Die Gewissensfrage

»Obwohl selbst Raucherin, sitze ich bei Zugreisen immer im Nichtraucherbereich. Ich mag es nämlich nicht, wenn meine Kleidung verräuchert ist und ich schlechte Luft einatmen muss! Um meine Sucht zu befriedigen, setze ich mich allerdings ab und an in den Raucherwagen. Muss ich nun ein schlechtes Gewissen haben, weil ich ja einen Nichtraucher-Sitz belege und dadurch eventuell ein Nichtraucher nur noch im Raucherabteil Platz findet? Oder habe ich trotz Nikotinsucht ein Anrecht auf rauchfreie Luft?« JOHANNA T., BERLIN

Darf ein Alkoholiker kein Wasser trinken? Darf jemand, der Fleisch liebt, nicht auch Gemüse essen? Warum sollte dann ein Raucher nicht rauchfreie Luft atmen dürfen? Qualmer im eigenen Dunst sitzen zu lassen klingt ein wenig danach, den kleinen Hund zur Erziehung »mit der Nase ins Malheur« zu stoßen.Aber drehen wir es einen Tick weiter: Ein Fleischliebhaber und ein Vegetarier gehen zusammen auf Bergtour. Sie haben dafür Leberkäse und Gemüseburger mitgenommen. Darf der Schnitzelfan jetzt das Grünzeug essen, wenn er gerade Gusto hat – und dem Vegetarier den Leberkäse überlassen?Wenn es nun anders liegt, muss der entscheidende Punkt die Knappheit sein; ein Mangel an dem Gut, das alle Beteiligten gleichermaßen genießen können. Und entscheidend ist auch, wer diese Knappheit verursacht hat. Warum gibt es Raucherabteile – und entsprechend weniger Platz für Nichtraucher? Weil die Raucher nachfragen und fordern. Genauso jedoch wie derjenige, für den Fleisch gekauft wurde, kann auch der, für den Raucherplätze eingerichtet wurden, nicht das andere in Anspruch nehmen, wenn das dann nicht für alle reicht. In halb leeren Waggons entsteht gar kein Problem. Je voller der Zug, umso häufiger allerdings das Phänomen: Bei den Nichtrauchern ist alles besetzt, im Raucherabteil dagegen noch viel frei. Wer rauchen will, soll rauchen, wer nicht will, soll es bleiben lassen. Das ist, solange es sich räumlich so gut trennen lässt wie in einem Zug, jedermanns ureigenste Entscheidung. Wer aber einen Rauchersitz zum Rauchen und einen Nichtrauchersitz zum Durchatmen erwartet, beansprucht doppelten Platz. Das kann er nur dann guten Gewissens, wenn er auch doppelt bezahlt. Für Ihre Art, das Leben in vollen Zügen zu genießen, müssten Sie sich also zwei Fahrkarten kaufen.Haben Sie auch eine Gewissensfrage? Dann schreiben Sie an Dr. Dr. Rainer Erlinger, SZ-Magazin, Rindermarkt 5, 80331 München oder an gewissensfrage@sz-magazin.de.