Die Gewissensfrage

»Bei meiner Arbeit als Lehrer an einem Schulzentrum werde ich tagtäglich Zeuge von mehr oder weniger schwerwiegenden Regelverstößen. Meine Entscheidung einzuschreiten hängt vielfach davon ab, ob ich gerade ›in der Stimmung‹ bin. Zwar bemühe ich mich, in meinen Maßnahmen konsequent zu sein, doch bin ich nicht in der Lage, alles zu ahnden. Darf ich mich auf mein Gefühl verlassen oder müsste ich mich strikt an die Regeln halten?« UDO L., BERLIN

Gleiches gleich und Ungleiches ungleich zu behandeln ist ein wichtiger Grundsatz der Gerechtigkeit. Allerdings gibt es noch andere Maßstäbe, an denen man sein Handeln messen muss, und Sie sind keine Maschine, die bei bestimmten Verfehlungen entsprechende Strafen auswirft. Auch im Strafprozessrecht kennt man neben dem Legalitätsprinzip, das eine Verfolgung von Straftaten anordnet, das Opportunitätsprinzip, welches bei kleineren Verstößen oder geringer Schuld von Sanktionen absehen lässt. Man muss sich daher überlegen: Warum werden Regelverstöße an der Schule überhaupt geahndet? Wahrscheinlich erreichen sie kein Ausmaß, das unbedingt eine Vergeltung fordert, etwa im Sinne Kants: »Hat er aber gemordet, so muss er sterben; es gibt hier kein Surrogat zur Befriedigung der Gerechtigkeit.« In den meisten Fällen wird es um die Erziehung und die Aufrechterhaltung eines geregelten Schulbetriebs gehen. Wie wichtig Konsequenz und Gleichbehandlung für Schüler sind, ist eine pädagogische Frage, die mehr in Ihr Fachgebiet fällt, weniger in meines. Aus ethischer Sicht scheint mir eine Bestrafung nicht in jedem Fall erforderlich. Friedrich Nietzsche hat hier einen wichtigen Aspekt aufgezeigt: »Mit erstarkender Macht nimmt ein Gemeinwesen die Vergehungen des Einzelnen nicht mehr so wichtig, weil sie ihm nicht mehr in gleichem Maße wie früher für das Bestehen des Ganzen als gefährlich und umstürzend gelten dürfen.« Er sah das in Form der Gnade verwirklicht, ich würde nicht diesen Begriff verwenden, aber bei einem funktionierenden Schulleben einen Ermessensspielraum als möglich, ja sogar sinnvoll ansehen. Dieses Ermessen hat jedoch Grenzen: Es darf nicht zur reinen Willkür werden oder sich auf ablehnungswürdige Kriterien stützen; wenn Sie etwa Schüler bestraften, Schülerinnen dagegen nicht, oder gar Unterschiede machten nach Herkunft, Hautfarbe und persönlichen Vorlieben.