»Hüte dich vor Leuten, die sich auf Gott berufen«, sagte Gott

In seinem Stammcafé streitet unser Autor mit Gott. Es geht um die Welt – und wo sie dieses Jahr gemeinsam Weihnachten feiern. 

Ich saß im Café, morgens, bevor ich ins Büro gehen würde, und las Zeitung.

Gott kam zur Tür herein. Er ist Stammgast wie ich, wohnt gleich nebenan, aber nicht immer sitzen wir zusammen. Manchmal hockt er allein vor seinem Kaffee, schaut die Leute an, oder scheint vor sich hin zu grübeln, und ich blättere dann so für mich in den Zeitungen herum. Wir reden beide nicht gerne um diese Uhrzeit, nicht immer jedenfalls.

Heute setzte er sich aber gleich neben mich, und wir glotzten stumm auf die Schlagzeilen und die Bilder.

Meistgelesen diese Woche:

Aleppo. Putin. Trump. Erdogan. Assad. Fassbomben. Kindermord. In Ruinen sterbende Menschen. Und nun das Attentat auf den Berliner Weihnachtsmarkt.

»So düster war’s noch nie«, sagte ich.

»Na ja«, sagte Gott.

»Na ja, was heißt Na ja?!«, sagte ich laut.

»Na ja heißt, dass es jedenfalls hier in der Gegend schon mal bedeutend düsterer war und anderswo auch. Aber dafür bist du vielleicht zu jung.« (Er ist ein wenig älter als ich, ungefähr zwanzig Milliarden Jahre, aber wir kennen uns erst seit 2014. Oder war es 2015, als wir uns das erste Mal begegneten?)

»Das interessiert in Syrien niemanden«, sagte ich. »Und anderswo auch nicht.«

»So habe ich es auch nicht gemeint«, sagte er. »Habe ich dir nicht mal erzählt, warum ich das Böse geschaffen habe? Und die Nacht? Und das Hässliche? Weil man sonst nicht wissen kann, was das Gute, der Tag und das Schöne ist. Ist das so falsch?« Er nahm einen Schluck Kaffee. »Wahrscheinlich ist das falsch und war falsch, als grundlegende Idee, meine ich. Aber es ist nun mal so.« Er hadere ja, fügte er hinzu, selbst sehr mit seinem Werk, halte es in weiten Teilen für missglückt, eine Arbeit aus Zeiten, in denen er jung war, von sich selbst entzückt in seiner Macht, ein Spieler ohne Verantwortungsgefühl. Aber er könne es nicht mehr ändern, nicht mal er könne es ändern.

Das könnten nur wir, vielleicht.

»Hier!«, sagte ich laut. »Lesen Sie: Die amerikanische UN-Botschafterin hat ihrem russischen Kollegen zugerufen: ›Schämen Sie sich gar nicht? Sind Sie unfähig, so etwas zu empfinden? Geht Ihnen die Hinrichtung eines Kindes nicht unter die Haut? Gibt es nichts, über das Sie nicht lügen würden?‹ Und der Kollege Tschurkin hat geantwortet, die Nation, die sie vertrete, habe kein Recht, moralisch zu urteilen. Als würde das etwas ändern an dem, was seine Soldaten getan haben und was sein Dienstherr Putin befohlen hat. Dann hat er noch gesagt: Am Ende werde Gott darüber richten, wer die Schuld trage.«

»Heißt er wirklich Schurkin?«

»Tschurkin!«

»Hüte dich vor Leuten, die sich auf Gott berufen«, sagte Gott. »Ich weiß, wovon ich rede.«

»Warum sehen Sie da einfach zu?!« Ich schlug mit der Faust auf den Tisch. Die Leute an den Nebentischen schauten zu uns herüber, so laut war ich geworden.

»Es ist, wie es ist«, sagte Gott. »Es hat keinen Sinn, wenn du dich über mich aufregst. Das ändert nichts. Ändern könnt nur ihr etwas. Also wartet nicht auf mich. Wartet überhaupt nicht! Denkt nach, was ihr für böse haltet und was für gut. Und handelt entsprechend! Wach einfach auf!« Er nahm einen Schluck von seinem Kaffee. »Hast du nicht vorhin gesagt: ›So düster war’s noch nie.‹? Ihr habt vielleicht in den guten Jahren vergessen, wie düster die Welt sein kann. Und jederzeit wieder werden könnte, auch hier. Und dass es keinen gibt, der das verhindert, wenn ihr es nicht tut.«

»Was machen Sie eigentlich an Weihnachten?«, fragte ich.

»Keine Ahnung. Ich lebe ja allein.«

»Warum kommen Sie nicht zu uns?«, fragte ich. »Die ganze Familie ist da, warum nicht auch Sie?«

Er sagte zu, und so werden wir Weihnachten diesmal tatsächlich mit Gott verbringen.

Illustration: Dirk Schmidt