Der Mann aus der Zukunft

Bücher? Papier? Gestaltung von gestern, die den erfolgreichen Software-Designer Justin Edmund eigentlich nicht mehr interessiert. Uns gab er eine Führung durch sein Smartphone.

Bilderstürmer Justin Edmund ist Designer bei Pinterest und unterhält dort 90 Pinnwände u. a. zu Eulen, Icons und Steve Jobs.

Ein paar Tage vor dem Treffen hatte jemand versucht, gewaltsam in Justin Edmunds Zuhause einzubrechen – besser gesagt, sich in sein iPhone zu hacken. Dieses iPhone aber ist Edmunds Zuhause – wenn man unter einem Zuhause den Teil der Welt versteht, in dem man täglich unterwegs ist, sich auskennt und die Leute mit Vornamen grüßt.

Es ist übrigens nicht ganz nebensächlich, dass es sich um ein iPhone handelt und nicht um ein Android-Smartphone. So eins besitzt Edmund zwar auch. Er ist Designer bei der Bildertausch-Plattform Pinterest. Er muss schon von Berufs wegen wissen, wie die App seines Arbeitgebers auf Android aussieht. Aber ganz so zu Hause wie in seinem iPhone ist er dort eben nicht.

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Das hat, sagt Edmund, historische Gründe – wenn man bei den paar Jahren, die es Smartphones und Apps gibt, einmal von Historie reden darf: Android war, jedenfalls bis vor Kurzem, eine Welt, in der es alles Wesentliche zwar auch gab, funktional und solide, aber ein bisschen glanzlos. In Apples iPhone seien die Apps viel aufwendiger gestaltet, da ist mehr Design. Man könnte auch sagen: Android ist ein digitaler Ostblock, Apple ist der Westen. Aber dann könnte Justin Edmund nicht mehr mitreden. Er hat den Unterschied nie kennengelernt. Er ist 1990 geboren.

Allerdings sind selbst Menschen, die doppelt so alt sind, heute überwiegend in ihrem Telefon zu Hause. Sie halten es sich beim Laufen vor das Gesicht und tippen beim Überqueren der Straße darin herum. Im verbotsfreudigen New York wird deswegen bereits diskutiert, ob man die Benutzung von Mobiltelefonen im Straßenverkehr auch für Fußgänger untersagen sollte. Wenn man aber die meiste Zeit des Tages da drin zubringt, dann sind die Leute, die dort die Apps designen, ungefähr das, was in der alten Welt die Baumeister waren. Mit so jemandem durch sein iPhone zu spazieren, das war die Idee, müsste ungefähr so aufschlussreich sein wie ein Stadtspaziergang an der Seite eines Architekten.

Man könnte sich natürlich auch gleich innerhalb dieser Welt treffen, im Inneren des iPhones, über Facetime oder Skype. Leider kann man dann nicht gemeinsam reinschauen. Und von wegen, es kommt dank Internet und Smartphones nicht mehr darauf an, wo man sich befindet. Um die Welt von Justin Edmund zu verstehen, kommt es sehr wohl auf den Ort an. Und der Ort ist in diesem Fall, wenn man sich einmal mit der App von Google Maps aus dem Universum bis in den Mikrokosmos von Edmunds iPhone hineinzoomen würde, folgender: Vereinigte Staaten von Amerika, Westküste, Bay Area, das Silicon Valley, oder jedenfalls ein sehr nördlicher Teil davon – der silicon-valleyhaft mit Start-ups und Kreativwirtschaftlern bevölkerte Stadtteil SoMa, und dort nun, exakt an der Ecke 7th Street und Folsom, ein Coffeeshop mit dem Namen »Sightglass«.

Eine Riesenscheune, alte Holzbalken, überall mahlen Mühlen an verschiedenen Bohnensorten herum. Das Personal hantiert mit der ernsten Geschäftigkeit von Neo-Rauch-Figuren an seinen Apparaten, selbst die Kundschaft scheint pausenlos Messergebnisse in ihre Rechner einzupflegen. Von Justin Edmund kommt jetzt eine Mail: »Sitze oben im ersten Stock ganz hinten, habe einen Kopfhörer auf und eine große Kamera, sollte nicht zu verfehlen sein.«

Er wäre auch ohne diese Erkennungszeichen nicht zu verfehlen gewesen. Er ist der einzige Schwarze im Lokal, und: Justin Edmund trinkt keinen Kaffee. Mag er nicht. Trotzdem war der Vorschlag, sich in diesem Kaffeetempel über das iPhone zu beugen, von ihm. Der Ort kam ihm standesgemäß vor. Coffeeshops wie das »Sightglass« sind in dem Maße Coffeeshops wie ein iPhone ein Telefon ist, nämlich: gerade noch so nebenher ein bisschen. Eigentlich sind es Wi-Fi-Hotspots, in denen die Leute ein großes Sozialnetzwerk bilden. Für Internethasser gibt es die Filterplörre aus dem Diner um die Ecke. Digitalisierung ist eben vor allem auch eine Haltungsfrage und ein Lebensstil.

»Manchmal denk ich mir, es wäre schon schön, mal Leute zu treffen, die nichts mit dem zu tun haben, was man selber macht«, sagt Justin Edmund. Andererseits ist die Garantie, dass das möglichst selten passiert: das Silicon Valley. Deshalb sitzen sie ja alle hier auf einem Haufen.

Justin Edmund kommt eigentlich aus New York, hat Comics gezeichnet, dann in Pittsburgh Kommunikationsdesign studiert und wäre ganz gerne zurückgegangen in seine Heimatstadt. Aber wer Internet macht, muss an die Westküste. Es gibt nämlich durchaus so etwas wie einen Genius loci, einen Spirit, der von einem Ort ausgeht, wo man hinter einer Garagentür im Zweifel kein Auto vermutet, sondern das nächste Google, Apple oder Facebook. Und am Abend, wenn die großen Konzerne wieder einen Tag lang Krieg geführt haben gegeneinander, dann setzen sich ihre Fußtruppen zusammen und plaudern ein wenig.

»Sie sind die Anwälte der Nutzer gegenüber den Entwicklern.«

Bilder im Netz sammeln, auf virtuellen Pinnwänden posten und mit anderen teilen - mit dieser simplen Geschäftsidee ging das soziale Netzwerk Pinterest 2010 online. Heute zählt das vom kalifornischen Palo Alto aus betriebene Onlineangebot zu den Überfliegern im Internet mit derzeit etwa 50 Millionen Nutzern, Tendenz rasant steigend. 2012 wurde Pinterest mit dem Webby Award ausgezeichnet für bestes Netzwerk und bestes Design.

Vor ein paar Jahren hatte Justin Edmund einmal versucht, ein Portal zum Bildersammeln zu kreieren, das brachte ihm ein Praktikum bei Facebook, er hätte dort sofort arbeiten können, wurde aber von Pinterest abgeworben, was damals noch ein Wohnzimmerunternehmen war, allerdings die gleiche Idee hatte wie zuvor schon er. Auf Pinterest kann man Bilderfunde aus dem Netz sammeln, ordnen und gegenseitig kommentieren. Wer nach Beispielbildern für Flachdachkonstruktionen, Hundewelpen oder Badeanzüge sucht: Pinterest. Justin Edmund ist dafür zuständig, dass der Wust an Bildern trotzdem übersichtlich, elegant und einladend ausschaut. Er ist aber eben nicht nur einfach Grafikdesigner, er ist »interaction designer«, er bestimmt nicht nur, wie es aussieht, sondern auch, wie es funktioniert.

Designer sind bei allen begehrt, bekommen Gehälter wie früher nur die Entwickler, und sind, da auch vom Image her weniger nerdig als diese, jetzt »die Rockstars des Silicon Valley«. So stand das voriges Jahr in amerikanischen Zeitungen. Justin Edmund würde nicht sagen, dass er sich wie ein Rockstar fühlt – wenn man darunter jemanden versteht, der bekokst das iPad aus dem Hotelfenster schmeißt. Aber die Designer seien tatsächlich deutlich wichtiger geworden.

»Sie sind die Anwälte der Nutzer gegenüber den Entwicklern.« Sie sorgen dafür, dass, was technisch denkbar ist, auch praktisch bedienbar und übersichtlich bleibt. »Design ist immer die einfachste Lösung.« Noch so ein Merksatz von Justin Edmund, besonders schön durch den Nachsatz: »Wie bei Dieter Rams.«

Das Vorbild Dieter Rams für die heutige Hardware der Firma Apple ist so offensichtlich, dass es selbst im Silicon Valley nicht mehr machbar ist, seinen Namen zu verschweigen. Dabei gilt als große Stärke dieses Designs, dass es sich gewissermaßen selbst zum Verschwinden bringt, damit man eben möglichst unabgelenkt eintaucht in die Welt der Apps. Dort wiederum versucht Edmund genau das Gleiche: »Bei jedem Redesign wird geschaut, was noch an Überflüssigem weg kann.«

Bitte mal vergleichen, mit wie viel technoidem Firlefanz die meisten Webseiten noch vor zehn Jahren vollgeräumt waren, Loveparade-Flyer waren übersichtlich dagegen. Und wie aufgeräumt, schlicht, fast klassizistisch es heute zugeht. Design in diesem Bereich ist ständiges Ausmisten und Aufräumen, was den Nebeneffekt hat, dass die digitalen Welten auf dem Computer und dem Telefon wesentlich altengerechter möbliert wurden. Die Kunst dabei, so Justin Edmund, ist aber nun, mit dem Spardiktat bei den Apps einzuhalten, bevor es karg und unerfreulich wird.

Beispiel. Justin Edmund tippt seine vier Codezahlen in das iPhone und öffnet Apples E-Book-Reader iBooks. Wie die Bücher mit einem Swoosh ins Bücherregal hineinfliegen, wenn man sie erworben hat: Immer wieder ein kleiner Moment der Freude, was auch daran liegen kann, dass sich damit ein alter Traum aus der Echtwelt erfüllt, wo Bücher leider nie die Güte hatten, sich von alleine einzuräumen. Nun ist die Welt im Inneren eines iPhones aber eigentlich nicht weniger echt, sondern nur anders. Und deshalb hält Justin Edmund es wiederum für schlechtes Design, wenn beim Umblättern in iBooks jedes Mal das Blättern eines echten Buches imitiert wird. »Das ist bei der ersten Seite eine Überraschung, bei Seite zwei noch ganz lustig, ab Seite 18 fängt es an zu stören, und bei 3000 Seiten, die so ein E-Book haben kann, ist es am Ende die Hölle.«

Er sagt, er fand iBooks toll – bis die App Readmill herauskam. Auf der liest er jetzt seine Bücher. Kein Reinschweben mehr ins Bücherregal, kein Geraschel, als würde ein Bibliothekar Seiten wenden.

Skeuomorphismus, der Fachbegriff für diese Art, digital die physische Welt zu imitieren, ist ohnehin seit einiger Zeit das größte denkbare Schimpfwort, wenn es um Software-Design geht. Apple selbst hatte das Wortungetüm stolz in die Welt gesetzt. Aber gerade Apple-Jünger werfen dem Konzern diese Gimmicks am heftigsten vor. Justin Edmund sieht das viel unideologischer: Macht es die Sache einfacher oder nicht?

Wir blättern und tippen uns durch App auf App, manche skeuomorph, manche das Gegenteil, also »flat«, manche selbsterklärend, manche verwirrend. Wir schauen bei so ziemlich jedem sozialen Netzwerk vorbei, weil Justin Edmund bei jedem immer sofort Mitglied wird – um es zu studieren. Oft ist das so, als ob man ein Gebäude betritt und nach einer Weile aus einem anderen wieder herauskommt. Facebook, Twitter, Pinterest, LinkedIn, Tumblr haben sozusagen unterirdische Geheimtunnel zwischen sich angelegt, man kommt von einem zum anderen, und immer sind die Regeln anders. Das hat wieder mit dem Design zu tun. Es hilft, sich vorzustellen, in einem großen Schloss von Salon zu Salon zu gehen und je nach Tapete und Möbelepoche sind die sozialen Umgangsformen ein wenig zu variieren. Für Justin Edmund ist genau das der Reiz an der Sache. Er ist überall durchgängig immer online. Jeder darf zu jeder Zeit wissen, wo er ist. So etwas wie Angst vor Überwachung und Datenspionage kennt er natürlich – und zwar aus den Erzählungen von Vierzigjährigen, die das Buch 1984 noch auf Papier gelesen haben. Justin Edmund hat einen Computer, seit er drei war, er ist mit dem Internet aufgewachsen. Das lässt einen die Dinge anders sehen. Es wird, sagt er voraus, im Übrigen auch die Dinge selbst anders aussehen lassen, selbst die handfesten. Kleinkinder, die heute frustriert sind, dass Fernseher und Kühlschränke, Toaster und Waschmaschinen nicht so reagieren wie ein iPad, wenn man mit dem Finger drüberwischt, werden Kühlschränke, Toaster und Waschmaschinen bauen, die das tun. Irgendwann.

Und warum auch nicht? Appliances, das englische Wort für Haushaltsgeräte, lässt sich schließlich auch gut als »App« abkürzen.