»Jeder sollte das mal live gehört haben«

Die Sopranistin Christiane Karg steht am Beginn einer Weltkarriere. Klassische Musik ist für sie auch als Hörerin wichtig. Warum sie außerdem Punk der Popmusik vorzieht, erklärt sie hier.

1) Vier letzte Lieder – Richard Strauss
»Zum Größten und Großartigsten, das man als Sopranistin singen kann, gehören die ›Vier Letzten Lieder‹ von Richard Strauss. Das ist ein Meilenstein in jeder Sängerlaufbahn. Es hat einige Jahre gedauert, bis ich mich an sie herangewagt habe – die Stimme muss groß genug sein, um lange Bögen zu schaffen und sich allein gegen ein riesiges Orchester durchzusetzen. Ich habe die Lieder vor kurzem in Prag gesungen und lege sie jetzt erstmal wieder zur Seite, ich würde sie noch nicht jeden Tag singen wollen. Zu den besten Aufnahmen gehört die Einspielung mit Soile Isokoski. Sie hat dafür wirklich eine perfekte Stimme.«

2) Mondnacht – Robert Schumann
»›Es war als hätt’ der Himmel die Erde still geküsst‹ – so beginnt eines der bekanntesten Gedichte überhaupt, ›Mondnacht‹ von Eichendorff, das Robert Schumann vertont hat. Ich weiß nicht mehr, wann ich es zum ersten Mal gehört habe, es gibt jedenfalls wenige Stücke, über die ich sage, das muss man kennen. Die ›Mondnacht‹ gehört dazu. Dieses Stück zeigt sehr schön, warum ich Lieder so gern habe: Es steckt alles drin, man braucht nicht mehr als eine Stimme und Klavierbegleitung. Oper ist Spektakel – man braucht Maske und Kostüme und Bühnenbild und großes Orchester, sonst macht sie wenig Sinn. Lieder sind in sich vollkommen, Text und Musik werden zu einer Einheit. Ich singe ›Mondnacht‹ in Konzerten gern als Zugabe. Und auch wenn es sehr schwierig ist, mich da festzulegen: Es ist vielleicht mein Lieblingslied.«

3) Amarilli Mia Bella – Giulio Caccini
»›Amarilli Mia Bella‹ ist ein wunderschönes altitalienisches Liebeslied, hier gesungen von einem Countertenor, einem männlichen Sopran – eine Stimmlage mit ganz eigenem Klang, früher wurde das von Kastraten gesungen. Obwohl Musik mein Beruf ist, kann ich nicht genug davon bekommen, ich gehe auch an freien Abenden gerne ins Konzert oder in die Oper. Pop hat mich nie besonders interessiert. Ich hänge da stark am Text – und es gibt einfach zu viele platte, billige Popsongs, die mich nicht berühren. Punk zum Beispiel interessiert mich da mehr, eben weil ich die Texte so kraftvoll und mit Inhalt sind. Wenn Musik keine Seele hat und billig produziert ist, interessiert sie mich nicht.  Ich will da nicht rigoros sein – sobald mich Musik berührt, weil sich jemand etwas dabei gedacht hat, hat sie ihre Berechtigung, und dann mag ich sie auch. Das gilt auch für Musicals und Jazz. Allerdings nur dann, wenn sie nicht zu laut ist und auch mal ein Ende hat – übertriebene Lautstärke macht alles kaputt, denn man gewöhnt sich schnell daran und das ist ermüdend.«

4) Erlkönig – Franz Schubert
»Noch ein Gedicht, ›Erlkönig‹ von Goethe. Der Text ist schon eine Meisterleistung, die Musik gibt nur noch den Rahmen. Vielleicht Franz Schuberts bekanntestes Stück, vom ersten Moment an ergreifend und gruselig.«

5) Urlicht – Gustav Mahler
»Man neigt ja als Sänger manchmal dazu, sich ein wenig zu wichtig zu nehmen. Ein Werk, das mich das Gegenteil gelehrt hat, ist die Auferstehungssymphonie von Gustav Mahler. Da komme ich als Sopranistin erst im 5. Satz dran, vorher darf ich sitzen und zuhören – etwa, wenn meine Alt-Kollegin diese wunderschöne Passage zu singen hat – und trotzdem fühlt man sich als Teil des Werks, als Teil von etwas großem. Ich möchte, dass jeder Mensch diese Sinfonie einmal im Leben live erlebt.«

6) Cancion de cuna para dormir un negrito – Xavier Monsalvatge
»Das ist ein Schlaflied – aber nicht für ein weißes, sondern für ein farbiges Kind. Im Text gibt es die Stelle: Wenn du jetzt nicht schläfst, kommt der böse weiße Mann. Das Lied gehört zu einem Zyklus eines katalanischen Komponisten, es geht um Kuba, die Besetzung von Kuba, ganz tolle, unbekannte Musik – ich singe das gern, weil es die Ohren und den Geist wach macht – und das ist es, wozu Kunst da ist.«

7) Lahore – Maurice Delage
»Beim ersten Hören habe ich mich sehr gewundert: Was sind das denn für Instrumente? Das Stück ›Lahore‹ von Maurice Delage klingt nach traditioneller indischer Musik, ist aber geschrieben für klassische westliche Instrumente, die aber gar nicht wiederzuerkennen sind: Cello, Oboe, Flöte, Harfe, Das Stück habe ich bei der Vorbereitung eines Liederabends für die Alte Oper Frankfurt entdeckt. Es ist dann am Abend selbst wahnsinnig gut angekommen. Das hat mir gezeigt: Man muss das Publikum auch fordern. Nicht immer nur das gängige Repertoire spielen, die Stücke, die man sowieso kennt – sondern über den Rand hinaus schauen, den Zuhörern etwas zutrauen und sich überraschen lassen.«

Foto: Gisela Schenker