Die Gewissensfrage

»Bekanntermaßen soll man bei Rot nicht über die Ampel gehen, schon gar nicht, wenn Kinder zusehen. Trotzdem habe ich das kürzlich auf dem Heimweg von der Arbeit getan (obwohl Kinder warteten), um die Straßenbahn noch zu erwischen, damit ich meinen Zug noch erreiche. Hätte ich den verpasst, wäre ich erst nach Hause gekommen, wenn meine beiden Kinder bereits schlafen. Da ich aber morgens früh das Haus verlasse, ist es mir extrem wichtig, wenigstens abends noch etwas Zeit mit meinen Kindern verbringen und meine Frau unterstützen zu können. Habe ich moralisch korrekt gehandelt?« MICHAEL R., STUTTGART

Nach wie vor stellt die Rote-Ampel-Frage eine meiner Lieblingsfragen dar, speziell in der Konstellation »Nachts um drei auf menschenleerer Kreuzung«. An ihr lässt sich so schön wie sonst selten die Frage nach dem prinzipiellen Wert der Gesetze erörtern. Und auch Ihre Variante »Zugunsten von Kindern vor den Augen von Kindern« spiegelt ein Grundproblem wider: Bei kollidierenden Pflichten kann es vorkommen, dass es im Einzelfall keine Lösung gibt und man sich, egal wie man sich entscheidet, in einer Hinsicht schuldig macht. Eine Dilemma-Konstellation, die man zwar aus der griechischen Tragödie kennt, in seinem eigenen täglichen Leben aber nicht vermutet, schon gar nicht auf den paar Schritten zur Straßenbahn. Glücklicherweise haben Sie nicht wie Ödipus auf dem Nachhauseweg unwissend Ihren Vater erschlagen und anschließend Ihre Mutter geheiratet. Dennoch: Sie haben hier zwei Pflichten, sogar zwei im weitesten Sinne Vaterpflichten. Zum einen, sich Ihrer Familie zuzuwenden, zum anderen, Kinder nicht durch ein schlechtes Vorbild in Gefahr zu bringen. Und wie Sie es nun drehen oder wenden: Sie können nur eine davon erfüllen und müssen die andere vernachlässigen. Allerdings treten Sie in beiden Fällen weder elementare Grundpflichten mit Füßen noch drohen katastrophale Folgen: Kinder, die einen Erwachsenen bei Rot laufen sehen, rennen nicht gleich blindlings los, und Ihr eigener Nachwuchs erlebt Sie an den übrigen sechs Tagen der Woche. Zudem neige ich zu einer anderen Betrachtungsweise als die griechischen Götter, die in solchen Situationen gern mal ein ganzes Geschlecht verdammen: Wenn es keine moralisch eindeutig bessere Entscheidung gibt, erachte ich nicht beide als vorwerfbar, sondern keine, und Sie haben demnach auch nicht unkorrekt gehandelt.