Die Gewissensfrage

»Eine Verwandte von mir wurde von ihrem Ehemann wegen einer Jüngeren verlassen. Nach acht Jahren ging diese neue Beziehung wieder in die Brüche. Der Mann wollte zu seiner ersten Frau reumütig zurückkehren, doch diese nahm ihn nicht mehr auf. Nach einigen Wochen erfuhr sie, dass sich ihr Exmann das Leben genommen hat. Nun fühlt sie sich an diesem Tode mitschuldig und macht sich ständig den Vorwurf: Hätte ich ihn damals aufgenommen, dann hätte es nicht ein solches Ende gegeben. Sind die Gewissensbisse berechtigt?« ANKE H., BADEN-BADEN

Eine Frau will die Beziehung mit ihrem Ex-mann, der sie Jahre zuvor verlassen hat, nicht wiederaufnehmen. Das Natürlichste der Welt, und doch fühlt sie sich schuldig. Warum? Weil sie sich vorwirft, dass der Mann noch am Leben wäre, hätte sie sich anders verhalten. Trifft das zu? Vielleicht. Muss sie sich deshalb Vorwürfe machen oder schuldig fühlen? Normalerweise: nein.Dies mag auf den ersten Blick widersprüchlich erscheinen, doch muss man hier streng unterscheiden zwischen Ursächlichkeit und Verantwortlichkeit. So, wie Ihre Verwandte es schildert, ist es gut vorstellbar – wenn auch bei Weitem nicht sicher –, dass ihr Verhalten Mitursache für den Tod war. Bei ihrer Überlegung verwendet sie sogar die klassi-sche Prüfung für die Ursächlichkeit: Sie denkt sich die fragliche Handlung hinweg oder hinzu, schaut, ob es anders gelaufen wäre, und bejaht das für sich.Nur – und das ist das Entscheidende – Ursache allein bedeutet noch lange keine Verantwortlichkeit. Gäbe es keine Küchenmesser, würde vielleicht das eine oder andere Mordopfer noch leben. Dennoch tragen die Hersteller von Küchenmessern, auch wenn ihre Produkte mitursächlich für die Morde waren, keine Verantwortung für die Taten, denn in ihren Fabriken haben sie nichts Verwerfliches getan. Gleiches gilt für die erneut Umworbene: Sie hat ganz legitim gehandelt. Niemand kann von ihr verlangen, sich wieder mit einem Mann einzulassen, den sie vermutlich nicht mehr liebt.Eine Einschränkung bleibt: falls sie das Unglück hat kommen sehen oder hätte sehen müssen. Auch in diesem Fall hätte sie natürlich keine Beziehung wider Willen eingehen, wohl aber handeln müssen: Indem sie Verwandte und Vertrauenspersonen einschaltet oder notfalls auch, so hart es klingt, die Polizei.