T-Shirt

Das Nachdenken über das richtige T-Shirt, eine ständige Herausforderung der Konsumgesellschaft, wurde neulich durch eine Meldung aus den vermischten Nachrichten noch einmal verschärft. Ein Richter in Wilmington, Delaware, verurteilte einen Gärtner names Russell T., der wegen Entblößung vor Minderjährigen für schuldig befunden wurde, zu einer besonderen Strafe. Nach sechzig Tagen Haft muss er zwei Jahre lang ein bedrucktes T-Shirt mit der Aufschrift »Ich bin ein Sexualstraftäter« tragen. »Dies ist eine einzigartige Möglichkeit, um seine Kunden wissen zu lassen, dass er ein Sexualstraftäter ist«, erklärte dazu der Staatsanwalt. Sicherlich reagiert hier das amerikanische Justizsystem auf den eindeutigen Trend zum Individual-T-Shirt, der sein neues Hauptquartier ausgerechnet in Leipzig gefunden hat. Dort sitzt die Firma Spreadshirt, die es jedem Internet-Nutzer erlaubt, mit wenigen Mausklicks sein eigenes T-Shirt zu gestalten, zu beschriften und auch gleich zu bestellen. Mit dieser Idee hat der Unternehmer Lukasz Gadowski in vier Jahren 200 Arbeitsplätze geschaffen und auf einer Liste der wachstumsstärksten Mittelständler Europas landete er neulich auf Platz fünf. Mit anderen Worten, sein Laden brummt – und wenn das Pranger-Urteil von Delaware Schule macht, wird er bald noch mehr brummen. Dann melden sich die Gerichtsdiener noch während der Urteilsverkündung bei spreadshirt.net an, tippen den Richterspruch in die Bestellmaske ein – und schon wenige Tage später erhält der Delinquent ein Päckchen aus Leipzig. Aber das ist natürlich nicht alles. Der verurteilte Russell T. wird Anfang Januar entlassen und fügt sich dann nahtlos in eine T-Shirt-Bekennerkultur ein, mit der sich Menschen jeden Alters und Geschlechts als »Flankengott«, »Zicke« oder »Pornostar« outen. Sehen die Träger dies aber – Staatsanwälte aufgepasst – als »einzigartige Möglichkeit, ihre Mitmenschen wissen zu lassen, dass sie ein Flankengott oder ein Pornostar sind«? Eher nicht. In seinem Glauben an die ungebrochene Verbindung von Zeichen und Bezeichnetem (was auf einem T-Shirt draufsteht, muss auch drin sein) wirkt das Urteil beinahe rührend. In Wirklichkeit wird Russell T., der immerhin 69 Jahre alt ist, mit dem neuen Spruch auf seiner Brust wohl zum coolsten Opa von Delaware aufsteigen. Insbesondere auf minderjährige Mädchen könnte das Flirren von Bedeutungen, das ihn plötzlich umgibt, eine geradezu magische Wirkung entfalten – der Tag wäre wohl nicht mehr fern, an dem man T-Shirts und sogar Boxershorts mit der Aufschrift »Registered Sex Offender« im Internet kaufen kann.Die ewige Prinzipienfrage, welche Art von T-Shirt-Aufdruck für den modebewussten Menschen noch tragbar ist, gerät damit endgültig in ein unlösbares Dilemma. Selbst wer Spaß-T-Shirts wie »Bier formte diesen schönen Körper« nicht einmal mit der Beißzange anfassen würde, hing möglicherweise doch der Schule an, das konsequente Tragen zufällig abgestaubter Gratis- und Promo-T-Shirts ergebe als Langzeiteffekt ein Statement lässiger modischer Indifferenz. Nach dieser Philosophie lebte auch der Kolumnist die letzten 15 Jahre lang, bis er neulich ein Fotoalbum dieser Jahre betrachtete und feststellen musste, dass er wirklich auf jedem einzelnen Foto scheiße aussah. Seitdem kann er keinen Buchstaben, kein Logo und keine Grafik, ja nicht einmal mehr einen Hauch von Farbe auf Brust oder Rücken ertragen. Selbst das hochaktuelle, hübsche blaugelbe »Borat«-Shirt, das neulich in der Post war – es ging nicht mehr.Kann man über die dritte oder vierte Metaebene vielleicht noch entkommen? »Was auf T-Shirts steht, ist immer falsch« steht zum Beispiel auf einem T-Shirt, das man über spreadshirt.net kaufen kann. Sicherlich ein faszinierendes Paradoxon, aber leider auch von begrenzter Durchschlagskraft. Das Statement »Sexualstraftäter« dagegen, in Verbindung mit der Tatsache, wirklich ein solcher zu sein, kann man drehen und wenden, wie man will: Es ist wohl nicht mehr zu toppen. Es ist das Ende des T-Shirt-Spruchs. Danach bleibt nur noch der Geist von Marlon Brando und James Dean. Es bleibt nur: weiß.