Die Gewissensfrage

Ein zerstrittenes Geschwisterpaar, eine Mutter zwischen den Stühlen: Muss man vergeben, wenn der andere um Verzeihung bittet?

»Vor einigen Wochen habe ich mich mit meinem Bruder zerstritten, weil er mich mit seinem Verhalten sehr verletzt hat. Da dies nicht zum ersten Mal vorgekommen ist, will ich mit ihm bis auf Weiteres nichts mehr zu tun haben und weigere mich, ihn zu sehen oder zu sprechen. Unsere Mutter meint jedoch, ihm tue alles furchtbar leid, sie erwartet, dass wir uns wieder versöhnen. Wenn er sich entschuldige, sagt sie, müsse ich
ihm verzeihen. Muss ich das wirklich?« Larissa G., Erfurt

Verzeihen ist gar keine so einfache Sache. Nicht nur es zu tun, sondern auch festzustellen, was es bedeutet und welche Wirkungen und Voraussetzungen es hat – vor allem jenseits von Liebe oder Großmut. Hannah Arendt etwa sah das Verzeihen als notwendige Ergänzung zum Handeln. Gäbe es das gegenseitige Vergeben nicht, würden uns die Folgen jeder einzelnen Tat bis an unser Lebensende verfolgen, »als seien wir der Zauberlehrling, der das erlösende Wort: Besen, Besen, sei’s gewesen, nicht findet«.

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Dabei soll sich das Verzeihen nicht auf das Böse beziehen, das man bewusst begeht – ein Gedanke, den man schon bei Aristoteles findet –, sondern auf einfache Verfehlungen, die nun einmal jeden Tag fast unvermeidbar vorkommen; »sie bedürfen«, so Arendt, »der Verzeihung, des Vergebens und Vergessens, denn das menschliche Leben könnte gar nicht weitergehen, wenn Menschen sich nicht ständig gegenseitig von den Folgen dessen befreien würden, was sie getan haben, ohne zu wissen, was sie tun.«

Arendt betont als besonders wichtigen Aspekt, dass das Verzeihen, weil es freiwillig geschieht, einen neuen Anfang darstellt, anders als Rache und Strafe. Und zugleich – und damit kommen wir zu Ihnen – bedeutet es für den, der verzeiht, Freiheit. Weil das Verzeihen ein eigenständiges Handeln sei, das zwar an die Vergangenheit anknüpft, aber eben nicht automatisch und zwangsläufig aus ihr folgt, »kann es von den Folgen dieser Vergangenheit sowohl denjenigen befreien, der verzeiht, wie den, dem verziehen wird«. Das ist auch der Grund, warum Psychologen das Verzeihen so positiv bewerten.

Sollten Sie deshalb Ihrem Bruder verzeihen? Da Verzeihen freiwillig ist, können das nur Sie selbst entscheiden und Ihr Bruder kann es auch nicht erwarten, sondern nur erbitten. Meines Erachtens spricht aber viel dafür, wenn man bedenkt, dass das Verzeihen nicht die Tat billigt. Dazu noch einmal Arendt: »Das Vergeben bezieht sich nur auf die Person und niemals auf die Sache … Denn wenn ein Unrecht verziehen wird, so wird demjenigen verziehen, der es begangen hat, was natürlich nicht das Geringste daran ändert, dass das Unrecht unrecht war.«

Zudem sollte man eher in die Zukunft blicken als in die Vergangenheit: Wie stellen Sie sich Ihr künftiges Verhältnis zu Ihrem Bruder vor, wenn Sie ihm trotz Entschuldigung nicht verzeihen?

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Sie möchten Weiterlesen zum Thema »Verzeihen«? Rainer Erlinger empfiehlt folgende Texte:

Hannah Arendt, Vita activa, Piper Verlag, München, 8. Auflage 2010, S. 300ff. Aristoteles, Nikomachische Ethik, V. Buch 10. 1136 a 5-9.
Gute Übersetzungen gibt es von Olof Gigon bei dtv, München 1991 und Ursula Wolf im Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbeck bei Hamburg 2006.

Reinhard Tausch, Verzeihen: Die doppelte Wohltat, Psychologie heute, Ausgabe April 1993, Seite 20-26.

Christian Schwennen, Verzeihen in sozialen Beziehungen. In: Elke Rohmann, Michael Jürgen Herner, Detlef Fetchenhauer (Hrsg.), Sozialpsychologische Beiträge zur Positiven Psychologie. Eine Festschrift für Hans-Werner Bierhoff, Pabst Science Publishers, Lengerich 2008, S. 73-92.

C. Bossemeyer / T. Trappe, Verzeihen; Vergeben. In: Joachim Ritter, Karlfried Gründer und Gottfried Gabriel (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie Band 11, 2001, S. 1020.

Vladimir Jankélévitch, Verzeihen? In: ders. Das Verzeihen. Essays zur Moral und Kulturphilosophie, Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 2004, S. 243-282.

Elias Canetti, Masse und Macht, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 1980, S. 353f.

Illustration: Marc Herold