»Er wird nicht schreien, oder?«

Auch wenn es selten vorkommt: Manchmal sterben Babys im Mutterleib. Eine Tragödie für die Eltern. Unsere Kolumnistin, die Hebamme, kann bis heute die »stille Geburt« des kleinen Felix nicht vergessen.

Illustration: Cynthia Kittler

Hinweis: Der folgende Text schildert eine Totgeburt und kann auf Betroffene belastend und retraumatisierend wirken.

Begonnen hatte der Nachtdienst sehr ruhig. In den Behandlungsräumen herrschte jene konzentrierte Stille, die ich zum Arbeiten so schätze. Es war gegen 22 Uhr, als Frau W. anrief. 38. Schwangerschaftswoche. Sie habe ein komisches Gefühl, das Kind strample nicht mehr. Es sei bestimmt falscher Alarm, sagte sie beschwichtigend, aber ob sie nicht trotzdem kurz vorbeischauen könne.

Wenig später sah ich Frau W. mit ihrem Mann den Gang entlanglaufen. Ein schönes Paar, Anfang dreißig vielleicht, sie trug ein gelbes Sommerkleid und rote Ballerina. Mir fiel gleich auf, wie innig die beiden miteinander waren. In ihrer Hochzeitsnacht hätten sie das Kind gezeugt, ein Jungen, sollten sie mir später erzählen. Sie wollten ihn Felix nennen.

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Ich legte die Frau an das CTG und hielt die Ultraschallsonde auf ihren Bauch.

Und dann diese Stille.

Da war kein Rauschen, kein Schluckauf des Babys, kein Herzschlag. Ich hörte nur meinen eigenen Atem. Auf dem Monitor sollten Zahlen erscheinen, aber der Bildschirm blieb schwarz.

Da war kein Leben mehr. Ich ahnte es, aber ich durfte nichts sagen. Den Tod darf nur ein Arzt feststellen. »Am besten wir schauen uns das gleich mit der Ärztin im Ultraschall an, der ist auch viel genauer,« sagte ich so neutral wie irgendmöglich. Als ich den Gang entlang lief, um die Oberärztin zu wecken, murmelte ich: Bitte nicht, bitte nicht, bittte nicht. Nie hatte ich mir jemals so gewünscht, mich geirrt zu haben.

Als ich mit der Ärztin zurückkam, hielt der Mann seine Frau fest im Arm. Die Ärztin nahm die Ultraschallsonde, fuhr der Frau über den Bauch, blickte auf den Monitor. Dann sprach sie es aus: »Es tut mir leid, aber das Herz ihres Kindes hat aufgehört zu schlagen.« Die Frau schrie. Heiser und markerschütternd durch die Stille des Raumes.

Wir brachten das Paar in unser Abschiedszimmer, diesen Raum, den es in vielen Krankenhäusern gibt. Kein Zimmer für Kranke, sondern eines für die Angehörigen. In unserem Abschiedszimmer steht ein Doppelbett, ein Bücherregal – unter anderem mit der Bibel und dem Koran – ein Korbsessel, die Wände sind farbig gestrichen.

Warum warum warum. Die beiden weinten so bitterlich. Wir konnten es ihnen nicht sagen. Totgeburten zu einem so späten Zeitpunkt in der Schwangerschaft sind unglaublich selten, nach der 17. Woche sind es weniger als 2 Prozent. Der Grund kann eine vorzeitige Plazentalösung sein, eine Entzündung im Mutterleib oder eine Abschnürung durch die Nabelschnur. Oftmals kann aber kein Grund erkannt werden. Nicht mal in einer Obduktion. Und die Antwort, auf die wichtigste Frage der Eltern bleibt für immer offen.

Natürlich gibt es nicht nur für alles im Leben eine Checkliste, sondern auch für den Tod. Wir müssen so viel mit den Eltern besprechen, ob sie eine Obduktion wünschen, ob sie seelsorgerischen Beistand möchten (oft wünschen das zum Beispiel die Großeltern). Wir informieren sie über die Bestimmungen zu Bestattungen, dass es die Möglichkeit gebe, über einen ehrenamtlichen Verein professionelle Erinnerungsfotos des Babys zu machen (eine unterstützenswerte Sache, mein-sternenkind.eu). Und natürlich auch, wie es jetzt unmittelbar mit Frau W. weitergehen würde: dass die Geburt relativ bald eingeleitet werden müsse. Und dass es am besten sei, das Kind käme durch eine vaginale Geburt zur Welt.

Auf keinen Fall. Wie die meisten Frauen wünschte sich Frau W. einen schnellen Kaiserschnitt, am besten unter Vollnarkose. Nur raus »damit«. Ein Kaiserschnitt sei ein unnötiges Risiko, erklärte ich ihr, für sie selbst und auch für ihre Chancen auf eine erneute Schwangerschaft. Ich sagte den Satz, den ich von meiner Ausbilderin übernommen hatte: »Die seelische Wunden sind schon da. Wir wollen die körperlichen in Grenzen halten.« Schließlich stimmte sie zu.

Ich sah den beiden hinterher, als sie kurz darauf Richtung Ausgang gingen. Ich konnte gut verstehen, dass sie lieber zu Hause schlafen wollten als in der Klinik. Morgen würden wir die Geburt einleiten. Als die beiden am nächsten Tag wiederkamen, war ihre Verzweiflung einer apathischen Ruhe gewichen. Schon mittags hatten die Ärzte der Frau ein Medikament zur Geburtseinleitung gegeben, abends setzten die Wehen ein. Ich hatte wieder Nachtdienst und würde mich ausschließlich um sie kümmern. Kein Papierkram, keine Notfallambulanz. In solchen Fällen halten die Kollegen einem den Rücken frei.

Die Geburt verlief schnell aber heftig, Frau W. atmete duldsam die immer stärker werdenden Wehen weg. Ich hatte ihr die PDA so hoch eingestellt, dass sie die Wehen gerade noch spüren konnte, aber kaum Schmerzen dabei hatte.

Alle drei sprachen wir in dieser Nacht nur das nötigste miteinander. Nur einmal fragte Frau W. mich: »Er wird nicht schreien, oder?« – »Nein«, sagte ich und schluckte. Sie hatte immer noch Hoffnung. Das Herz braucht länger als der Verstand. Von den Frauen mit Totgeburten, die ich bei uns bislang erlebt habe, haben mir das alle erzählt: dass mit dem Kind ein Traum sterbe. Vom Moment an, wo ihr Schwangerschaftstest positiv gewesen war, hätten sie sich mit einem Kinderwagen im Stadtpark gesehen. Mit dem Kind sterbe eine Vorstellung von der Zukunft, und egal, ob es in der 12. Woche oder in der 38. passiert, es war für sie alle eine Tragödie.

Als die Sonne gegen 7 Uhr den Kreißsaal in goldenes Licht tauchte, hatte Frau W. es geschafft. Ich durchtrennte die Nabelschnur und wickelte das tote Kind in ein Tuch. »Wollen Sie Ihren Felix sehen?« Sie schwieg, schloss die Augen. »Oder soll ich Ihnen vielleicht beschreiben, wie er aussieht?« Sie nickte. Ich beschrieb, was ich sah: einen kleinen Jungen mit einem braunen Flaum und einer Runzelstirn, der die Augen geschlossen hatte und trotz seiner grauen Haut ganz süß und friedlich aussah. Die beiden wollten ihn jetzt doch sehen.

Dann taten wir das, was ich nach einer Geburt immer gemeinsam mit den Eltern tue: das Kind waschen und anziehen. Für andere Eltern ist es das erste Mal von Tausenden, für diese Beiden war es das einzige Mal. Das machte es zu einer feierlichen Zeremonie. Sie weinten stumm währenddessen, aber sie lächelten auch.

Geburten wie diese, bei denen das Kind tot geboren wird, nennt man stille Geburten, weil kein Schrei die Eltern, die Hebamme und den Arzt von jener letzten Unsicherheit befreit, das Kind könne nicht lebendig sein.

Direkt nach meiner Nachtschicht musste ich zur Taufe des Babys einer Freundin. Ich zog mich im Krankenhaus um und radelte benommen von den Erlebnissen der letzten Stunden zum Gottesdienst. Als der Pfarrer ihrem Sohn Elias, der eine Runzelstirn hatte und ganz friedlich aussah, das Taufwasser über den Kopf goss, schrie er auf. Und ich weinte und konnte eine ganze Zeit lang nicht mehr aufhören.