»Ich sehe Schnittmengen zwischen Trump und Hitler«

2016 erschien eine kritische Edition von Hitlers »Mein Kampf«. Das Buch schoss auf die Spiegel-Bestsellerliste und überraschte damit seinen Herausgeber Christian Hartmann. Wir haben mit Hartmann über den unerwarteten Erfolg, harte Kritik und Parallelen zur aktuellen Weltlage gesprochen.

SZ-Magazin: Vor zwei Jahren haben wir schon einmal miteinander gesprochen. Inzwischen ist die kritische Edition von Hitlers »Mein Kampf« einer der größten Sachbucherfolge der letzten Jahre geworden. Erinnern Sie sich an den Moment, an dem Sie erfahren haben, dass Sie auf der Spiegel Bestsellerliste stehen?
Christian Hartmann: Simone Paulmichl, unsere Pressesprecherin, hat das sehr genau verfolgt, und so haben wir das dann erfahren. Es war ein regelrechter Medien-Hype, den wir als Herausgeber aber gar nicht so richtig wahrgenommen haben, vielleicht auch, weil wir nicht gewohnt sind, in solchen Kategorien zu denken.

Sie haben nicht gefeiert?
Das verbietet sich bei einem solchen Buch. Ich weiß, es klingt etwas prätentiös – aber: Wir haben überhaupt nicht mit diesem Erfolg gerechnet.

Viele Leute würden einwenden: Hitler verkauft sich immer.
Unser Ziel war nie ein Bestseller. Ich habe ja schon Hitlers Reden zwischen 1925 und 1933 ediert, da war das Interesse außerhalb der Wissenschaft denkbar gering. Dass eine zweibändige Edition mit tausenden Fußnoten so erfolgreich sein würde, hat uns alle überrascht. Anfangs hat das Institut nicht mehr als 4 000 Exemplare drucken lassen. Für eine Edition ist das schon sehr, sehr viel.

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Wie schnell waren die weg?
Die waren schon ausverkauft, bevor sie ausgeliefert waren. Es gab so viele Vorbestellungen. Wir mussten sofort nachdrucken.

Gerade ist die sechste Auflage des Buches erschienen, rund 85 000 Exemplare wurden verkauft. Wer sind Ihre Leser?
Es gibt in unserer Gesellschaft immer noch viele Menschen, die an Geschichte ganz einfach interessiert sind. Der Bildungsbürger ist noch nicht ausgestorben, zum Glück. Einige Leser haben das Buch so gründlich studiert, dass sie uns kleine Listen geschickt haben mit Hinweisen auf Druckfehler oder falsche Verweise. Das war nicht viel, und wir haben von Auflage zu Auflage diese allerletzten handwerklichen Fehler verbessert. Aber das zeigt doch, wie intensiv man sich mit unserer Edition auseinandersetzt. Und auch, dass ein öffentliches Interesse an der historischen Wissenschaft durchaus möglich ist.

Bei unserem letzten Gespräch vor Veröffentlichung des Buches hatten Sie die Sorge geäußert, dass Neonazis das Buch kaufen könnten, weil eben Hitler vorne draufsteht.
Das hat sich nicht bewahrheitet. Wenn ich unterwegs war, bin ich häufig in die Buchhandlungen gegangen, um zu sehen, wie man unsere Edition dort präsentiert. Anfangs gab es da eine große Zurückhaltung. Viele Buchhändler kennen ihre Kunden und haben mir immer wieder bestätigt: Das sind völlig unverdächtige Leute, die diese Edition kaufen.

In Frankfurt an der Oder war bei einer Veranstaltung einer Ihrer Kollegen der Staatsschutz anwesend. Gab es brenzlige Situationen?
Nein, gar nicht. Das war wohl eine reine Vorsichtsmaßnahme. Überhaupt haben uns nur wenige rechtsradikale Reaktionen erreicht. Bei mir waren es maximal ein Dutzend Zuschriften. Bei Amazon sind – unter dem Schutz der Anoymität – etwa zwei Dutzend solcher Kommentare entstanden.

Was schrieben diese Leute?
Grundsätzliches, wir seien links, total voreingenommen und unsere Behauptungen seien alles Dreck.

Haben sie diese Briefe beantwortet?
Ja. Alle. Angezweifelt wurde etwa eine unserer Anmerkungen, auf die ich in Interviews immer wieder hingewiesen hatte: Unter den ermordeten Psychiatrie-Patienten der Jahre 1939 bis 1945 waren auch einige Tausend Veteranen des Ersten Weltkriegs, die dauerhaft traumatisiert waren und die deshalb in Psychiatrien leben mussten. Da hieß es immer: das kam nicht vor. Nachdem ich dann – nochmals, wie schon in der Edition – auf eine neue einschlägige Studie verwiesen und daraus dann auch zitiert hatte, war der Briefaustausch schlagartig beendet. Diesen Kritikern ist einfach nichts mehr eingefallen. Bezeichnend ist übrigens auch: Bei öffentlichen Veranstaltungen habe ich Kritik von rechts nie erlebt.

Auch Akademiker haben das Projekt teilweise scharf kritisiert. Der Germanist Jeremy Adler schrieb: »Das absolut Böse lässt sich nicht edieren.« Haben Sie mit dieser Kritik gerechnet?
Ja, schon, aber nicht mit dieser Schärfe und auch nicht mit diesen Methoden. Wenn eine erste vernichtende Kritik, wie die Adlers, erscheint, obwohl das Buch noch gar nicht da ist, dann ist das doch etwas seltsam. Diese Edition hat eben nicht nur eine wissenschaftliche Intention, sie ist auch eine öffentliche Auseinandersetzung mit einem politischen Symbol. Und schon deshalb richtet sie sich nicht nur an wenige wissenschaftliche Spezialisten. Dieses Konzept eines fundierten Wissensangebots an alle, das ja nun durch die Verkaufszahlen eindrucksvoll bestätigt wurde, können oder wollen manche ganz einfach nicht verstehen.

Im Januar, ein Jahr nach Erscheinen, hat Adler im Feuilleton der Süddeutschen Zeitung nachgelegt. Das Buch sei »dilettantisch« und »wissenschaftlich kaum von Wert«.
Andere Wissenschaftler haben ihm heftig widersprochen. Ziel dieser Edition ist vor allem Wissensvermittlung, nicht Wissensvermehrung. Hier geht es in erster Linie um die systematische Dekonstruktion von Hitlers Buch, auf dem ganz wesentlich eine der gefährlichsten Ideologien basiert, die je existiert hat. Bei fast 800 Seiten Originaltext erfordert das zwangsläufig eine adäquate, knappe Präsentation dessen, was eine Forschung von nunmehr siebzig Jahren erarbeitet hat. Dass wir bei über 3700 Fussnoten, die im übrigen unter grossem Zeitdruck entstanden sind, nicht auch noch den allerletzten Wünschen der wissenschaftlichen Experten Rechnung tragen, liegt in der Natur dieses Editionsprojekts. Dennoch erfüllt es seinen Zweck. Ich glaube, sogar gut.

Hat Sie diese Kritik verletzt?
Adlers Vorwurf des Antisemitismus – ja, das ist schon verletzend. Mir ist nicht klar, was an unserer Edition antisemitisch sein soll. Unsere Argumentation geht ja stets in die genau entgegengesetzte Richtung. Auch anderes an dieser Kritik ist mir fremd, etwa diese intellektuelle Arroganz. Warum müssen sich manche Leute immer so präsentieren, als ob sie alles wüssten? Und warum halten es manche für selbstverständlich, dass alle ihre hochspezialisierten Interessen teilen? Ich gebe zu, während der Arbeit an dieser Edition habe ich viel gelernt. Unsere Kommentierung, für die wir gewöhnlich sehr lange und intensiv recherchiert haben, wendet sich auch an jene, die nicht das Privileg haben wie wir, den ganzen Tag über Zeitgeschichte forschen zu dürfen.

Spielt bei den Kritikern auch Neid eine Rolle?
Vielleicht. Wissenschaft ist auch ein Verdrängungswettbewerb, es geht nicht nur um Erkenntnis. Es geht auch um Titel, Ämter, Institutionen, um Geld. Und es geht um Deutungshoheit. Verglichen damit waren unsere Ziele bescheidener. Wir wollten eine zentrale historische Quelle adäquat präsentieren und ein politisches Symbol demontieren, mehr nicht. Und ich habe das Gefühl: Die professionelle Geschichtswissenschaft hat durchaus mit Problemen zu kämpfen: Deren gesellschaftliche Bedeutung sinkt kontinuierlich, die Auflagenzahlen ihrer Bücher sprechen meist eine klare Sprache. Ich glaube, das Projekt »Mein Kampf« war gesellschaftlich einfach zu wichtig, um hier mit den Mitteln des klassischen Wissenschaftsbetriebs zu operieren. Mich würde einmal interessieren, wie unsere akademischen Kritiker dieses Problem gelöst hätten. Möglicherweise in Form eines dieser lieblos lektorierten Sammelbände, von denen sich am Ende ganze 112 Stück verkaufen.

Jetzt klingen Sie fast ein bisschen verbittert.
Das bin ich nicht. Mich enttäuschen nur die Argumente unserer Kritiker: Der graue Einband der Edition erinnert den einen an die Uniform der Wehrmacht. Einem anderen Kritiker ist unser Buch schlicht zu dick und zu schwer, es weckt bei ihm Assoziationen an seine Zeit als Ministrant, als er die große Bibel tragen musste. Nun ja.

Das Institut für Zeitgeschichte hat das Buch im Selbstverlag herausgebracht. Das heißt: Sie mussten auch die Einnahmen mit niemandem teilen. Wissen Sie, wie viel Geld ihre Arbeit eingebracht hat?
Ich kenne die Zahlen nicht im Detail. Entscheidend ist, dass das Institut das Buch zum Selbstkostenpreis verkauft. Das war zunächst übrigens ein großes unternehmerisches Risiko. Denn diese Edition ist recht hochwertig, weil sie ganz einfach haltbar sein soll: Teures Papier, gute Bindung, das hat seinen Preis. Zudem sind die Transport- und Lagerkosten relativ hoch, die beiden Bände wiegen etwa fünf Kilo.

Bei 85 000 verkauften Exemplaren zu einem Preis von 59 Euro sind das trotzdem Einnahmen von über fünf Millionen Euro.
Das klingt erstmal viel, aber hinter dem Ladenpreis stehen viele Kosten – für Produktion, Vertrieb, Transport und Lagerung, vom Gehalt für das Editionsteam einmal ganz zu schweigen. Darüber hinaus übernimmt das Institut viele Funktionen, die sonst beim Verlag liegen: den Kontakt zu den Buchändlern, die Pressearbeit und Vortragsreisen. Momentan wird ein französisches Übersetzungsprojekt diskutiert, die Bayerische Landeszentrale für politische Bildung hat gerade mit Unterstützung des Instituts ein Themenheft zur Edition veröffentlicht. Es ist nicht so, dass das Institut jetzt im Geld schwimmt. Trotzdem ist es im Nachhinein eine sehr kluge Entscheidung gewesen, die Edition ohne Verlag zu veröffentlichen.

Warum?
Wenn man als Institut mit einem Verlag arbeitet, kommen zwangsläufig auch andere Interessen ins Spiel, die zwar aus Sicht der Verlags legitim sind, aber gerade bei so einem Projekt auch problematisch sein können. Das Buch ist jetzt auf der Bestseller-Liste – wie reagiert der Verlag? Mehr Werbung? Werden wir in Talkshows geschickt? Solchen Marktmechanismen wollten wir nicht ausgesetzt sein. Wir sind unabhängig, und das ist in einem Fall wie diesen auch gut so.

Wie geht es für Sie nach diesem Erfolg weiter?
Nach den anstrengenden Jahren wollte ich mal raus aus dem Büro, einen harten Schnitt machen, sonst geht das immer so weiter: diese Anfrage, jener Vortrag. Distanz gewinnen, keinen Urlaub wie gewöhnlich machen, wo man doch viel zu oft an seine Arbeit denkt. Und ich wollte auch nicht noch so ein Pilger auf dem Jakobsweg sein, der da vor sich hin sinniert. Also habe ich beschlossen: Ich gehe mit der Bundeswehr nach Mali.

Wie kam es dazu?
Ich bin Reservist und unterrichte regelmässig an der Führungsakademie der Bundeswehr in Hamburg. Meine Schüler sind angehende Generalstabsoffiziere, die schon oft in Auslandseinsätzen waren. Das weckt natürlich Interesse. Vor allem aber: Es ist gut, wenn man in Zeiten wie diesen auch selbst etwas tun kann. Die Krisen der Welt lediglich zu beobachten, ist schrecklich. Insgesamt bin ich sechs Monate in Mali. Hier bin ich Teil der European Training Mission; wir bilden die malischen Armee aus und beraten ihre Führung. Ich glaube, nur so lässt sich die Krise, in der sich dieses Land noch immer befindet, überwinden. In unserer Mission arbeiten Menschen aus 29 Nationen zusammen. Bisher war ich Vernunft-Europäer, nicht mehr. Hier sehe ich täglich, wie gut europäische Zusammenarbeit funktionieren kann. Auch in dieser Hinsicht habe ich hier viel gelernt.

Sehen Sie nach ihrer langen Analyse der Rhetorik Hitlers Parallelen zur aktuellen Weltlage?
Ja. Natürlich muss man mit historischen Analogien sehr vorsichtig sein, aber unsere westliche Welt mit ihren scheinbaren Selbstverständlichkeiten wie Frieden, Freiheit, Sicherheit und Wohlstand ist nicht mehr jener unerschütterliche Gegenentwurf zur Welt vor 1945. Viel aggressiver Nationalismus, viel religiöser oder besser ideologischer Fundamentalismus, viele starke Männer, natürlich erinnert das an die 20er und 30er Jahre.

Welche Rolle spielt Donald Trump dabei?
Die Wahl von Trump halte ich schon für eine tiefe Zäsur. Der Rückfall der USA in ihren alten Isolationismus, auch das eine Analogie, etwas Schlechteres konnte Europa mit seinen großen Problemen kaum passieren. Natürlich ist Trump nicht Hitler, natürlich war die Situation Deutschlands im Jahr 1933 völlig anders als die Gegenwärtige der USA. Aber zwischen diesen beiden Akteuren sehe ich doch Schnittmengen – das Demagogische, diese egozentrische Selbstbezogenheit, das Unverständnis gegenüber den demokratischen Spielregeln wie überhaupt diese geistige Erstarrung.
In einem Punkt fühle ich mich noch stärker an die Zeit in Europa zwischen den Kriegen erinnert. Wie einfach es ist, mit den Mitteln von Brutalität und Primitivität Fakten zu schaffen, wie dadurch Situationen entstehen, die vorher unvorstellbar schienen, und wie dieses Unvorstellbare plötzlich hingenommen, akzeptiert und schließlich zum Dreh- und Angelpunkt des Weltgeschehens wird. Dass da plötzlich Leute an entscheidender Stelle agieren, von denen man sich Lichtjahre entfernt fühlt. Vielleicht ist unsere kritische Edition ja doch genau zum richtigen Zeitpunkt erschienen. Und vielleicht ist es auch gut, dass nun viele sie lesen.

Foto: Julian Baumann