür, er kommt zu spät zur Arbeit, weil seine Tochter seit Ewigkeiten vor dem Spiegel steht. Billy Idol singt L.A. Woman so laut, dass sie ihn nicht hören muss. »I see your hair is burnin’ / Hills are filled with fire / If they say I never loved you / You know they are a liar.«

Aus meinem Fenster schaue ich auf den Schlossberg am anderen Ende des schmalen Tales. Als der Blitz einschlägt, fangen die dunklen Fichten Feuer. Die ärztliche Schweigepflicht gilt in diesem Haus auch für mich: Nie spreche ich das befreundete Schulhof-Pärchen auf den Moment an, als ich die beiden spätabends zufällig im Foyer überrasche, die »Pille danach« auf dem Tisch vor sich. Wenn nachts die Ambulanz ausrückt und unten am Berg ihre Sirene einschaltet, wache ich immer auf. Ein paar Stockwerke über uns stirbt immer irgendwer. Die Nachmieter haben in unserer ehemaligen Wohnung die Decke abgehängt und mit Holz verkleidet. Ein paar Vandalen sind kürzlich erst eingestiegen, sie haben mit einem Besenstil die Sperrholztüren durchstochen und die Wände beschmiert. Der Teppichboden ist noch derselbe, und ich begegne mir in jeder Ecke. Mein Vater bindet mir eine seiner Lederkrawatten für meinen Tanzkurs-Anzug. Am Schreibtisch kniffle ich an einer Kurvendiskussion. An die Tür gelehnt, mit gebrochenem Herzen. An die Wand gelehnt, wie ich ein Herz breche. Zu mager. Zu betrunken. Zu euphorisch. Verliebt. Beengt. Hirnverbrannt. Unzurechnungsfähig. Ich höre Ferris Bueller, den großen Philosophen aller übermütigen Halbwüchsigen, der das Abenteuer des Erwachsenwerdens in einem einzigen Satz zusammenfasst: »The question isn’t: ›What are we going to do‹. The question is: ›What aren’t we going to do?‹«

Im Foyer des Krankenhauses befindet sich eine kleine Kapelle, die im Wechsel für katholische und protestantische Messen genutzt wurde. Jemand hat Jesus die Arme abgeschlagen. Ein Ministrantenkleid liegt achtlos hingeworfen hinter dem Altar. Gut möglich, dass hier am Ende doch kein Wellness-Hotel mehr entsteht, keine Uhrenfabrik, und dass auch der Plan eines Investors endgültig verworfen wird, in dem Gebäude Baden-Württembergs größten Puff unterzubringen. Gut möglich, dass irgendwer den Baugrund nutzen will und das Gebäude abreißen lässt. Der Pfarrer der Gemeinde hat allerdings darauf hingewiesen, dass zuvor diese kleine Kapelle profaniert werden müsste. Nach dem offiziellen Beschluss des Bischofs und einer letzten Messe würden das Allerheiligste, die Reliquien und Heiligenbilder in einer Prozession aus dem Raum getragen und an ihren neuen Platz überführt werden.

So mache ich das auch: Als ich das Krankenhaus wieder verlasse, nehme ich alle Erinnerungen und Bilder mit mir. Ernst Bloch schreibt: Erst wenn der Mensch sich erfasst, entstehe etwas, »das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat«. Für einen, dessen ehemaliges Zuhause gerade Moos ansetzt, ist das ein tröstender Gedanke: dass Heimat kein Ort ist, sondern ein Gefühl. Dass man nur sein Lebensgepäck schultern muss, samt all seines Glücks, all seinen Ängsten, samt des verdammten Unwohlseins vor einem Geldautomaten, das bis heute geblieben ist. Hat man das alles dabei, kann man sich auf seine Reisen machen und ist zugleich doch immer daheim.

Fotos: Tanja Kernweiss