Das alte Bild des Schiffes, seit vielen Jahrzehnten verblasst, erhielt vor kurzem noch einmal eine unerwartete Kolorierung. Im Juli 2001 verlegten die G8-Staatschefs ihre Gipfelkonferenz in Genua infolge massiver Sicherheitsbedenken von der Innenstadt auf ein Schiff vor der Küste; die Furcht vor gewaltbereiten Demonstranten und Anschlägen islamischer Terroristen ließ diesen Veranstaltungsort als letztes Refugium der Abschottung erscheinen. Die Sorge um die mächtigsten Politiker der Welt gab dem Schiff im 21. Jahrhundert also noch einmal für wenige Tage jene Aura zurück, die es lange schon nicht mehr hat: ein Schauplatz größtmöglicher Autonomie, abgekoppelt von jeder Interaktion des Festlandes, ein Ort ohne Ort. Die Situation, die vor der Entstehung weltumspannender Kommunikationsmedien für jede Schiffsreise galt – das Abschneiden jeglicher Verbindung nach außen, das Eintreten in eine für die Dauer der Fahrt geschlossene Schicksalsgemeinschaft –, wurde in Genua aus sicherheitstechnischen Gründen noch einmal simuliert. Die unbezeichnete Weite des Meeres als Gegenstück zu den feinen Rastern der Stadt, als Bastion, um den Strategien der politischen Gegner zu entfliehen. Nicht umsonst brachte gerade die polizeiliche Sensibilität des Gipfeltreffens jenes Transportmittel zum Vorschein, dessen Charakterisierung als Ort der Ausnahmesituation bereits vor mehr als zweitausend Jahren, in der griechischen und christlichen Mythologie, begann. Seit den Argonauten und Odysseus, seit der Arche Noah oder jener Verheißung des Johannes, dass es im messianischen Zustand kein Meer mehr gäbe, war das Schiff mit der Bewältigung existenzieller Lebensproben, mit dem Verlassen der auf dem Festland gültigen politischen und sozialen Grundlagen verbunden. Das Meer galt jahrhundertelang als bedrohliche Sphäre, die nur mühsam durch auf dem Land erprobte Kulturtechniken wie Navigation und Kartografie domestiziert werden konnte. (Dass man Schiffe häufig auf Ortsnamen taufte, wirkte wie der Versuch einer Territorialisierung des Meeres). Im Verlauf des 20. Jahrhunderts hat das Schiff seine Bedeutung als kulturelles Emblem eingebüßt. Das liegt zum einen in der Geschichte des Verkehrsmittels selbst begründet: Der Siegeszug der Dampfschifffahrt nahm der Reise das Unwägbare und koppelte ihren Verlauf von der Witterung ab. Die immergleiche Arbeit des Motors kennt keinen Wind, keine Flaute. Zum anderen hat das Schiff seit der Etablierung der Flugzeuge seine Aufgabe als bloßes Transportmittel für Menschen verloren, und auch auf dem Frachtschiff sind die literaturfähigen Sozialdramen einer Bounty der Standardisierung der Container-Schifffahrt gewichen, deren Maschinerie das Meer als möglichst nahtlose Fortsetzung der Straße jenseits der Ufer begreift. Was aber ist das Schiff heute? Ein Schauplatz des Urlaubs und des Sports. Von der Schiffsreise mit menschlichen Passagieren sind die Kreuzfahrt und die Regatta übrig geblieben. Die traditionelle Erfahrung der Schicksalsgemeinschaft sickert noch durch, etwa bei Teilnehmern von Raves auf Partybooten, die davon berichten, dass die Ekstaseschwelle weit niedriger liege als in Clubs auf dem Festland, oder in einem Fernsehformat wie dem Traumschiff, dessen Dramaturgie im biederen Milieu der Kreuzfahrt noch einmal das existenzielle Abenteuer früherer Schifffahrt beschwören will. Auch der Status als Ausnahmesitua-tion ist zuweilen noch in feinen Nuancen spürbar, wie nach jener Harald-Schmidt-Show auf dem Rheinschiff, die einem Maß an öffentlicher Kritik ausgesetzt war, das im angestammten Raum des Studios nicht sagbar wäre. Wenn das Schiff im letzten Vierteljahrhundert tatsächlich noch elementares Verkehrsmittel für Menschen war, ein Vehikel von A nach B, dann nur für jene, die ausgestoßen sind, für die Boatpeople, die Flüchtlinge, die keine Anlaufstelle zwischen den Kontinenten finden. Ruft ihr Ausschluss von allen gültigen Sozialordnungen nicht die Assoziation herbei an die Flucht der G8-Staatschefs auf die Luxusyacht? Das Schiff im 21. Jahrhundert: ein Ort des – freiwilligen oder unfreiwilligen – Exils.