Tischordnung

»Wir essen jetzt!«: Wenn unser Autor früher bei Freunden zum Spielen war, wurde er mit diesen Worten oft weg geschickt. Lange wunderte er sich über diese Gastfeindschaft – heute nicht mehr.

Wenn in Deutschland das Familienessen beginnt, sind Gäste oft unerwünscht.

Illustration: Marvin Traber

Als ich acht Jahre alt war, hatte ich einen guten Freund namens Peter. Trafen wir uns bei mir, zockten wir stundenlang auf der Playstation. Waren wir bei ihm, jagten wir übers weite Feld und spielten Fangen. Er wohnte mit seinen Eltern auf einem Bauernhof. Manchmal nahm uns sein Vater auf dem Traktor mit, oder wir schauten uns einfach die Tiere an: Kühe, Hühner, Kaninchen. Gegen 18 Uhr, bevor meine Eltern mich abholten, kam seine Mutter raus und rief uns zu sich: »Kommst du Abendbrot essen, Peter?« Dann drehte sie sich zu mir und sagte: »Wir essen jetzt! Artur, kannst du dich in der Zeit im Spielzimmer beschäftigen?« Ich nickte und wartete zwischen Bauklötzen und vergilbten Kartenspielen aus den Sech­zigerjahren, bis er wiederkam. Vielleicht dachte ich schon damals: So sind sie eben, die Deutschen.

Die Deutschen, das war ein Begriff, den ich öfter hörte. Meine Familie stammt aus der ehemaligen Sowjetunion, aus Uspenka, ­einem kleinen Dorf im nördlichen Kasachstan. Für meine Eltern war es ­typisch deutsch, wenn ich nach dem Spielen hungrig nach Hause kam. Schon von ihren Freunden aus Kasachstan, der Ukraine, Russland, Belarus und deren Kindern hörten sie diese Geschichten. »Wie kann man jemanden nicht zum Abendessen einladen?«, rief meine Mutter und rollte mit den Augen. »So was würde ich einem Freund nie antun!« Trotzdem sprach sie Peters Mutter nie darauf an. Auch ich nicht. »Wer sind wir, den Deutschen zu sagen, wie sie ihr Leben zu leben haben«, sagte meine Mutter immer. »Wir zeigen ihnen ­unsere Gastfreundschaft. Vielleicht lernen sie dazu.«

Für meine Eltern stand der Esstisch sinnbildlich für die Sowjetunion: Platz gab es für jeden. Wenn meine Freunde zu Besuch ­kamen, wurden sie selbstverständlich zum Abendessen eingeladen, und ­meine Mutter tischte auf, als feierten wir ein großes Fest. »Gästen kann man nicht einfach Nudeln mit Ketchup servieren«, sagte sie, also backte und kochte sie, egal wie müde oder überarbeitet sie war. Auch wenn sie den ganzen Tag Spargel gestochen hatte, saß sie abends am Tisch und knetete Teig für Pelmeni. Es gab ukrainischen Borschtsch und Manti, usbekische Teigtaschen, und die russische Sauerrahmsuppe Okroschka. Ich erinnere mich, wie meine deutschen Freunde anfangs skeptisch in die Pelmeni stocherten, schließlich hatten sie so eine Teigtasche noch nie probiert, und erst neugierig wurden, als meine Mutter mit ihrem russischen Akzent sagte: »Das sind russische Tortellini!«

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Auch weiße Deutsche prallen untereinander gegen diese Abendbrotmauer

Lange war ich sehr befremdet von Peters Verhalten. Und ich war nicht der Einzige. Über die Jahre sprach ich mit einigen Freunden darüber. »Das habe ich bei den Almans auch so erlebt!«, sagte etwa ein Kumpel mit türkischem Hintergrund. In den sozialen Medien teilen Menschen ähnliche Erfahrungen, es gibt Memes und Witze darüber, die tausendfach gelikt und geteilt werden. Anfangs dachte ich, die Wir-essen-jetzt-Ausladung richte sich nur gegen uns ­Migrantenkinder. Aber auch weiße Deutsche prallen untereinander gegen diese Abendbrotmauer.

Ich wollte niemals so sein wie Peters Mutter. Man sollte mir nicht vorwerfen können, ein schlechter Gastgeber zu sein. Daher lud ich immer jeden zu ­allem ein. Ich gehe spazieren: Komm doch mit! Ich gehe shoppen: Brauchst du auch was? Ich koche zu Abend: Bleib doch zum Essen! Dann folgten lauter Gegeneinladungen, bei denen ich mich gezwungen sah, sie anzu­nehmen. Ein Teufelskreis. Aber so sah es das familiäre ­Gesetz vor. Meine ­Eltern nannten es osteuropäische Gastfreundschaft. Heute erscheint es mir wie ein Zwang.

Ich denke, diese Großzügigkeit war auch eine Reaktion auf den Hunger, den meine Familie kannte. Im Kasachstan der Neunzigerjahre waren die Lebensmittel knapp, ein Monatslohn entsprach ­einem Sack Hirse. Deswegen wurde geteilt. Nur zusammen konnte man in der Steppe überleben. Als meine Eltern 1995 mit mir nach Deutschland kamen, hatten wir nur die postsowjetische Küche und unsere Gastfreundschaft im Gepäck. Niemals hätten sie ihren Gästen ­gesagt, sie sollten verschwinden oder seien vom Abendessen ausgeschlossen. Das heißt aber nicht, dass sie das nicht dachten. Manchmal, wenn der Besuch gegangen war, wurde gelästert: »Wie können die an einem Sonntag so lange bei uns bleiben?«, murrte meine Mutter. »Das ist doch unhöflich.«

Wenn ich heute, 20 Jahre später, an Peters Familie denke, verstehe ich ihr Verhalten besser. Seit ich hier lebe, habe ich etwas Wichtiges von meinen deutschen Freunden gelernt: Nein sagen. Eine Freundin von mir etwa tut das sehr oft. Wenn es ihr zu viel wird oder sie keine Lust auf etwas hat, sagt sie einfach: Nö, brauch ich nicht, will ich nicht, tschüss. Manchmal ist Höflichkeit auch nur das Unvermögen, die Wahrheit zu sagen.

Im Kern dachte Peters Mutter ja nicht viel anders als meine ­Eltern: Sie luden mich zum Spielen ein, hatten aber auch ihre Familienzeit im Auge. Doch anders als meine Eltern markierten sie ihre Grenzen. Der Esstisch ist ein intimer Ort, hier reden Eltern und Kinder über Alltagsärger, Ferienpläne oder Schulnoten. Als Junge habe ich nicht groß darüber nachgedacht. Heute ist das anders. In einer durchgetakteten Welt, in der die Menschen von morgens bis abends arbeiten und die Familie abends so drangehängt wird, würde es mich als ­Vater auch stören, wenn die heimelige Zeit durchbrochen wird. Dennoch wäre ich für einen Kompromiss. Dass ein Kind allein in einem fremden Kinderzimmer hockt, sollte nicht passieren. Ich ­würde einfach offen sagen, dass es Besuchszeiten gibt, an die sich die ­Familie mit dem Gastkind halten sollte.

Letztens hing ein Freund bei mir in der Wohnung herum. Er war seit Mittag da, und bis zum Abend redeten wir über alles Mögliche, seine Arbeit im Kindergarten und meine anstehende Reise in die Ukraine. Den Abend hatte ich für meine Partnerin reserviert. Also nahm ich meinen Mut zusammen.

»Ähm, sorry, wenn das unhöflich klingt. Aber würdest du jetzt nach Hause gehen? Ich hätte noch gerne etwas Zeit für mich«, sagte ich.

»Ja, klaro, Mann. Wir sehen uns!«, antwortete er. Zog seine Schuhe an, umarmte mich und ging. Einfach so. Falls mein schlechtes Gewissen mich später doch übermannen sollte, dachte ich, dann könnte ich ihn ja zur Wiedergutmachung zum Essen einladen. Aber dann ins Restaurant.