Das kategorische Brötchen

Der Automat beim Discounter spuckt zwei Brötchen aus, obwohl nur eines gewünscht war. Muss man trotzdem beide kaufen? Für die Antwort zieht unser Moralkolumnist Immanuel Kant zu Rate.

»Zum zweiten Mal in dieser Woche stand ich vor dem Brotautomaten im Discounter, drückte die Taste für eines der angebotenen Brötchen, und anstelle von einem fielen zwei in die Schale. Soll ich das zweite, ungewollte Brötchen mitnehmen und bezahlen, da ich weiß, dass es niemand mehr als ›frisches Brötchen‹ nehmen will? Oder einfach liegen lassen, mit schlechtem Gewissen?« Jan S., Tübingen

Ihre Frage kommt mir gelegen, um ein wichtiges Anliegen zu propagieren: Man sollte sich selbst und das, wie man sich alles vorgestellt hat, nicht so wichtig nehmen. Hier: Man wollte nur ein Brötchen kaufen, nun hat man zwei, also kauft man halt erst übermorgen wieder welche. Dann ist morgen eines leider altbacken, aber dafür werden keine Lebensmittel weggeworfen. Und das scheint mir ein sehr wichtiger und hier zentraler Punkt. Ganz abgesehen von der kleinen Übung in Selbstzurücknahme, die einem hilft, ein ruhigeres, glücklicheres Leben zu führen.

Allerdings kommt einem dann wieder einmal Kant in die gedankliche Quere. Was wäre, würde Ihr Verhalten allgemeines Gesetz? Mit anderen Worten, wenn jeder jedes zusätzlich (von einer Maschine!) ausgespuckte Brötchen kaufen müsste? Die Antwort lautet: Automaten mit diesem Fehler würden mehr Umsatz machen und sich durchsetzen, sogar dann, wenn man den Betreibern keine böse Absicht unterstellt.

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Deshalb würde ich hier differenzieren. In Einzelfällen würde ich das zweite Brötchen kaufen. Wenn das Problem jedoch regelmäßig auftritt, also ein Fehler im System vorliegt oder gar Absicht, wäre es falsch, wenn Sie das unterstützen. Dann jedoch hielte ich es auch nicht für die beste Reaktion, die überzähligen Brötchen einfach liegenzulassen. Denn wenn Sie von einem derartigen Mechanismus ausgehen, unterstützen Sie ihn wissentlich, solange Sie weiter Ihre Brötchen dort kaufen. Offensichtlich scheint es sich auch zu rechnen, wenn nicht alle das zweite Brötchen mitnehmen. Sauberer wäre, die Verantwortlichen damit zu konfrontieren, vor allem aber seine Brötchen nicht mehr dort zu holen, sondern wieder in einem Laden mit Bedienung und mehr Achtung gegenüber Lebensmitteln.

Literatur:

Hier geht es um den Kategorischen Imperativ in seiner bekanntesten Formulierung, der des allgemeinen Gesetzes.

Diese Formulierung des kategorischen Imperativs in der Form des allgemeinen Gesetzes wiederum gibt es in mehreren Varianten: »Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.« Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Akademie Ausgabe Band IV, Seite 421. Online abrufbar hier.

»Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.« stammt aus der Kritik der praktischen Vernunft, Akademie Ausgabe Band V, Seite 30. Online abrufbar hier.

»Handle nach der Maxime, die sich selbst zugleich zum allgemeinen Gesetze machen kann.« Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Akademie Ausgabe Band IV, Seite 436/437 Online abrufbar hier.

»Diese Gesetzgebung muß aber in jedem vernünftigen Wesen selbst angetroffen werden und aus seinem Willen entspringen können, dessen Princip also ist: keine Handlung nach einer andern Maxime zu thun, als so, daß es auch mit ihr bestehen könne, daß sie ein allgemeines Gesetz sei, und also nur so, daß der Wille durch seine Maxime sich selbst zugleich als allgemein gesetzgebend betrachten könne.« Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Akademie Ausgabe Band IV, Seite 434 Online abrufbar hier.

Eine wirklich gute Einführung und einen guten Überblick über die verschiedenen Varianten bieten: Kant für Anfänger. Der kategorische Imperativ. Eine Lese-Einführung von Ralf Ludwig, dtv München 1999

Sowie das Kapitel »Die kantische Ethik« in der auch sonst empfehlenswerten Einführung in die Ethik von Herlinde Pauer Studer, facultas WUV/UTB, Wien 2. Auflage 2010

Zum besseren Verständnis der Textstellen und ihrer Zusammenhänge: Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysk der Sitten, Kommentar von Christoph Horn, Corinna Mieth und Nico Scarano, Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 2007, S. 189ff. zu Kant AA IV, 400,33 »Maxime« und S. 224ff. zu Kant AA IV, 421, 7.

Dieter Schönecker, Allen W. Wood, Kants »Grundlegung zur Metaphysik der Sitten« Ein einführender Kommentar, Schöningh Verlag UTB, Paderborn 2002 S. 125ff.

Weiterführend in diesem Zusammenhang: Maria Schwartz, Der Begriff der Maxime bei Kant. Eine Untersuchung des Maximenbegriffs in Kants praktischer Philosophie. (Philosophie im Kontext, herausgegeben von Wilhelm Vossenkuhl, Band 6), Lit Verlag, Berlin 2006