Die Gewissensfrage

»Ich leide an einer leichten Form der Multiplen Sklerose. Bisher noch nicht stark erkrankt, habe ich nach Aussagen meiner Ärzte gute Chancen, noch länger ein einigermaßen ›normales‹ Leben zu führen. Nun hätten meine Freundin und ich gern Kinder, wogegen jedoch spricht, dass diese Kinder ein erhöhtes Risiko haben, auch an MS zu erkranken – zirka drei bis fünf Prozent. Vielleicht verschlimmert sich auch meine Krankheit und ich kann nicht nur keine Familie mehr ernähren, sondern muss selbst gepflegt werden. Ist es egoistisch, in diesem Fall Kinder zu bekommen? Wie kann ich mit dem Risiko umgehen, Kinder in die Welt zu setzen, die womöglich schwer erkranken?« STEFAN S., HAMBURG

Ihre Frage halte ich für sehr schwierig. Eine allgemein gültige Antwort kann es in einer derartigen Sache wohl nie geben und Sie sollten sich auf alle Fälle individuell humangenetisch beraten lassen. Prinzipiell steht jedoch meiner Ansicht nach Ihrem Kinderwunsch von moralischer Seite kein unüberwindliches Hindernis entgegen. Vor allem aber keines, über das sich ein Außenstehender anmaßen dürfte zu urteilen. Trotzdem will ich Ihnen einige Aspekte aufzeigen, mit denen Sie bei Ihren Überlegungen konfrontiert sind: Ein von mir befragter Humangenetiker hat die von Ihnen genannten drei bis fünf Prozent Risikoerhöhung bestätigt. Diese Zahl müsse man aber im Verhältnis sehen zu einem mindestens genauso hohen Risiko jedes Neugeborenen dafür, irgendeine erbliche Krankheit mitbekommen zu haben.Hier interessiert vor allem, ob sich aus ethischer Sicht eine Pflicht denken lässt, wegen des erhöhten Risikos auf die Zeugung von Kindern zu verzichten – und wenn ja, wem gegenüber? Ob sie im Verhältnis zu den möglichen Kindern bestehen kann, ist ein unter dem Begriff »wrongful life« bekanntes moralisches – und rechtliches – Problem: Kann jemand »durch« seine Existenz in seinen Rechten verletzt werden? Die überaus komplexen Überlegungen laufen letztlich auf einen Punkt hinaus: Lässt sich behaupten, es wäre für den Betroffenen vorzuziehen, nicht geboren worden zu sein? Diskutiert wird das in der Medizinethik eigentlich nur bei Kindern, die ein so schweres Leiden aufweisen, dass sie nur zur Welt kommen, »um« qualvoll zu sterben. Dies ist in Ihrem Fall sicher nicht zutreffend, selbst wenn Ihr Kind auch an MS erkrankte; zudem wird das mit 95- bis 97-prozentiger Wahrscheinlichkeit gar nicht eintreffen. Ähnliches gilt, falls Sie selbst zum Pflegefall werden. Auch hier haben die möglichen Kinder zu dem Risiko, einen eventuell pflegebedürftigen Vater zu bekommen, nur die Alternative, gar nicht zu leben. Das leitet über zum zweiten Teil: Könnten Sie eine Pflicht der Gesellschaft gegenüber haben? Ich bin der Meinung: nein. Es gehört zu den Aufgaben der Allgemeinheit, so eine Last notfalls mit zu schultern und gegebenenfalls für die Bedürftigen zu sorgen. Sie handeln nicht leichtfertig; und trotz aller Probleme leben wir in einem reichen Land.Wer die Ansicht vertritt, Sie dürften in Ihrer Konstellation keinen Nachwuchs bekommen, soll sich gedanklich vor Ihre Kinder hinstellen und sagen, es wäre besser für sie, sie existierten gar nicht; und da Sie an der befürchteten Krankheit leiden, müsste diese Person Ihnen mithin dasselbe sagen.Ob er sich fortpflanzen will oder nicht, steht zur persönlichen Entscheidung jedes Menschen. Die reproduktive Freiheit stellt ein ungeschriebenes Grundrecht dar. Sie muss wie jedes andere Recht verantwortungsvoll ausgeübt, aber gewährleistet werden. Es bleibt Ihre eigene Wahl – zusammen mit Ihrer Partnerin, die womöglich die Hauptlast zu tragen haben wird –, ob Sie in dieser Konstellation Kinder wollen oder nicht. Es gibt für Sie keine Pflicht in einer der beiden Richtungen, aber es kann Ihnen auch niemand die Entscheidung abnehmen.