Vorübergehend geschlossen

Die britische Vogue hat bereits eine Vermisstenanzeige aufgegeben: die Zeiten der tiefen Dekolleté-Einblicke scheinen vorüber. Stimmt das wirklich? Oder müssen wir den Begriff einfach neu definieren?

Hätte die britische Vogue in ihrer Dezemberausgabe nicht diese Vermisstenanzeige aufgegeben, wäre es womöglich gar nicht weiter aufgefallen, aber jetzt schaut man sich das weibliche Teppichpublikum aus Hollywood natürlich genauer an: Ist das Dekolleté wirklich verschwunden, wie die Vogue in einem Artikel vermutet? Kein aufgebockter Busen mehr, kein tiefer Schlitz zwischen den Brüsten, alles weg, was Sophia Loren, Gina Lollobrigida oder Brigitte Bardot einst aufgebaut haben?

Tatsächlich fällt spontan auf: Bei den Critic’s Choice Awards vergangene Woche erschienen etwa Michelle Williams oder Natalie Portman erstaunlich hochgeschlossen. Bekanntlich sind sie Schauspielerinnen mit »Brains« statt nur »Looks«. Doch selbst Eva Herzigova, die in den Neunzigern den Wonderbra, nun ja, groß machte, trug kürzlich bei den Fashion Awards in London zugeknöpften Smoking; lock-up statt push-up. Wenn zuletzt Rollkragenpullover, züchtige Pussy-Bow Blusen und Hoodies auf dem Laufsteg zu sehen waren und die Mode gerade fließende Lässigkeit feiert, macht sich das irgendwann wohl auch bei der Abendrobe bemerkbar.

Wer jetzt kurz davor ist, seinen kurzen Silvesterfummel mit diversen Cutouts wieder umzutauschen – nicht so schnell. Wo ein Ausschnitt vorübergehend geschlossen wurde, hat die Mode zur Kompensation zig Alternativen aufgemacht: nacktes Bein, viel nacktes Bein, Aussparungen an Bauch bis Rippenbogen, freier Rücken, freie Schultern, bisweilen wurde auch einfach der Oberkörper nahezu komplett freigeräumt und nur ein bisschen durchsichtiger Stoff drübergezogen. Deswegen hat auch keiner gemerkt, dass das sauber gestapelte »Holz vor der Hüttn« etwas weniger geworden ist. Nackte Haut ist immer noch genug vorhanden, nur jetzt eben an anderen Stellen.

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Nicole Kidman beispielsweise kam zu den Critic’s Choice Awards in einem Kleid des Designers Brandon Maxwell, das Beine, Schultern plus Zwerchfell entblößt. Der Gesamtanteil Stoff lag dabei kaum über dem eines Turntrikots. Kate Beckinsale erschien zwar hochgeschlossen – allerdings mit transparenter Einflugschneise bis zum Bauchnabel wie bei russischen Eiskunstläuferinnen. Man wäre mit einem Rücken-, Seiten- oder abgedeckten Dekolleté an Silvester also in bester Gesellschaft - und könnte sich beim Fondue endlich mal gescheit über den Tisch lehnen und nach dem verlorenen Stück Fleisch im Topf stochern, ohne dass den männlichen Gästen der Runde immer gleich die Gabel aus der Hand fällt.

Wirklich ein Segen dieser »No Boobs«-Trend. Zeitgemäß, emanzipiert, offen für alle Körbchengrößen. Die Vogue berichtet, die Verkäufe von Push-up-BHs seien bereits deutlich zurückgegangen, Silikonimplantate würden kleiner gewählt als sonst. Wenn schon in Politik und Wirtschaft überall aufgebauscht wird, gehen wenigstens die Frauen mit gutem Beispiel voran und bleiben bei den Tatsachen.

Allein – »die Frauen« gibt es halt nicht. Also kommen Salma Hayek und die Models Gigi Hadid und Lara Stone daher und machen die ganze schöne Theorie eindrucksvoll zunichte: Hayek trug bei den Fashion Awards ein tief dekolletiertes Gucci-Dress, Stone eine schulterfreies Kleid mit schwindelerregend instabiler Balustrade drumherum, Hadid eine Versace-Robe, die zwar unten raffiniert-züchtig Rock und Hose mischte, oben jedoch, ziemlich klassisch, die Brüste heraushob. Letzteres war einer der aufregendsten Auftritte dieses Jahres. Ganz so schnell lässt sich der Busen wohl doch nicht unterkriegen.

Film zum Thema: Und ewig lockt das Weib.
Das sagt die Verkäuferin: Bauch, Rücken, Schenkel, Lende - welcher Ausschnitt darf’s denn sein?
Typischer Instagram-Kommentar: Mein Busen gehört mir!

Foto: Gettyimages / Steve Granitz, Stuart C. Wilson